Der Begriff „evangelikal“ ist in Verruf geraten. Evangelikalen wird nachgesagt, sich besonders leicht für politische Ideologien vereinnahmen zu lassen und intolerant zu sein. Aber stimmt das auch? Trevin Wax hat auf der Internetseite der „Gospel Coalition“ die Ergebnisse eines Forschungsprojekts präsentiert, das das Phänomen des wachsenden Gegeneinanders zwischen „konservativen“ und „progressiven“ Christen beleuchtet. Die Ergebnisse sind überraschend – und auch für die evangelikale Welt in Deutschland hoch relevant!
Veröffentlicht wurden die Forschungsergebnisse in dem Buch „One Faith No Longer: the Transformation of Christianity in Red and Blue America“ („Nicht länger ein Glaube: Die Transformation des Christentums im roten und blauen Amerika“) von George Yancey und Ashlee Quosigk. Als konservativ galten dabei Christen, die glauben, dass die Bibel das irrtumslose Wort Gottes und Jesus der einzige Weg zur Erlösung ist. Christen, die dem nicht zustimmen, wurden als progressiv eingestuft. Ein grundlegendes Ergebnis der Untersuchung war:
„Progressive Christen … sind mehr, nicht weniger politisch als konservative Christen.“
Zudem ergaben sich aus den Untersuchungen und Interviews 3 überraschende Erkenntnisse in Bezug auf die Identität, die Toleranz und die missionarische Ausrichtung von progressiven bzw. konservativen Christen. Die erste Überraschung lautet:
1. „Progressive Christen definieren ihre Identität eher über Politik, während konservative Christen ihre Identität in der Theologie finden.“
Bei der Frage, mit wem man sich zusammengehörig fühlt, neigen progressive Christen dazu, sich weniger um theologische Übereinstimmung zu kümmern. Stattdessen stehen für sie politische Werte im Vordergrund. Konservative Christen hingegen legen (anders als oft behauptet) keinen großen Wert auf politische Übereinstimmung. Ihr Hauptanliegen ist die Frage, ob man in theologischen Kernpunkten übereinstimmt.
Die zweite Überraschung heißt folgerichtig:
2. „Konservative Christen sind eher bereit, über abweichende politische Auffassungen hinwegzusehen als progressive Christen.“
Wax berichtet: Schon zur Zeit von Donald Trump wehrten sich viele konservative evangelikale Führungspersönlichkeiten unter großen persönlichen Opfern gegen “konservative politische Ideologie”, wo sie biblischen Lehren und Werten widerspricht. Auch heute noch gibt es theologisch konservative Evangelikale mit großen Meinungsverschiedenheiten bei politischen Fragen. Bei progressiven christlichen Leitern ist das hingegen nicht der Fall. „Das einzige politische Thema, bei dem mehrere Blogger von der allgemeinen progressiven politischen Grundausrichtung abwichen, war das Thema Abtreibung”, so die Autoren, und selbst da war die Gegenwehr gering.“
Und die dritte Überraschung lautet:
3. „Progressive Christen missionieren eher konservative Christen als Nichtchristen.“
Wax schreibt: „Die allgemeine Auffassung ist, dass theologisch konservative Christen in einer Blase von Gleichgesinnten verharren. Aber die Untersuchungen von Yancey und Quosigk haben das Gegenteil gezeigt. Es sind theologisch progressive Christen, die sich mit homogen denkenden Gleichgesinnten umgeben, und ein Teil dieser Homogenität definiert sich durch eine “überwältigend negative” Sicht auf konservative Christen. … In der Tat ist die progressive Sicht der Konservativen so düster, dass sich Progressive eher mit Muslimen als mit konservativen Christen verbunden fühlen.“
Das hat Konsequenzen für die Frage, wen progressive Christen missionieren: „Die meisten progressiven Christen gründen ihre Religion nicht auf verbindlichen Gehorsam gegenüber der Bibel, und sie haben auch nicht das Bedürfnis, andere zu ermutigen, ihre Interpretation der Bibel zu akzeptieren oder gar den christlichen Glauben anzunehmen. Der Kern ihrer Religion beruht auf den Werten der Integration, der Toleranz und der sozialen Gerechtigkeit. … Die Menschen, die am meisten der “Bekehrung” bedürfen, sind deshalb nicht Ungläubige, sondern konservative Christen.“
Fazit
Trevin Wax kommt zu dem Schluss: „One Faith No Longer stellt die herkömmliche Vorstellung auf den Kopf, dass konservative Christen in besonderem Maße dazu neigen, unbiblischen politischen Ideologien zu verfallen, oder dass konservative Christen von Wut auf ihre theologischen Gegner erfüllt sind. Anhand von Recherchen und Interviews zeigen Yancey und Quosigk das Gegenteil: Es sind die Progressiven, die selten von ihrer politischen Grundausrichtung abweichen und Verachtung für die Konservativen hegen. Und die sich verhärtenden Grenzen zwischen diesen beiden Gruppen untermauern die These, die J. Gresham Machen vor einem Jahrhundert aufstellte: Wenn es um das Christentum und den theologischen Liberalismus geht, haben wir es wirklich mit zwei verschiedenen Religionen zu tun.“
Was heißt das für die Situation im deutschsprachigen Raum?
Meine Beobachtungen von Progressiven und Konservativen im deutschsprachigen Raum vermitteln mir den Eindruck: Die Polarisierung ist bei uns noch nicht so weit vorangeschritten. Der Trend geht aber in die gleiche Richtung wie in den USA. Und die Ursachen sind vergleichbar.
Zugleich sehen wir im allianzevangelikalen Umfeld unverkennbar einen sich verfestigenden Trend: Viele evangelikale Werke versuchen, die progressiven und postevangelikalen Stimmen in ihr Spektrum zu integrieren. Da dies zwangsläufig zu immer größeren theologischen Differenzen führt, redet man immer seltener über die eigene Glaubensbasis. Stattdessen wird immer stärker die Notwendigkeit von mehr „Ambiguitätstoleranz“ betont, also das Stehenlassen und Aushalten gegensätzlicher Positionen. Vielerorts sind die Verflechtungen und Sympathien auf den Leitungsebenen offenkundig so stark, dass es auf diesem Weg kein Zurück mehr zu geben scheint.
Aber kann dieser Integrationsversuch auf Dauer gelingen? Ist es möglich, dass Progressive, Postevangelikale und Konservative im gleichen Team spielen? Wenn nein: Sind daran wirklich nur die Konservativen schuld, wie oft behauptet wird?
Die Ergebnisse von „One Faith No Longer” legen nahe: Progressive sind zwar theologisch sehr tolerant. Aber das heißt nicht, dass sie insgesamt toleranter sind als Konservative. Sie haben einfach nur andere Identitätsmarker. Sie stehen konservativen Forderungen nach einer Rückbesinnung auf historische Glaubensgrundlagen und Bekenntnisse zurückhaltend oder ablehnend gegenüber. Stattdessen fordern sie eher eine rasche Anpassung der Kirche an gesellschaftliche Entwicklungen in Bereichen wie Gender, Gleichstellung, Sexualethik, Ökologie oder linke Wirtschafts-, Sozial- und Flüchtlingspolitik. Und sie sind bei diesen polarisierenden Themen deutlich weniger tolerant als Konservative.
Am geringsten ist ihre Toleranz jedoch oft in Bezug auf die konservativen Christen. Konservative verfolgen oft die Strategie, eine christliche Gegenkultur zu etablieren an Stellen, an denen sich die Gesellschaft von biblischen Normen entfernt. Von Progressiven werden sie deshalb tendenziell als Bremsklötze empfunden auf dem Weg „Raus aus der Sackgasse“ einer von ihnen empfundenen gesellschaftlichen Rückständigkeit und theologischen Enge der Konservativen. Das gleichnamige Buch von Michael Diener macht diese Sichtweise deutlich. Und es zeigt beispielhaft den von Wax beschriebenen missionarischen Eifer, Konservative zum progressiven Kurs bekehren zu wollen.
Was würde es bedeuten, wenn diese Beschreibung der Situation zwischen Konservativen und Progressiven auch nur einigermaßen zutrifft? Die Konsequenz wäre: Alle Aufrufe zum Miteinander würden am Ende nicht fruchten. Im Gegenteil: Mit der Zeit würde immer deutlicher werden, dass Konservative und Progressive vielfach gegensätzliche Ziele verfolgen. Dann würde sich die Entscheidung, Progressive und Postevangelikale ins evangelikale Spektrum integrieren zu wollen, als historischer Fehler erweisen, weil sie zwangsläufig dorthin führt, wo man andernorts schon angekommen ist: In immer tieferer innerer Entfremdung und wachsendem Gegeneinander (wie in den USA), in offenen Spaltungen (wie bei den weltweiten Methodisten) oder in der weitgehenden Verdrängung der Konservativen (wie in der evangelischen Kirche).
Ich wünsche mir keines dieser Szenarien. Deshalb werde ich nicht aufhören, in der evangelikalen Welt Werbung dafür zu machen, die eigene Glaubensbasis hochzuhalten. Dafür ist es so wie im Neuen Testament notwendig, im Bedarfsfall nicht nur positiv vom eigenen Glauben zu reden sondern in zentralen Glaubensfragen auch „nein“ zu sagen zu Lehren und Einflüssen, die der eigenen Glaubensbasis widersprechen. Glaubensverteidigende Apologetik war schon immer ein wichtiges Feld der Theologie. Sie gehörte zu allen Zeiten zum Aufgabenbereich christlicher Leiter. Sie wird heute dringender denn je gebraucht.
Der Artikel „3 Surprises from New Research on ‘Progressive’ and ‘Conservative’ Christians“ von Trevin Wax, aus dem die Zitate dieses Artikels stammen, kann hier vollständig nachgelesen werden: https://www.thegospelcoalition.org/blogs/trevin-wax/research-progressive-conservative-christians/