Woran liegt es, dass manche Gemeinden wachsen und andere Gemeinden schrumpfen? Zu dieser spannenden Frage gibt es viele Ansichten und eine Reihe von Untersuchungen. Tatsache ist: DIE eine entscheidende Ursache gibt es nicht. Es müssen immer mehrere Faktoren zusammen kommen, damit eine christliche Gemeinschaft wächst. Aber welche Faktoren sind das? Und spielt dabei die Theologie der Gemeinde eine Rolle? Macht es einen Unterschied, ob eine Gemeinde ein eher konservatives oder ein eher liberales Bibelverständnis hat?
Im Buch „Zeit des Umbruchs“ wird auf S. 194 eine wissenschaftliche Untersuchung erwähnt, die sich genau dieser Frage gewidmet hat. Der kanadische Professor für Religion und Kultur David M. Haskell hat für seine Studie 2255 Besucher von 22 verschiedenen Gemeinden befragt. Die Ergebnisse wurden veröffentlicht unter der Überschrift: „Theology matters“ – „Theologie spielt eine Rolle“. Für die Washington Post hat Haskell im Jahr 2017 die Ergebnisse seiner Studie unter einer provokanten Überschrift zusammengefasst: „Liberale Gemeinden sterben. Aber konservative Gemeinden gedeihen.“ Haskell schreibt in seinem Artikel unter anderem:
„Die großen protestantischen Kirchen sind in Schwierigkeiten: Ein Bericht des Pew Research Center aus dem Jahr 2015 ergab, dass ihre Gemeinden, die einst eine tragende Säule der amerikanischen religiösen Landschaft waren, heute um etwa 1 Million Mitglieder jährlich schrumpfen. Weniger Mitglieder bedeuten nicht nur weniger gerettete Seelen (ein beängstigender Gedanke für einige Geistliche) sondern auch weniger Einnahmen für die Kirchen, was weiter zu ihrem Niedergang beiträgt.
Angesichts dieser beunruhigenden Entwicklung haben Kirchenleiter verschiedene Anstrengungen unternommen, um den Kirchenbesuch wieder zu beleben. Es ist fast 20 Jahre her, dass John Shelby Spong, ein US-amerikanischer Bischof der Episkopalen Kirche, sein Buch „Why Christianity Must Change or Die“ („Warum sich das Christentum ändern oder sterben muss“) veröffentlichte. Es wurde als Gegenmittel gegen den Niedergang der großen Kirchen präsentiert. Spong, ein liberaler Theologe, sagte, dass die Gemeinden wachsen würden, wenn sie ihre wörtliche Auslegung der Bibel aufgeben und sich zeitgemäß transformieren würden.
Spongs allgemeine These ist bei vielen Protestanten populär … Liberale Theologie war seit Jahrzehnten in den Seminaren der großen Denominationen gelehrt und von vielen ihrer Kanzeln gepredigt worden. Ihre anhaltende Anziehungskraft auf die umworbenen Gemeindeleiter liegt darin, dass sie religiösen Gedanken, die – oberflächlich betrachtet – für das moderne Publikum weit hergeholt erscheinen könnten, intellektuelle Seriosität verleiht.
Aber die liberale Wende der großen Kirchen scheint das Problem ihres Niedergangs nicht gelöst zu haben.
In den letzten fünf Jahren haben meine Kollegen und ich eine Studie mit 22 Gemeinden aus großen Denominationen in der Provinz Ontario durchgeführt. In der Stichprobe verglichen wir Gemeinden mit wachsendem Gottesdienstbesuch mit solchen, die kleiner wurden. Nachdem wir die Umfrageergebnisse von über 2.200 Gemeindemitgliedern und von ihren Geistlichen statistisch analysiert hatten, kamen wir zu einer Entdeckung, die man intuitiv nicht erwarten würde: Die konservative protestantische Theologie mit ihrem wörtlicheren Blick auf die Bibel ist ein wichtiger Prädiktor (d.h. Vorhersagevariable) für Gemeindewachstum, während liberale Theologie zum Niedergang führt. …
Zum Beispiel fanden wir heraus, dass 93 Prozent der Geistlichen und 83 Prozent der Gemeindeglieder aus wachsenden Gemeinden der Aussage „Jesus ist von den Toten auferstanden, mit einem echten Körper aus Fleisch und Blut, der ein leeres Grab hinterlässt“ zustimmten. Im Vergleich dazu taten das 67 Prozent der Gemeindeglieder und 56 Prozent der Geistlichen aus schrumpfenden Gemeinden. Darüber hinaus stimmten alle Geistlichen wachsender Gemeinden sowie 90 Prozent ihrer Gemeindeglieder darin überein, dass „Gott als Antwort auf Gebete Wunder vollbringt“, verglichen mit 80 Prozent der Gemeindeglieder und nur 44 Prozent der Geistlichen aus schrumpfenden Gemeinden.
Auch jenseits unserer eigenen Forschungsarbeit wurde festgestellt: Wachsende Kirchen … waren in der Lehre fast ausschließlich konservativ. Wie wir in unserer wissenschaftlichen Studie darlegen, haben diese anderen Studien aufgrund methodischer Einschränkungen das Wachstum nicht mit der Theologie verknüpft. Aber unsere Arbeit legt nahe, dass diese Verknüpfung ein fruchtbarer Ansatz ist, den es zu verfolgen gilt.
Was erklärt den Wachstumsunterschied zwischen liberalen und konservativen Gemeinden? Zur Verteidigung liberaler Gemeinden könnte man behaupten, dass die eigentliche Ursache des Wachstums in der Stärke des Glaubens liegt und nicht am jeweiligen Glaubensinhalt. Wenn das zuträfe müssten Pastoren, die sich der liberalen Theologie verschrieben haben, mit der gleichen Wahrscheinlichkeit Kirchenwachstum erleben wie konservative Pastoren, sofern sie in ihren religiösen Überzeugungen nur fest und klar sind. Doch unterschiedliche Überzeugungen führen, auch wenn sie gleich stark sind, zu unterschiedlichen Ergebnissen.
Zum Beispiel nahmen die Geistlichen wachsender Gemeinden in unserer Studie aufgrund ihrer konservativen Einstellung den Befehl Jesu „Geht hin und macht zu Jüngern“ wörtlich. So waren sie alle der Überzeugung, dass es „sehr wichtig ist, Nichtchristen zu ermutigen, Christen zu werden“ und haben sich daher mit hoher Wahrscheinlichkeit bemüht, Nichtchristen zu bekehren. Umgekehrt war die Hälfte der Geistlichen in den schrumpfenden Kirchen aufgrund ihrer liberalen Orientierung im Gegenteil der Überzeugung, dass es nicht wünschenswert ist, Nichtchristen zu bekehren. Einige von ihnen waren zum Beispiel der Meinung, dass es kulturell unsensibel ist, außerhalb ihrer unmittelbaren Glaubensgemeinschaft mit ihrer Religion hausieren zu gehen.
Es sollte offensichtlich sein, welche dieser beiden Überzeugungen eher zu Gemeindewachstum führt.
Obwohl unsere Forschung hilft, die leerer werdenden Bänke liberaler Gemeinden in den großen Denominationen zu erklären, wird sie wahrscheinlich in der Welt der großen Denominationen wenig Freude auslösen, insbesondere im Bereich der theologischen Linken. Aber, falls das ein Trost ist: In Bezug auf das Gemeindewachstum in den großen Kirchen haben Spong und andere Liberale Recht mit ihrer Behauptung, dass das Christentum sich ändern oder sterben muss. Sie verstehen nur die Richtung der Änderung falsch.“
Zum Originalartikel der Washington Post: https://www.washingtonpost.com/posteverything/wp/2017/01/04/liberal-churches-are-dying-but-conservative-churches-are-thriving/
Zur Originalarbeit von Prof. Haskell: https://www.researchgate.net/publication/303506370_Theology_Matters_Comparing_the_Traits_of_Growing_and_Declining_Mainline_Protestant_Church_Attendees_and_Clergy