Der nachfolgende Text ist ein gekürztes Skript zu einem Vortrag, der am 18.02.2022 in der Stadtkirche in Freudenstad gehalten wurde im Rahmen einer Veranstaltung von “Lebendige Gemeinde Christusbewegung” in der württembergischen Landeskirche. Der Vortrag kann auf YouTube angesehen oder als Audio angehört werden:
Selten wurde der Relevanzverlust der großen Kirchen so deutlich wie in der Corona-Pandemie. Kirchliche Antworten auf die Krise wurden kaum wahrgenommen. Viel eher wurde diskutiert, ob es denn gerechtfertigt ist, dass Gottesdienste von den 2G- und 3G-Regelungen ausgenommen werden – so als ob Gottesdienste letztlich das Gleiche wären wie Sport- oder Kulturveranstaltungen. Aber genau so werden wir offenbar von immer mehr Menschen wahrgenommen. Das wirft natürlich die Frage auf: Was ist der Grund für diesen Relevanzverlust? Und vor allem: Wie kann unsere Kirche wieder an Relevanz gewinnen? Wie gewinnt sie wieder an Profil? Wie kann sie wieder hoffnungsvolle Zukunftsperspektiven entwickeln?
Genau diese Frage hatte sich die EKD-Synode im Jahr des Reformationsjubiläums 2017 gestellt. Das Schwerpunktthema lautete: Zukunft auf gutem Grund. Wie kann die Kirche wieder Zukunft gewinnen? Im Ergebnis entstand ein Papier, das 4 Zukunftsaufgaben definiert:
- Vielfältige Beteiligung am Leben der Kirche fördern
- Zeitgemäß kommunizieren
- Ökumenische Einheit vertiefen
- „Kirche neu denken“.
Unter Punkt 4 wurde z.B. verstanden: „Innovative Formen in der Aus-, Fort- und Weiterbildung“, „Neue Freiräume für neue Ideen und für mehr Vielfalt“, „Neue, ergänzende oder alternative Formen der Beteiligung bzw. der Zugehörigkeit zur Kirche“. In einem Zeitungsbericht zur Synode wurden diese Überlegungen mit den folgenden Fragen konkretisiert: „Müssen Gottesdienste kürzer und knackiger werden? Oder braucht es eine »Mitgliedschaft light« für Menschen, die noch zögern?“
Da stellt sich natürlich die Frage: Können solche Ansätze der Kirche wirklich helfen, aus der Krise zu kommen? Sicher ist: Einfache Antworten auf die Herausforderungen der Kirche gibt es nicht. Säkularisierung, Individualisierung und Polarisierung sind mächtige Megatrends unserer Zeit, unter denen alle traditionellen Institutionen leiden. Aber was ich wirklich vermisse bei diesen Überlegungen ist die Frage: Wäre es nicht sinnvoll und angemessen, einmal viel intensiver in der Bibel nach Antworten zu suchen auf die großen Herausforderungen, vor denen unsere Kirche steht?
In der Bibel finden wir ja eine unfassbare Erfolgsgeschichte von einer jungen christlichen Bewegung, die es tatsächlich geschafft hat, in weniger als 300 Jahren den gesamten damals bekannten Mittelmeerraum zu durchdringen. Dabei waren die Startvoraussetzungen für die Kirche damals deutlich schlechter als heute. Die frühe Kirche hatte nicht die Möglichkeit, ihre Botschaften medial zu verbreiten. Sie hatte kein bezahltes Personal, keine Gebäude und keinerlei Machtmittel. Und auch damals war der Zeitgeist in keinster Weise auf der Seite der Kirche. Die Botschaft der Kirche wurde als Torheit und als Ärgernis empfunden, schrieb Paulus. Mehr noch: Diese Bewegung war härtester Verfolgung ausgesetzt. Man sagt, dass die ganze zweite Generation der urchristlichen Bewegung in irgendeiner Form mit Märtyrertum in Berührung gekommen ist. Also wenn es die Kirche einmal wirklich schwer hatte, dann damals. Umso mehr sollte es sich doch lohnen, die Frage zu stellen: Wie war denn diese Kirche gestrickt, die es trotz all dieser Widerstände geschafft, sich nicht nur zu behaupten sondern sich auch noch massiv auszubreiten und die Grundlage zu legen für eine weltweit prägende Bewegung? Was finden wir darüber in der Bibel? Und was können wir heute für uns daraus lernen?
Ich will dazu 5 Themen beleuchten, die für die Botschaft und das Selbstverständnis dieser jungen, christlichen Bewegung absolut grundlegend waren. Es handelt sich im Grunde um 5 biblische Selbstverständlichkeiten, die quer durch das Neue Testament so eindeutig und klar bezeugt sind, dass man sich die damalige Kirche ohne diese Punkte nicht vorstellen kann. Kirche war dort, wo diese 5 Themen bezeugt, gefeiert und gelebt wurden. Das 1. Thema lautet:
1. Kirche ist dort, wo Jesus als Herr verehrt wird
Die ersten Christen haben bekannt: Jesus ist Herr! Er ist auferstanden, aufgefahren in den Himmel, er sitzt zur Rechten Gottes und er regiert. Eines Tages, wenn er wiederkommt als Richter, wird sich vor ihm jedes Knie beugen und jede Zunge wird bekennen, dass er der Herr ist. Und: „Wenn du mit deinem Mund bekennst: »Jesus ist der Herr!« Und wenn du aus ganzem Herzen glaubst: »Gott hat ihn von den Toten auferweckt!« Dann wirst du gerettet werden“ (Römer 10, 9). Das war das Bekenntnis der ersten Christen.
Dieses Bekenntnis war verwurzelt in der zentralen Botschaft, die Jesus selbst überall verbreitet hat. In Markus 1, 14-15 heißt es: „Danach kam Jesus nach Galiläa und verkündete die Gute Nachricht von Gott. Die von Gott bestimmte Zeit ist da. Sein Reich kommt jetzt den Menschen nahe. Ändert euer Leben und glaubt dieser Guten Nachricht!“ Das Reich Gottes stand also im Mittelpunkt der Botschaft Jesu.
Laut der Basis-Bibel bedeutet der Begriff „Reich Gottes“ wörtlich: »Königsherrschaft Gottes«. Das bezeichnet den Herrschaftsbereich, in dem sich Gottes Wille durchsetzt. Genau das hat Jesus uns ja auch beten gelehrt: „Dein Reich komme!“ Das heißt: „Dein Wille geschehe wie im Himmel so auf Erden.“ Es geht hier also um die Frage: Geht es nach unserem Willen? Oder gilt der Wille Gottes? Jesus hat nicht nur in diesem Gebet völlig klar gemacht: Reich Gottes ist dort, wo der Wille Gottes geschieht, wo er das Sagen hat, wo seine Gebote gelten und beachtet werden. Deshalb rief Jesus die Menschen zur Umkehr. Er hat die Menschen aufgefordert: Lebt nicht mehr so, wie ihr das für richtig haltet. Folgt nicht mehr eurem Herzen sondern fragt nach dem Willen Gottes. Es geht also buchstäblich um einen Herrschaftswechsel. Nicht mehr wir selbst sitzen auf dem Thron unseres Lebens sondern sein Wille soll geschehen. Seine Gebote sollen für uns gelten.
Entsprechend hat Jesus im Missionsbefehl gesagt: „Lehrt sie, alles zu tun, was ich euch geboten habe!“ (Matth.28,19) Menschen zu Jüngern machen hat für Jesus bedeutet, dass Menschen lernen und beachten, was Gottes Wille ist. Seine Jünger sollten ihr ganzes Leben nach seinen Geboten ausrichten. Dieses Evangelium vom Reich Gottes enthält also nicht nur den Zuspruch der Gnade und der Vergebung, es enthält auch einen Anspruch: Wir können nicht Gottes Gnade und Vergebung genießen und zugleich weiter uns selbst gehören und unser eigenes Ding drehen. Jesusnachfolger bekennen: Wir gehören IHM! ER hat das Sagen! Wir orientieren uns an ihm und an seinen Worten.
Natürlich ist diese Botschaft eine Herausforderung in einer Zeit, in der die Autonomie und das Selbstbestimmungsrecht des Menschen so stark betont wird wie noch nie. Aber die Bibel macht überdeutlich: Die Botschaft von der Herrschaft Jesu war keine Nebensache im Neuen Testament sondern eine elementare Grundlage des Evangeliums. Sie hat unaufgebbar zur DNA der jungen christlichen Bewegung gehört. Und wir sollten uns deshalb fragen: Wie gehen wir heute mit diesem Bekenntnis um? Kann es überhaupt Kirche geben ohne den Ruf zur Unterordnung unter Gottes Herrschaft?
2. Kirche ist dort, wo Menschen zur Nachfolge Jesu eingeladen werden
Schauen wir uns noch einmal diesen Befehl im Ganzen an, den Jesus seinen Jüngern bei seinem Abschied mitgegeben hat:
„Gott hat mir alle Macht gegeben, im Himmel und auf der Erde. Geht nun hin zu allen Völkern und ladet die Menschen ein, meine Jünger zu werden. Tauft sie im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes! Und lehrt sie, alles zu tun, was ich euch geboten habe!“ (Matthäus 28, 18+19)
Eigentlich ist dieser Befehl Jesu vollkommen absurd. Da spricht ein unbekannter Wanderprediger in einem unbedeutenden Landes zu 11 unbedeutenden, einfachen Menschen und sagt ihnen: Geht zu allen Völkern und ladet sie ein, meine Nachfolger zu werden. Ist Jesus etwa größenwahnsinnig? Scheinbar schon. Jesus hatte dazu ja noch eine vollkommen aberwitzige Ankündigung gemacht: Seine Worte werden nicht vergessen, im Gegenteil: Seine Botschaft wird in der ganzen Welt gepredigt werden. Dabei hatte Jesus nicht einmal ein einziges Wort aufgeschrieben! Ohne Frage ist das eine dieser Vorhersagen in der Bibel, deren Erfüllung aus damaliger menschlicher Sicht völlig unmöglich war. Aber die atemberaubende Wahrheit ist: Heute stehen wir kurz davor, dass diese Vorhersage buchstäblich in Erfüllung geht und jedes Volk auf der Erde die Worte Jesu in seiner Sprache lesen kann. Ich finde: Ein Buch, das solche Vorhersagen macht, hat wahrlich unser Vertrauen verdient.
Aber wir sollten uns auch fragen: Warum ist denn diese Vorhersage in Erfüllung gegangen? Die Antwort ist klar: Die Jünger Jesu haben den Missionsbefehl absolut ernst genommen. Er war tief in ihnen verankert. Schon bei der Berufung von Petrus und seinem Bruder Andreas hat Jesus klar gemacht, was er mit ihnen vorhat: »Kommt, folgt mir! Ich mache euch zu Menschenfischern!« (Markus 1, 17) DAS war von Anfang an das große Ziel, das Jesus mit ihnen hatte. Und genau das haben sie in beeindruckender Weise umgesetzt. Der Missionsauftrag hat die junge christliche Bewegung entscheidend geprägt. Und wir müssen uns deshalb auch heute fragen: Ist Kirche eigentlich noch Kirche, wenn sie diesen Auftrag aus dem Fokus verliert?
3. Kirche ist dort, wo der stellvertretende Opfertod Jesu gepredigt wird
Es gibt ein Thema, das sich wie ein großer roter Faden quer durch die ganze Bibel zieht: Das Thema vom stellvertretenden Opfertod.
- Schon in der biblischen Urgeschichte muss ein Tier sterben, damit Gott die Scham von Adam und Eva durch Tierfelle bedecken kann.
- Anstelle von seinem Sohn darf Abraham ein Schaf opfern, und zwar genau an dem Ort, an dem später der himmlische Vater tatsächlich seinen Sohn sterben sah.
- Beim Auszug Israels aus Ägypten musste Israel das Blut des geschlachteten Passahlamms an den Türrahmen streichen, um vor dem Gericht Gottes gerettet zu werden.
- In vielen alttestamentlichen Opferriten kommt immer wieder auch der stellvertretende Charakter des sterbenden Tiers zum Ausdruck.
- Jesaja widmet fast ein ganzes Kapitel dem stellvertretenden Opfertod des Gottesknechts und sagt dabei deutlich: „Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten.“ (Jesaja 53, 5)
- Johannes der Täufer stellt Jesus mit den Worten vor: „Seht doch! Das ist das Lamm Gottes. Es nimmt die Sünde dieser Welt weg!“ (Johannes 1, 29)
- In der Abendmahlseinsetzung sagt Jesus: „Mein Blut wird für die vielen vergossen werden zur Vergebung ihrer Sünden.“ (Matthäus 26, 28)
- Im Römer- und Hebräerbrief beschäftigen sich ganze Kapitel mit dem stellvertretenden Sühneopfer.
- Und schließlich lesen wir in der Offenbarung gleich 28-mal, dass Jesus das geschlachtete Lamm ist, in dessen Blut die Heiligen ihre Gewänder reingewaschen haben.
Die Lehre vom stellvertretenden Opfertod ist somit absolut kein Randthema in der Bibel. Entsprechend war sie auch kein Randthema in der frühen Kirche. Der Theologe Ron Kubsch schreibt: „Das Verständnis von Jesu Tod als stellvertretende Sühne war seit jeher in der Kirchengeschichte das allgemeine Verständnis der biblischen Texte.“ Genau in diese Tradition stellt sich heute auch die Evangelische Allianz, wenn sie in ihrer Glaubensbasis bekennt: „Jesus Christus, der Mensch gewordene Sohn Gottes, ist stellvertretend für alle Menschen gestorben. Sein Opfertod allein ist die Grundlage für die Vergebung von Schuld, für die Befreiung von der Macht der Sünde und für den Freispruch in Gottes Gericht.“
Aber trotz dieses breiten biblischen Befunds und dieses klaren Bekenntnisses höre ich heute selbst in Allianzkreisen immer wieder ganz andere Aussagen. Da wird dann z.B. gesagt: Die Motive von der Sühne und vom stellvertretenden Opfertod wären nur menschliche Deutungsversuche des Kreuzestodes. Daneben hätte es ja viele andere Deutungsversuche gegeben. Die stellvertretende Sühne hätte sowieso im Christentum zunächst gar keine besondere Rolle gespielt, sie wäre erst von Anselm von Canterbury im 11. Jahrhundert ins Zentrum gerückt worden. Ich muss sagen: Ich kann mich nur wundern über solche Aussagen. Ja, es stimmt, dass es im Neuen Testament verschiedene Bilder und Begriffe gibt, um die Bedeutung des Kreuzestodes zu beschreiben. Da ist die Rede von Sühnung, Erlösung, Rechtfertigung und Versöhnung. Aber der Theologe John Stott sagt dazu zurecht: „Wenn Gott in Christus nicht an unserer Stelle gestorben wäre, könnte es weder Sühnung noch Erlösung, weder Rechtfertigung noch Versöhnung geben.“ Das heißt: Die Stellvertretung steht bei allen diesen Begriffen im Zentrum.
Deshalb ist der stellvertretende Charakter des Opfertods Jesu ein unaufgebbarer Kernbestandteil des Evangeliums! Er gehört zum innersten Kern unseres christlichen Glaubens. Wer diese Botschaft verändert, der verpasst dem Christentum nicht etwa nur einen moderneren Haarschnitt, sondern der nimmt eine Herztransplantation vor mit weitreichenden Konsequenzen: Es ist eben ein gewaltiger Unterschied, ob Jesu Tod am Kreuz ein wirksames Opfer zur Vergebung unserer Schuld ist oder nur ein Akt der Solidarität mit den Leidenden. Das Kreuz will uns Menschen damit konfrontieren, dass wir ein Schuldproblem haben, dass wir Sünder sind, dass wir Gnade brauchen. Wenn unsere Botschaft aber nur noch in der Liebe und Annahme Gottes besteht, dann braucht es keine Rechtfertigung mehr. Und ohne Rechtfertigung verlieren wir die Gnade. Und ohne Gnade wird unser Glaube moralistisch und selbstbezogen.
Deshalb brauchen wir auch heute noch dieses Evangelium, das uns vom hohen Ross unserer Selbstgerechtigkeit holt und uns darauf hinweist, dass wir ohne die Rechtfertigung aus Gnade verloren sind und Rettung brauchen. Wir müssen uns deshalb schon die Frage stellen: Was macht es mit der Kirche, wenn sie diese Botschaft vom stellvertretenden Opfertod verliert?
4. Kirche ist dort, wo Gottes Wort gehört und verkündigt wird
Auch dieses Thema zieht sich wie ein roter Faden durch die ganze Bibel: Gott spricht. Gott offenbart sich. Gott spricht die Menschen an durch die Propheten, die Apostel, durch Menschen, die seinen Geist in sich tragen, und vor allem durch Jesus selbst. Wir Christen haben dieses Reden Gottes heute vorliegen in Form dieses Buchs, das Christen die Heilige Schrift nennen. Heilig heißt: Dieses Buch ist anders als alle anderen Bücher. Es ist zwar ganz Menschenwort, aber es ist zugleich eben auch ganz offenbartes Gotteswort und deshalb absolut maßgeblich für unseren Glauben und für die Kirche.
Die evangelische Allianz hat das in ihrer Glaubensbasis so zusammengefasst: „Die Bibel … ist Offenbarung des dreieinen Gottes. Sie ist von Gottes Geist eingegeben, zuverlässig und höchste Autorität in allen Fragen des Glaubens und der Lebensführung.“ Auch hier greift die evangelische Allianz etwas auf, was in der Bibel selbst zutiefst verankert ist. Das Konzept, dass die biblischen Texte von Gott inspiriert sind, ist ja keine Erfindung der Reformation oder der evangelischen Allianz. Es ist erst recht keine Idee von irgendwelchen Fundamentalisten. Das Verständnis der biblischen Texte als inspiriertes Gotteswort wird von der Bibel selbst durchgängig bezeugt.
Das sieht man z.B. daran, wie das Neue Testament mit dem Alten Testament umgeht: Etwa 9 % des Neuen Testaments besteht aus Zitaten oder direkten Anspielungen auf das Alte Testament. Wendungen wie „Es steht geschrieben“ oder „Die Schrift sagt“ oder „Der Prophet sagt“ oder „Im Gesetz heißt es“ sind im Neuen Testament immer Autoritätsformeln, bei denen davon ausgegangen wird: Somit gilt das! Somit ist das eindeutig wahr!
Jesus selbst hat immer wieder diese Frage gestellt: Habt ihr nicht gelesen? Das heißt: Jesus hat wie alle frommen Juden damals mit dem Schriftbeweis argumentiert. Ein Schriftbeweis funktioniert natürlich nur, wenn die Schrift absolute Autorität hat. In Matthäus 5, 18 sagt Jesus auch ganz direkt: „Ich versichere euch: „Solange der Himmel und die Erde bestehen, wird selbst die kleinste Einzelheit von Gottes Gesetz gültig bleiben.“ Jesus war wahrlich kein Bibelkritiker! Er hat zwar einige Inhalte durch sein Erlösungswerk in ein neues Licht gerückt. Aber er hat sich trotzdem voll und ganz zur Autorität des Alten Testaments gestellt.
Paulus hat zudem in 2. Timotheus 3, 16 ganz allgemein formuliert: „Die ganze Schrift ist von Gott eingegeben.“ Wörtlich steht hier: Gottgehaucht. Geistdurchhaucht. Der Theologe Prof. Gerhard Maier schreibt dazu: „Im Neuen Testament wird das gesamte damalige ‚Alte Testament‘ … als von Gott eingegeben aufgefasst.“ Für die Autoren des Neuen Testaments waren „die beiden Wendungen ‚Die Schrift sagt‘ und ‚Gott sagt‘ untereinander austauschbar.“
Genau diesen extrem steilen Anspruch hat Petrus später auch auf die Briefe von Paulus bezogen, als er sie als „Schrift“ bezeichnet hat (2. Petrus 3, 16). Und im drittletzten Vers der Bibel, in Offenbarung 22, 18-19 finden wir unter Androhung von Gericht die Aussage: Diesem prophetischen Buch darf auf keinen Fall irgendetwas weggenommen oder hinzugefügt werden. Was für ein Anspruch! So etwas dürfte seither kein Theologe dieser Welt je wieder über seine Schriften sagen. Daran wird deutlich, welch einzigartigen Autoritätsanspruch diese biblischen Texte haben und sich auch gegenseitig zusprechen.
Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass schon die ersten Christen zutiefst in den Worten der Bibel verwurzelt waren und ihr höchste Autorität zugesprochen haben. Es war absolut zentral für sie, diese Worte Gottes weiterzugeben. Diese ersten Christen hatten etwas wichtiges verstanden: Die Kirche hat keine eigene Botschaft. Die Kirche ist nur Botschafterin an Christi statt. Sie kann nur deshalb Antworten geben auf die letzten, existenziellen Fragen der Menschen, weil sie aus einer Offenbarungsquelle schöpft. Denn ohne Offenbarung können wir Menschen nun einmal nichts wissen über Gott oder über die Frage, woher wir kommen, wohin wir gehen und was nach dem Tod geschieht. Die Menschen haben ein feines Gespür dafür, ob Kirche aus der Autorität einer offenbarten und zeitlosen Wahrheit heraus spricht oder ob sie nur eigene Meinungen verbreitet. Und persönlich muss ich sagen: Ich stehe gerne Sonntagmorgens auf, um Gottes Wort zu hören. Aber ich würde niemals Sonntagmorgens aufstehen, um die Meinung eines Predigers zu hören. Und wir müssen uns meines Erachtens nicht wundern, wenn Menschen nicht mehr in den Gottesdienst kommen, wenn man dort nur noch Meinungen hört, die man tags zuvor womöglich auch schon im Fernsehen gehört hat.
Deshalb sollten wir uns wirklich die Frage stellen: Kann Kirche überhaupt Kirche sein ohne diese feste Bindung an Gottes Wort? Und was bedeutet das für die Ausbildung unserer zukünftigen Gemeindeleiter?
5. Kirche ist dort, wo Gott geliebt wird
Auch wenn wir als Kirche die Herrschaft Jesu betonen, auch wenn wir mit Leidenschaft Menschen in die Nachfolge rufen, auch wenn wir das stellvertretende Sühneopfer in die Mitte des Evangeliums rücken und auch wenn wir die Bibel als Heilige Schrift und Gottes Wort hochhalten und predigen: All das wäre nichts wert ohne eine echte, gelebte, im Alltag praktizierte Liebe zu Gott. Das wird zum Beispiel deutlich in Offenbarung 2 im Sendschreiben an die Gemeinde in Ephesus. Das war eine großartige Gemeinde: Voller Tatendrang, voller Mühe, standhaft, mit einer gesunden Lehre. Aber dann heißt es in Vers 4: „Aber ich habe dir vorzuwerfen, dass du deine anfängliche Liebe aufgegeben hast.“ Und das Sendschreiben macht deutlich: Das ist kein nebensächliches Problem. Gott sagt deutlich: Wenn die Gemeinde daran nichts ändert, ist die Zukunft der Gemeinde gefährdet.
Paulus hat in 1. Korinther 8, 1 begründet, woran das liegt: „Die Einsicht allein macht überheblich. Nur die Liebe baut die Gemeinde auf.“ Anders ausgedrückt: Theologisches Verstandeswissen ohne einen von Gottes Liebe und Gottes Geist geprägten Charakter macht arrogant und hartherzig. Damit wird auch klar, warum Jesus dieses Gebot der Gottesliebe an die alleroberste Stelle rückt, als er gefragt wurde nach dem wichtigsten Gebot: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit deinem ganzen Herzen, mit deiner ganzen Seele, mit deinem ganzen Denken und mit deiner ganzen Kraft.“ (Markus 12, 30) Und auch Paulus hat geschrieben: „Das Ziel meiner Unterweisung ist, dass alle Christen von der Liebe erfüllt sind.“ (1. Timotheus 1, 5) DAS war sein Fokus. Liebe war sein Ziel. Und das bedeutet: Alle anderen Basisthemen laufen letztlich auf dieses Thema zu.
Wenn aber dieses Thema der Liebe zu Gott für Jesus und Paulus ganz oben auf der Prioritätenliste stand, dann sollte es auch bei uns ganz oben auf der Tagesordnung stehen. Dann sollten wir uns fragen: Wie ist es um unsere Liebe zu Gott bestellt? Ist Gott nur ein theologisches Konstrukt in unserem Kopf? Oder kennen wir etwas von dieser Liebe, die der Heilige Geist in uns wecken will und die unser ganzes Leben prägen und erneuern soll. Das ist ohne Zweifel eine Frage, der sich die Kirche auch heute noch immer wieder stellen muss!
Was folgt daraus?
Lassen Sie mich noch einmal zurückkommen auf diese EKD-Synode aus dem Jahr 2017 und noch einmal die Frage stellen: Wie hat die Kirche Zukunft? Die Vorschläge lauteten: 1. Vielfältige Beteiligung 2. Zeitgemäß kommunizieren 3. Ökumene vertiefen, und: 4. „Kirche neu denken“ im Sinne von innovative, kreative Formen finden. Ohne Frage: Das sind alles gute Überlegungen! Aber mein Eindruck ist, dass unsere Probleme tiefer liegen. Meine Sorge ist, dass wir mit dieser Agenda nur an der Oberfläche unserer Probleme kratzen.
Vor 500 Jahren hat Martin Luther ein Papier mit 95 Thesen an die Kirche in Wittenberg geschlagen. Und ich frage mich manchmal: Welche Thesen würde er wohl heute an die Kirchentür schlagen? Ich weiß es nicht. Aber wir könnten jedenfalls aus diesen 5 biblischen Basisthemen 5 Thesen ableiten, die auch heute noch für die Kirche von zentraler Bedeutung sind:
- Jesus ist Herr! Seine Lehre ist absolut maßgeblich für uns!
- Unser zentraler Auftrag ist, Menschen in die Nachfolge Jesu zu rufen!
- Der stellvertretende Opfertod Jesu steht im Zentrum des Evangeliums!
- Das offenbarte Wort Gottes ist unser Maßstab für Glaube und Leben!
- Mittelpunkt der Kirche ist die gelebte Liebe zu Jesus Christus!
Warum ist es so wichtig, dass wir uns mit diesen Thesen auseinandersetzen? Im Marketing gibt es eine Regel: Content is king! Der Inhalt ist entscheidend! Wir können die tollste Werbekampagne starten und alles großartig designen und verpacken. Aber wenn der Inhalt schlecht ist, dann ist auf Dauer alles Drumherum vergebliche Liebesmüh. Deshalb wäre meine Empfehlung für unsere Kirche:
- Bevor wir darüber nachdenken, wie wir möglichst viele Menschen beteiligen können – Wollen wir nicht erst einmal darüber nachdenken, was eigentlich der Auftrag der Kirche ist und woran wir die Menschen beteiligen wollen?
- Bevor wir darüber nachdenken, WIE wir kommunizieren wollen – Wäre es nicht sinnvoller, erst einmal darüber nachzudenken, WAS wir eigentlich kommunizieren wollen?
- Bevor wir Einheit mit anderen Kirchen suchen – was ich gut finde! – Sollten wir nicht zuerst einmal darüber nachdenken, was eigentlich uns als Kirche eint, was uns zusammenhält und was unsere gemeinsame Basis ist?
- Und vor allem: Bevor wir uns mit den äußeren Formen der Kirche befassen – Sollten wir uns nicht zuerst einmal mit dem Inhalt der Kirche befassen und uns fragen: Was macht uns eigentlich als Kirche aus? Was macht Kirche zur Kirche?
Mir ist schon klar: Diesen 5 Thesen nachzugehen könnte einen schmerzlichen Prozess auslösen. Vielleicht würden wir an einigen Stellen merken, dass wir uns doch deutlich entfernt haben von dem, was für die ersten Christen so selbstverständlich und unaufgebbar war und was auch heute noch für so viele wachsende Kirchen in der ganzen Welt ganz selbstverständliche Basisüberzeugungen sind. Aber ich fürchte: Wenn wir uns diesen 5 Thesen nicht stellen, dann bleiben auch alle anderen Bemühungen oberflächlich und letztlich vergeblich. Denn hier geht es um die Themen, die das Herz und das Wesen der Kirche berühren und die die Kirche zur Kirche machen.
Deshalb würde ich mir eines wünschen: Lassen Sie uns heute, hier und jetzt anfangen, diese Themen hochzuhalten und in den Mittelpunkt zu rücken. Wir können anfangen, sie in unserem eigenen Leben umzusetzen. Und wir können zu leidenschaftlichen Botschaftern dieser ewigen Wahrheiten werden. Ich bin überzeugt: Wenn wir das tun, dann werden das gleiche erleben wie das, was die junge Kirche damals erlebt hat. Wir werden erleben: Wo Kirche sich an diesen biblischen Grundlagen orientiert, da hat sie Zukunft, ganz egal, wie sehr ihr der Wind ins Gesicht bläst. Denn Jesus selbst hat versprochen, dass er sich zu seiner Kirche stellt. Er hat es damals getan. Er wird es ganz sicher auch heute tun. Lassen Sie uns gemeinsam beten und arbeiten dafür, dass überall in unserem Land Orte entstehen, an denen Jesus als der Herr verehrt wird, an denen Menschen zur Nachfolge eingeladen werden, an denen sie davon hören, dass Jesus für unsere Schuld gestorben ist, an denen sie in Kontakt kommen mit diesem kraftvollen Wort Gottes und an denen sie sich verlieben in diesen unglaublichen Gott, der aus Liebe zu uns sein Leben gegeben hat. Von solch einer Kirche träume ich. Lassen Sie uns gemeinsam beten und arbeiten dafür, dass dieser Traum wahr wird um der Ehre Gottes willen und um der Menschen willen, die dieses Evangelium so dringend hören müssen.
Weiterführende Artikel:
- Das Kreuz – Stolperstein der Theologie – Eine gründliche Analyse des Neuen Testaments belegt: Am Kreuz starb Jesus einen stellvertretenden Opfertod
- Das biblische Bibelverständnis – Wie die Bibel gern selbst gelesen werden möchte
- Das Bibelverständnis der apostolischen Väter – Wie die Leiter der jungen christlichen Kirche mit der Bibel umgegangen sind
- 95 neue Thesen für die Reformation der Kirche