Das Manifest (5): Wir können uns nicht selbst erlösen. Allein aus Gnade werden wir gerettet!

Dieser Artikel ist zuerst in idea 14/2021 erschienen.

Ich liebe meinen christlichen Glauben. Ich erlebe ihn als zutiefst befreiend, heilsam, tröstend, hoffnung-, frieden- und identitätsstiftend. Aber ich weiß aus meinem Umfeld sowie aus meinen Reisen durch „Postevangelikalien“, dass christlicher Glaube auch das genaue Gegenteil sein kann: Einengend. Bedrückend. Angstmachend. Entmündigend. Wie ist das möglich? Warum wirkt sich Glaube manchmal derart gegensätzlich aus, obwohl er sich äußerlich kaum unterscheidet?

Auf diese Frage gibt es viele Antworten, die immer auch mit der individuellen Biografie zu tun haben. Aber ein Thema steht doch immer wieder im Mittelpunkt: Die Frage nach der Rechtfertigung.

Rechtfertigung – das Lebenselixier des Glaubens

Was sich so theoretisch und theologisch anhört, betrifft in Wahrheit eine existenzielle Grundfrage jedes gläubigen Menschen: Wie denkt Gott über mich? Diese simple Frage hat weitreichende Konsequenzen für unsere Glaubenspraxis: Wer sich Gottes Gunst nicht gewiss ist, verliert die Hoffnung auf Gottes Zuwendung und damit auch die Zuversicht im Gebet, die Freude über die Erlösung und vor allem die Gewissheit, ein geliebtes und wertgeschätztes Kind Gottes zu sein. Ich kenne das gut aus meinem eigenen Leben: Scham- und Schuldgefühle gegenüber diesem perfekten und heiligen Gott können sich tief im Denken verankern. Umso wichtiger ist die Frage: Nimmt Gott mich wirklich an? Wenn ja: Unter welchen Umständen? Was kann, was muss ich dazu beitragen?

Glaube statt Gesetz!

Dazu schrieb Paulus im Römerbrief einen revolutionären Satz, der auch im Zentrum der Reformation stand:

„Denn wir sind der Überzeugung, dass der Mensch allein aufgrund des Glaubens gerecht ist – unabhängig davon, ob er das Gesetz befolgt.“ (3, 28)

Und weiter schrieb er:

„Wenn es aber aus Gnade geschah, dann spielen die eigenen Taten dabei keine Rolle. Sonst wäre die Gnade ja nicht wirklich Gnade.“ (11,6)

Das heißt: Kein noch so frommes Werk bringt mich näher zu Gott, im Gegenteil: Jede Leistung, mit der ich Gottes Gunst verdienen will, wirft mich aus der Spur des gesunden, rettenden Glaubens, der allein auf die unverdiente Gnade Gottes setzt und sagt: Ich kann mich nicht selbst erlösen. Aber ich bin von Gott angenommen, weil Jesus alles Notwendige bereits getan hat. Ich bin gerecht, weil Gott am Kreuz für mich Gerechtigkeit erworben hat und sie mir ohne mein Zutun schenkt.

Das ist Evangelium. Das ist Rechtfertigung allein aus Gnade – ein überaus kostbarer Schatz des Glaubens, den wir sorgfältig hüten und beschützen müssen. Denn seit jeher stand er in der Gefahr, ausgehöhlt und untergraben zu werden.

Wenn Paulus leidenschaftlich wird

Schon im Neuen Testament kämpft Paulus leidenschaftlich für dieses Evangelium. Als in Galatien die Forderung laut wird, Christen müssten sich gemäß dem jüdischen Gesetz beschneiden lassen, wird sein Ton ungewöhnlich scharf:

„Wenn wir durch das Gesetz gerettet werden könnten, hätte Christus nicht sterben müssen. O ihr unverständigen Galater! Wer hat euch so durcheinandergebracht?“ (Gal.2,21b-3,1a)

Gesetzlichkeit ist seither immer ein zentraler Feind des Evangeliums geblieben. Sie kriecht oft so subtil durch die Ritzen unseres Glaubens, dass wir gar nicht merken, was uns da schrittweise unsere Freude raubt.

Wie uns Gebote ein schlechtes Gewissen machen

Jede göttliche Norm, an der wir scheitern, erzeugt ein schlechtes Gewissen. Dieser Effekt kann auch beim Bibellesen auftreten: Ich soll auch meine Feinde lieben? Ich soll denen, die mich berauben, noch mehr dazu geben? Ich soll jederzeit barmherzig sein? Wenn ich über jemand urteile, dann werde auch ich verurteilt? Eine Frau begehrend anzusehen ist schon Ehebruch? Derartige Hardcorepassagen bieten genügend Stoff, um das Gefühl zu nähren, dass ich dringend mehr tun, radikaler nachfolgen, hingegebener dienen und anhaltender beten müsste, damit Gott mit mir zufrieden ist.

Ein neuer Moralismus

Also könnte man meinen: Wie gut, dass die Leute immer weniger Bibel lesen. Wie gut, dass Gesetze und Gebote aus der Mode gekommen sind. Für Gott etwas leisten? Wer will das heute noch? Stattdessen sagen wir: Du bist O.K. so wie Du bist, egal, welche Überzeugungen, welcher Lebensstil oder welchen Glauben Du hast. Mit dieser Botschaft brauchen wir im Grunde keine Gnade und keine Rechtfertigung mehr. Es ist ja schon von vornherein alles in Ordnung – bei jedem von uns.

Das klingt befreiend. Das Problem ist nur: Die Gesellschaft hat zwar die Gnade und die Rechtfertigung abgeschafft, aber nicht die Moral. Im Gegenteil: Die Moral hat Hochkonjunktur! Und sie fordert immer größere Opfer. Um uns von angeblichen „Mikroaggressionen“ fernzuhalten sollen wir immer verschwurbeltere Gender-Sprachverrenkungen auf uns nehmen. Die verbreitete Klimarhetorik treibt viele Menschen an, nicht nur aufs Auto, auf Fleisch, auf Milch und Käse sondern sogar auf Kinder zu verzichten.

Aber auch wenn wir heutzutage beim Essen, Einkaufen, Auto fahren oder durch Flugreisen sündigen – der Effekt ist der Gleiche wie beim Verstoß gegen biblische Gebote: Scham! Vor uns selbst. Vor den Mitmenschen. Und wo immer wir uns als Christen von dieser moralistischen Kultur prägen lassen natürlich auch gegenüber Gott. Und da wir an den heutigen Idealen genauso scheitern wie an den biblischen Geboten, hält auch hier das schlechte Gewissen Einzug. Besonders schlimm daran ist: Ohne Gnade und Rechtfertigung gibt es auch keine Chance auf Erlösung. Wir können uns nicht selbst erlösen. Die Scham bleibt. Sie wird unser ständiger, gnaden-loser Begleiter.

Der wichtigste Zweck von Gesetz und Moral

Umso wichtiger ist es, dass wir es neu betonen: Gesetz und Moral sind auch Wegweiser zu der Erkenntnis: Wir schaffen es beim besten Willen nicht. Nicht aus eigener Kraft. Wir können uns nicht selbst erlösen. Wir sind und bleiben Sünder. Deshalb musste ein anderer für uns sterben. Am Kreuz musste er die Suppe auslöffeln, die wir eingebrockt haben. Wie demütigend. Und wie erlösend zugleich! Wer die Knie vor dem Gekreuzigten beugt, sieht dort einen Mann, der…

… sich festnageln lässt, damit wir frei werden.

… an unserer Stelle stirbt, damit wir leben können.

… unsere Schuld auf sich nimmt, damit uns vergeben wird.

… Scham und Schande erträgt, um uns die Würde von Königskindern zu verleihen.

Wer derart beschenkt wird, muss nichts mehr tun, um sich das Heil zu verdienen. Das Befolgen von Gottes guten Geboten ist dann kein Zwang mehr. Es ist vielmehr Folge des Vertrauens, dass Gott uns liebt und am besten weiß, was gut für uns ist.

Vom Sein ins Tun statt umgekehrt

Das biblische Evangelium führt somit nicht vom Tun ins Sein sondern immer vom Sein ins Tun. Nichts, was wir tun, bringt uns das Angenommensein bei Gott. Aber weil wir Gottes Kinder sind, wächst auch sein Charakter in uns. Weil wir von ihm geliebt sind, fließt seine Liebe irgendwann ganz von selbst zum Nächsten weiter. Weil wir reich Beschenkte sind, können wir fröhlich weiterschenken. Weil wir von Gott bedingungslos angenommen sind, können wir auch andere Menschen annehmen. Weil Gott barmherzig mit uns umgeht, können wir auch zu anderen Menschen barmherzig sein. Ein gottgefälliges Leben entspringt also nicht unserem Willen oder unserem Gehorsam sondern ist eine Frucht seiner Gnade und seines Geistes, der in uns lebt und uns verändert.

Rechtfertigung aus Gnade: Gottes Antwort auf das Drama der Menschheit

Das Evangelium von der der Rechtfertigung aus Gnade löst unsere Probleme in doppelter Hinsicht: Es erlöst uns vom (frommen) Leistungsdruck – und bewahrt uns doch davor, uns nur noch lustgesteuert um uns selbst zu drehen. Es verleiht uns Wert und Identität – und reißt uns zugleich aus überheblicher Selbstgerechtigkeit. Es erlöst uns von Scham – ohne uns schamlos werden zu lassen.

Deshalb ist die Rechtfertigung aus Gnade die beste Antwort auf eine Welt, die in Moral, Scham, Schamlosigkeit, Unbarmherzigkeit und gegenseitiger Verachtung versinkt. Eine christliche Botschaft, die in Jesus nur ein Vorbild und in seiner Botschaft nur ein Ideal sieht und in deren Zentrum nicht mehr das Kreuz und die Rechtfertigung aus Gnade steht, ist kein Evangelium. Sie ist keine gute Botschaft. Ja mehr noch: Sie ist nicht einmal christlich. Sie hat der Welt nichts zu bieten außer noch mehr Moral, die uns noch weiter überfordert und tiefer beschämt. Wenn die Kirche die Rechtfertigung aus Gnade verliert, ist sie verloren.


Zur Übersicht: 7 fundamentale Thesen des Römerbriefs

Lau oder leidenschaftlich?

Warum brennen manche Christen so leidenschaftlich für Jesus und sind so verlässlich und verbindlich in der Gemeinde aktiv? Und warum sind andere eher passiv und unverbindlich? Dazu ein kleines Gleichnis:

Das Gleichnis von den zwei Schuldnern

Ein König lebte an seinem Hof in großem Frieden und Harmonie. Aber sein Volk war sehr arm. Fast alle Bauern waren durch Schulden in die Abhängigkeit von reichen Gutsherren geraten und sie mussten ihnen dienen wie Sklaven.

Eines Tages kam ein sehr armer und geschundener Bauer an den Hof des Königs. Er fiel vor dem König auf die Knie und klagte ihm sein Leid: „Erbarme dich, mein König“, rief  er, „bei der letzten Dürre musste ich viele Schulden machen. Der Gutsherr nahm uns unser ganzes Land weg. Mich machte er zum Sklaven, meine Tochter machte er gegen ihren Willen zu einer seiner vielen Frauen, wir haben kaum etwas zu essen und jetzt bin ich auch noch krank geworden und kann den Arzt nicht bezahlen.“ „Bezahlt denn nicht dein Gutsherr den Arzt?“, fragte der König. „Eher würde er mich sterben lassen“, antwortete der Bauer.

Da ging es dem König durchs Herz und er sprach: „Höre, was ich tun will: Ich will dir alle deine Schulden bezahlen und ich will dich, deine Familie und auch deine Tochter aus der Hand des Gutsherren freikaufen. Dann will ich dich zu den besten Ärzten des Landes schicken und du sollst gesund werden. Und noch mehr will ich tun: Ich will dich und dein ganzes Haus in meinen Palast aufnehmen und ihr sollt bei mir wohnen und mir dienen.“ Da weinte der Bauer vor Freude über die Gnade, die der König ihm erweisen wollte. Aber dann sprach er: “Wie kann ich an deinen Hof kommen? Ich bin ein einfacher Bauer und weiß nicht, wie man sich an deinem Hof verhält! Ich würde den Frieden in deinem Haus stören.“ Da antwortete der König: „Ich werde Lehrer für dich geben, dass sie dich unterweisen, wie du dich in meinem Haus verhalten sollst. Und ich will dir eine Ausbildung zuteil werden lassen. Du sollst lernen, wie man Krieg führt und du sollst ausziehen mit meinem Heer und für mich kämpfen und wenn du treu bist, sollst du bald ein Heeroberster werden und du sollst viel Ehre haben im ganzen Land.“

So tat der König nach seinem Wort und der einst so arme Bauer wurde bald bekannt im ganzen Land als ein tapferer und treuer Kämpfer für den König. Und niemand war so mutig und so aufopferungsvoll wie er, denn er liebte den König von ganzem Herzen. Und der Bauer wurde ein enger Vertrauter des Königs, der täglich bei ihm ein und ausging.König und Knecht

All das gefiel dem König sehr. Und er dachte in seinem Herzen: Ich will noch mehr Leuten ihre Schulden bezahlen und sie freikaufen und sie zu mir holen, damit sie mich so lieben und mir so treu dienen, wie er es tut. Und er schickte Boten ins ganze Land, die ausriefen: “Wer verschuldet ist, der komme zum Hof des Königs! Und der König will eure Schuld bezahlen und euch freikaufen und ihr sollt am Hof des Königs seine Diener werden!“ Aber die Reaktion des Volkes war nicht so, wie der König sich das erhofft hatte. Viele waren einst stolze Bauern gewesen und sie wollten es sich jetzt nicht eingestehen, dass sie arm und verschuldet waren. Andere hatten Angst, dass es ihnen am Hof des Königs vielleicht noch schlimmer ergehen könnte als bei ihrem Gutsherren. Einer jedoch dachte in seinem Herzen: Das hört sich gut an. Ich könnte es mir am Hof des Königs gut gehen lassen, ich würde viele einflussreiche Leute kennen lernen und würde vielleicht bald selbst ein angesehener Mann werden. Und so ging er zum Hof des Königs. Als er jedoch vor ihm stand, bekam er es mit der Angst zu tun. Er scheute sich davor, zugeben zu müssen, wie tief verschuldet er war. Er dachte sich: Wenn ich dem König alle meine Schulden sage, dann wird er sie vielleicht nicht bezahlen wollen und er wird mich wieder zurückschicken. Und so nannte er nur einen Teil der Schulden, die er hatte, und sie wurden bezahlt. So war der König voller Hoffnung, nun wieder einen treuen Knecht zu bekommen.

Jedoch wurde diese Hoffnung bald enttäuscht. Schon als der Mann neu eingekleidet werden sollte, gab es Probleme: Er wollte seine alten Kleider nicht aufgeben und die neuen gefielen ihm nicht. Auch wollte und wollte er nicht lernen, wie man sich am Hof verhält und so störte er immer wieder den Frieden im Haus des Königs mit den schlimmen Worten, die er gebrauchte und mit den alten Umgangsformen, die er sich einfach nicht abgewöhnen wollte. Erst recht war er ein schlechter Schüler, was das Kämpfen angeht und als es soweit war, in den Kampf hinauszuziehen, stellte er sich krank. Am schlimmsten aber war, dass er oft nicht einmal bei der täglichen Audienz beim König anwesend war und zuletzt kam es sogar immer öfter vor, dass er den Palast verließ, um wieder seine alte Heimat zu besuchen.

Eines Tages kam der frühere Gutsherr zum König, um die noch nicht bezahlten Schulden einzufordern. Da rief der König nach dem Mann und ließ ihn holen. Dann fragte er ihn: „Warum hast du mir nicht gesagt, dass du noch mehr Schulden hast?“ Da antwortete der Mann: „Ich hatte Angst, du würdest sie mir nicht bezahlen und mich wieder zurückschicken.“ Da sprach der König: „Du hattest Angst und du warst zu stolz, sie vor mir einzugestehen. Du kamst nicht hierher, um deine Schuld bezahlt zu bekommen, sondern du wolltest Ehre für dich haben und das Leben am Hof genießen. Aber seit du hier bist, bist du dabei, den Frieden und die Eintracht in meinem Palast zu stören. Erst dachte ich, dass sich das noch ändern würde. Jetzt aber erkenne ich, dass du mir niemals von ganzem Herzen dienen wirst, denn du liebst mich nicht wirklich und du dienst letztlich nur dir selbst. Weil du so mein Angebot missbraucht hast, gebe ich dich wieder in die Hände deines alten Gutsherren zurück, von dem ich dich freikaufen wollte.“

Und der Mann musste wieder zurück in die Sklaverei und es wurde mit ihm schlimmer als vorher.

Fragen zum Weiterdenken:

  • Wie viele Menschen sind wohl wirklich deshalb in unseren Gemeinden, weil sie erkannt haben, dass sie ohne Jesus absolut verloren sind, dass sie verstrickt sind in den Fängen der Sünde und dadurch am Rande des Todes stehen? Wie viele Menschen sind in unseren Gemeinden, weil sie dort Jesus als den gefunden haben, der sie von der Last ihrer Sünde befreit, der sie rettet von ihrer Verlorenheit, der sie beschenkt mit unverdienter Gnade?
  • Wie viele Menschen sind dagegen nur deshalb in unseren Gemeinden, weil sie dort Beziehungen und Freundschaft suchen? Wie viele arbeiten vor allem deshalb mit, weil sie sich Aufmerksamkeit und Anerkennung wünschen?
  • Und wie sieht das bei uns selber aus?

Begeisterung und Eifer für Jesus entstehen aus einer Berührung mit der Verzweiflung der Sünde und ihrer tödlichen Folgen. Erst dann können wir dankbar jubeln über die Vergebung und herrliche Erlösung, die Jesus für uns erworben hat. Ist es nicht zwangsläufig so, dass Gemeinden lauwarm sind, solange wir Sünde nicht ansprechen?

Siehe auch:

  • Jesus und die Leidenschaft der Sünderin: Lukas 7, 36-50
  • Change! – Ein Plädoyer für eine Kirche mit Profil