Wie wir die Lust am Gebet und Kühnheit für mutige Glaubensschritte zurückgewinnen
„Lächerlich!“ Goliat grinste. „Die schlottern ja vor Angst! Und dann wollen sie ernsthaft behaupten, ihr Gott sei mächtiger als unsere Götter? Wo ist er jetzt, ihr Gott? So viel ist sicher: Er kann ihnen nicht helfen. Sonst wäre längst einer von ihnen gegen mich angetreten.“
„Unerträglich!“ dachte David. „Was plustert dieser Typ sich auf? Nur weil er größer ist als die anderen? Gegen meinen Gott ist er nur ein Krümel. Er hat ja keine Ahnung, wen er da verspottet. Höchste Zeit, dass meine Brüder sehen, dass der Gott des Himmels und der Erde mit uns ist!“
Ein letztes Mal schloss er die Augen. Er dachte zurück an die Zeiten allein mit Gott. Das Nachsinnen über die Worte aus den Schriften. Das Singen zu Gott beim Sonnenaufgang. So oft hatte er Gottes Hilfe erfahren, wenn wilde Tiere die Herde bedrohten und es richtig gefährlich wurde. In diesen Jahren hatte er gelernt, dass Gott keine fromme Theorie ist sondern ein Gott der Tat, der wirklich hilft. Ein Gott, dem man vertrauen kann.
Eine übernatürliche Kühnheit durchflutete ihn. Es wurde Zeit. Er nahm all seinen Mut zusammen und ging auf Goliat zu. Die Flüche und den Spott hörte er gar nicht. Stattdessen hörte er sich selber rufen: „Du trittst mir mit Schwert, Speer und Wurfspieß entgegen, ich aber komme im Namen des Herrn, des Allmächtigen – des Gottes des israelitischen Heeres, das du verhöhnt hast. Heute wird der Herr dich besiegen. Und die ganze Welt wird wissen, dass es einen Gott in Israel gibt!“
Dann nahm er den Stein aus seiner Tasche…
Auf der Suche nach Davids Erfolgsgeheimnis
Auch wenn es mir nicht gefällt: Leider stehe auch ich oft auf der Seite der schlotternden Angsthasen. Und ich fürchte: Ich bin nicht der Einzige in meiner Kirche. Nüchternes Kalkulieren ist der Normalfall, kühnes Gottvertrauen die Ausnahme. Wir rechnen nicht mit Wundern sondern mit Problemen. Die ersten Christen hatten gegen alle Widerstände die Welt erobert – wir hingegen buddeln uns angesichts der Säkularisierung in unseren Schützengräben ein. Woran liegt das? Oder anders gefragt: Was war Davids Geheimnis? Was war sein Schlüssel zum Erfolg? Warum war er anders als alle anderen?
Nur ein Kindergebet?
„Ich bin klein, mein Herz ist rein, soll niemand drin wohnen als Jesus allein.“ Oft hat meine Mutter dieses Gebet mit mir gesprochen, solange ich klein war. Das war schön. Aber es hinterließ in mir auch den Eindruck: Die Sache mit dem reinen Herzen ist nur etwas für Kinder.
Und es stimmt ja auch: Kinder denken sich noch nichts Böses dabei, wenn sie sich mit Soße beschmieren. Sie haben kein schlechtes Gewissen, wenn sie die Tapete bemalt haben. Sie lachen ihren Eltern trotzdem ins Gesicht. Sie sind sich ihrer Zuneigung und Unterstützung trotzdem gewiss.
Aber das Leben verunsichert uns. Ent-Täuschungen stellen sich ein. Wir werden kritisiert, abgelehnt, manchmal sogar bestraft. Wir lernen, uns schuldig zu fühlen, uns zu schämen. Das unbefangene, offenherzige Lachen weicht der bangen Frage: Wer nimmt mich noch an, wenn er von meiner Schuld und meinem Versagen erfährt? Auf wen kann ich mich verlassen, obwohl man sich auf mich oft nicht verlassen kann? Schuld und Scham belasten unser Gewissen und unsere Beziehungen.
Das gilt auch für die Beziehung mit Gott. Wie denkt Gott über mich? Ich weiß, er liebt mich. Aber er ist auch ein heiliger Gott. Und er sieht meine Schuld, meine Gottvergessenheit, mein fehlendes Vertrauen, meinen Egoismus. Ist Gott trotzdem für mich? Kann ich mir seiner Gunst und seines Segens trotzdem sicher sein? Kann ich trotzdem davon ausgehen, dass er meine Gebete hört?
Mein schönes und schwieriges pietistisches Erbe
Ich bin in einem pietistischen Umfeld groß geworden. Für diese geistlichen Wurzeln bin ich bis heute äußerst dankbar. Der tiefe Respekt vor der Bibel, die ehrliche, authentische und geerdete Frömmigkeit hat mich wunderbar geprägt.
Eine Schlüsselerkenntnis in meinem pietistischen Umfeld lautete: Wir sind alle allzumal Sünder. Jeden Tag versagen wir in Gottes Augen. Und noch etwas habe ich früh gelernt: Sünden und ein schlechtes Gewissen trennen uns von Gott. Schon auf den ersten Seiten der Bibel wird uns das berichtet: Als Adam und Eva bewusst wurde, dass sie gegen Gottes Gebot verstoßen hatten, kam Scham in ihr Leben und zerbrach die Gemeinschaft mit Gott. Auch David wusste: „Wer darf den Berg des Herrn besteigen und wer an seinem heiligen Ort stehen? Nur die Menschen, deren Hände und Herzen rein sind“ (Psalm 24, 3+4). Entsprechend lehrte uns Jesus: „Gott segnet die, die ein reines Herz haben, denn sie werden Gott sehen.“ (Matthäus 5, 8) Und Petrus forderte uns auf: „Bewahrt euch ein reines Gewissen“ (1. Petrus 3, 16).
Was in unseren zwischenmenschlichen Beziehungen gilt, gilt also auch für unsere Gottesbeziehung: Wir können unserem himmlischen Vater nicht mehr frei und offen begegnen, wenn wir uns schuldig fühlen. Scham ist ein echter Beziehungskiller. Ein reines Herz zu haben ist deshalb kein Thema für Kinder. Für Paulus war sogar das Ziel seiner ganzen Lehrtätigkeit, „dass alle Christen von der Liebe erfüllt sind, die aus einem reinen Herzen kommt, aus einem guten Gewissen und aufrichtigem Glauben.“ (1. Tim. 1, 5)
Die große Frage ist nur: Wie soll man Gott gegenüber denn ein reines Herz und ein gutes Gewissen haben, wenn man doch täglich Fehler macht und sündigt?
David war anders
Aus irgendeinem Grund hatte David dieses Problem überhaupt nicht. Sein Gewissen war sauber und er war sich völlig sicher, dass Gott mit ihm ist: „Der Herr wird mich belohnen, weil ich aufrichtig bin, und mir den Lohn dafür geben, dass ich unschuldig bin. … Ich bin ohne Schuld vor Gott, denn ich habe mich von der Sünde fern gehalten.“ (Psalm 18, 21+24) Wie konnte David nur derart selbstsicher sein? Würde ich heute jemanden so reden hören wie David, würde ich ihn für ziemlich arrogant und hochnäsig halten. Kein Mensch kann sich doch von der Sünde fernhalten! Niemand ist unschuldig! Oder?
So sehr ich von der Richtigkeit der „Sünder-Theologie“ überzeugt war (und immer noch bin!) und so demütig sie sich auch anhört: Irgendwann habe ich auch bemerkt, dass sie eine problematische Kehrseite hat, wenn wir uns einseitig auf sie fixieren.
Schambesetzter Glaube ist ungesund und abstoßend
Wenn wir mit Gott und uns selbst nicht im Reinen sind, belastet das nicht nur unsere Gottesbeziehung. Wir zweifeln dann auch daran, dass Gott unsere Gebete erhört. Kein Wunder, dass wir dann die Lust am Beten verlieren. Und was noch schlimmer ist: Wenn wir kein Ja zu uns selber haben, leben wir seelisch äußerst ungesund. Tatsächlich sagte mal jemand zu mir, ich würde immer so gebückt durch die Gegend laufen. Scham macht verklemmt und scheu. Auf unser Umfeld wirkt das unattraktiv und abstoßend. Wer soll uns glauben, dass ein Erlöser in unser Leben getreten ist, wenn wir derart unerlöst wirken? Umso mehr habe ich mich gefragt: Ist DAS wirklich die Haltung, die uns die Bibel vermitteln wollte? Muss das Beugen unter die eigenen Fehler wirklich ein Dauerzustand im Leben eines Christen sein? Und warum war das bei David so anders? War David vielleicht ein Heiliger?
Ein reines Herz hat nichts mit Perfektion zu tun
Nein, ganz sicher nicht. Die Bibel schildert in ungeschminkter Offenheit seine Betrügereien, seine Rachlust und seine Schwäche für schöne Frauen. Allerdings waren ihm seine Fehler oft nicht bewusst. Selbst als er den Ehemann seiner Liebschaft indirekt umbringen ließ, musste Gott erst einen Propheten schicken, um ihm sein krasses Fehlverhalten klar zu machen!
Ganz offensichtlich gilt in der Beziehung mit dem Vater im Himmel genau das gleiche, was für die Beziehung von Kindern zu ihren Eltern gilt: Unbewusste Fehler belasten das Gewissen der Kinder nicht. Sie schaden deswegen auch der Beziehung zu den Eltern viel weniger. Natürlich sind Eltern nicht begeistert, wenn das Kind die Tapete vollgeschmiert hat. Aber wenn es sich nichts Böses dabei gedacht hat werden sie trotzdem barmherzig mit ihm umgehen – vor allem wenn ihnen das Kind treuherzig in die Augen schaut! Genauso wird Gott unsere Fehler zwar nicht einfach gutheißen oder ignorieren, schließlich richtet auch unbewusste Schuld Schaden an. Aber Gott geht barmherzig mit uns um. So war es jedenfalls bei David: Trotz der großen charakterlichen Mängel stellte Gott sich uneingeschränkt zu ihm. Er bezeichnete ihn sogar als „Mann nach seinem Herzen“ (1. Samuel 13, 14). Das zeigt mir: Gott empfand Davids festes Vertrauen in seine Gunst ganz offensichtlich nicht so wie ich als Hochmut oder Selbstüberschätzung. Vielmehr schätzt und segnet Gott Menschen, die erwartungsvoll mit seinem Segen rechnen, auch wenn ihnen völlig klar ist, dass sie in ihrem Leben noch ziemliche „Sauigel“ sind.
Vertrauen in einen großzügigen Gott
Das gilt umso mehr, da die Bibel uns an vielen Stellen lehrt: Unser himmlischer Vater ist kein knausriger sondern ein „gnädiger und barmherziger Gott, langsam zum Zorn und groß an Güte“ (Jona 4, 2, Psalm 86, 15; 103, 8; 145, 8; Joel 2, 13). Und wenn schon David sich so un-verschämt auf Gottes Segen verlassen konnte, wie viel mehr können wir das ohne Scham und Zweifel tun, da doch Jesus für unsere Schuld gestorben ist! Als Christen haben wir gegenüber David ja noch einen gewaltigen Vorteil: Wir können uns ganz darauf berufen, was Jesus am Kreuz ausgerufen hat: „ES IST VOLLBRACHT!“ Jesus ist für jede Schuld gestorben, die wir auf uns geladen haben und die wir – bewusst oder unbewusst – noch auf uns laden werden. Er starb, damit wir frei werden! Frei, uns nicht länger unter der Last unserer Schuld beugen zu müssen! Frei, um aufrecht und mit erhobenem Haupt leben und Gott begegnen zu können! Frei, um uns der Gunst und des Segens Gottes sicher zu sein und nicht länger zweifeln zu müssen! Frei, um mit großer Erwartung zu beten und mutig zu handeln in der Gewissheit, dass unser Gott mit uns ist, uns liebt und uns segnet! Ist das nicht phantastisch?
Gerade als Pietist musste ich das mühsam lernen: Gott erwartet keine Perfektion von mir! Natürlich möchte er, dass ich danach strebe, ihm immer ähnlicher zu werden und dass ich meine Sünden bekenne, wenn ich einmal ganz bewusst gegen seinen Willen verstoßen habe. Gott ist und bleibt ein heiliger Gott, der Sünde nicht einfach ignorieren kann. Aber mindestens ebenso wichtig ist es ihm, mich von meinem falschen Gottesbild zu heilen, wenn es mir den Eindruck vermittelt, dass er mir ständig nur mit erhobenem Zeigefinger begegnet!
Meine Erfahrung ist: Dieser Heilungsprozess kann ganz schön schwierig und langwierig sein. Es ist nicht einfach, tiefsitzende Gefühle von Scham, Minderwertigkeit und Unsicherheit Gott gegenüber zu überwinden. Ich habe dafür viele Jahre gebraucht und bin immer noch auf dem Weg.
Das Gute ist aber: Jesus wusste, wie schwer es uns fällt, unser Scham- und Versagergefühl gegenüber diesem großen, perfekten, allwissenden und heiligen Gott zu überwinden. Deshalb hat er uns gerade dafür ganz besondere, praktische und handfeste Hilfen für unseren Glaubensalltag mitgegeben. Und mein Eindruck ist: Hinter der Mutlosigkeit der Kirche Jesu steht auch die Krise, wie wir mit diesen praktischen Hilfen umgehen.
Die Krise des Sündenbekenntnisses
Wenn unser Gewissen von einer ganz konkreten und bewussten Schuld geplagt wird, dann kennt die Bibel eigentlich nur einen Weg, dieses Problem wieder loszuwerden: Wir müssen unsere Sünde bekennen! Wenn wir das tun, haben wir Gottes klare Verheißung, dass er uns „vergibt und uns von allem Bösen reinigt.“ (1. Johannes 1, 9) Mir geht es so, dass es bei manchen Sünden völlig genügt, sie Gott im Gebet zu bekennen. Aber manchmal reicht das nicht aus, um mein Gewissen zu entlasten. Die Bibel ermutigt uns deshalb: „Bekennt einander Eure Schuld…“ (Jakobus 5, 16).
Ich habe es so oft erlebt: Wenn meine Schuld ans Licht kommt, verliert sie ihre negative Kraft über mich. Das Herz ist wieder sauber, der Blick auf Gott wieder frei und ungetrübt. Der große Vorteil einer „Beichte“ ist die Möglichkeit, dass uns ein Mitchrist Gottes Vergebung hörbar und spürbar zusprechen kann. Jesus hat uns dazu eine bemerkenswerte Vollmacht mitgegeben: „Wem ihr die Sünden vergebt, dem sind sie vergeben.“ (Johannes 20, 23a) Ist das nicht erstaunlich? Wie schade, dass wir diese Vollmacht so selten in Anspruch nehmen, um uns einander von Schuldgefühlen zu entlasten.
Das „Beichten“ ist also nicht nur für katholische Christen eine große Hilfe. Wie schade, dass es bei uns Protestanten kein fester Bestandteil des gemeindlichen Lebens mehr ist! Als evangelischer Christ meine ich aber auch: Zum „Beichten“ braucht es keine Profis oder festgelegte Rituale. Ein offenes Gespräch mit einem lieben Mitchristen unseres Vertrauens reicht völlig aus. Wie gut, dass ich Freunde habe, mit denen ich offen über alles reden kann. Freunde, die selber Schwäche zeigen können und die mich deshalb auch wegen meiner Fehler nicht ablehnen. Wohl dem, der solche Freunde hat! Gute Gemeinden müssen Räume bieten, in denen man über alles reden kann. Und sie müssen eine gnadenreiche Atmosphäre schaffen, in der jeder spürt: Hier kannst Du ehrlich sein, denn hier wirst Du trotz Deiner Fehler und Deines Versagens nicht abgelehnt sondern angenommen – so wie Du bist. Denn hier ist niemand perfekt. Wir leben alle aus der Gnade und aus der Vergebung.
Die Krise der Taufe
Nie werde ich die ganz besondere Taufe eines guten Freundes vergessen. In unserem Glaubenskurs hatte er zu Jesus gefunden. Nach seiner Bekehrung schrieb er zusammen mit einem Seelsorger alle Sünden, die ihm einfielen, auf einen Zettel auf, den sie dann als Zeichen der Vergebung verbrannten. Trotzdem fühlte mein Freund sich noch nicht wirklich frei von seiner dunklen Vergangenheit, für die er sich so schämte. Der Alkohol hatte nicht nur sein eigenes Leben zerstört sondern auch seine Familie. Das lastete schwer auf ihm. Deshalb freute er sich unbändig auf seine Taufe. Seine Hoffnung war, dass das sein Gewissen vollends erleichtern würde. Als ich zum Ort der Taufe kam zeigte mir mein Freund als erstes eine Entdeckung, die er gerade gemacht hatte: Direkt an der Taufstelle stand ein Kilometerstein am Flussufer. Darauf war zu lesen: „0,0 km“. Gerade hier kamen 2 Flüsse zusammen, deshalb begann ganz offensichtlich gerade hier eine neue Kilometerzählung. Für meinen Freund hatte das aber eine ganz andere Bedeutung. Begeistert sagte zu mir: Ich darf wieder ganz bei Null beginnen!
Dass Gott uns reinigt von Sünde und Scham ist auch in der Bibel ein wichtiger Aspekt der Taufe. Petrus betont diesen Zusammenhang ganz direkt: „Die Taufe ist keine körperliche Reinigung, sondern die Bitte an Gott um ein reines Gewissen.“ (1. Petrus 3, 21) Bei der Taufe meines Freundes wurde mir erst so richtig bewusst, was Petrus damit gemeint hat. Seither quält mich die Frage, was uns in meiner evangelischen Kirche alles verloren geht, weil wir die Taufe in eine Zeit verlegt haben, in der wir sie noch nicht bewusst erleben und an die wir uns später nicht mehr erinnern können.
Leider ist dieser Verlust heute nur wenigen Christen bewusst. Besonders als protestantische, vom griechischen Denken geprägte Christen neigen wir dazu, den Wert und die Wichtigkeit von körperlich erlebbaren Ritualen zu unterschätzen. Jesus wusste es besser. Ihm war klar, dass wir ganzheitliche Menschen sind, die Wahrheiten auch dadurch begreifen, dass wir sie körperlich spüren und erleben. „Schmecke und sieh, dass der Herr gut ist!“ (Psalm 34, 9). Die vom hebräischen Denken geprägte Bibel wusste schon immer, wie wichtig das reale Erleben ist, um Dinge tief in unserem Herzen wirklich be-greifen zu können.
Ich habe deshalb Verständnis dafür, dass es Christen und Konfessionen gibt, die aufgrund bestimmter biblischer Aussagen vor Gott und ihrem Gewissen zu dem Schluss kommen, dass eine Taufe von Kindern keine Taufe im biblischen Sinn ist. Wer sich aus dieser Überzeugung heraus trotz Kindertaufe als Erwachsener taufen lässt, ist natürlich kein „Wiedertäufer“, denn die Einmaligkeit des Geschehens wird mit der Ablehnung der Kindertaufe ja nicht in Frage gestellt.
Ich glaube allerdings trotzdem bis heute nicht, dass alle Christen ihre Kindertaufe über Bord werfen müssen. Entscheidend scheint mir zu sein, dass jeder Christ im Brustton der Überzeugung sagen kann: „Ja, ich bin getauft! Ich gehöre Gott! Die Sünde und der „Verkläger der Brüder“ (Offenbarung 12,10) haben kein Anrecht mehr in meinem Leben!“ In Momenten der Scham und der Verunsicherung sollten alle Christen sich fest auf ihre Taufe berufen können. Um sich die Taufe zu vergegenwärtigen gibt es verschiedene Möglichkeiten. Ein mir bekannter Pfarrer hat sogar Tauferinnerungsfeiern im Freibad mit Untertauchen durchgeführt. Ich finde, das ist eine sehr gute Möglichkeit, der eigenen Taufe nachzuspüren und sie durch das körperliche Erleben ganz fest im eigenen Bewusstsein zu verankern. Oft scheut meine Kirche diese Praxis leider noch aus Angst, man könnte so eine Tauferinnerung mit einer Taufe verwechseln. Ich meine: Viel mehr Angst sollten wir davor haben, dass der kostbare Schatz der Taufe weiterhin verschüttet bleibt und dass das Wort „Taufe“ für die meisten Menschen auch in Zukunft kaum mehr ist als ein Synonym für das Verb „benennen“, das man auch bei Schiffen oder Plüschtieren anwenden kann.
Die Krise des Abendmahls
Die Taufe ist und bleibt ein einmaliges Erlebnis. Das ist wichtig, denn es bringt zum Ausdruck, dass Gottes Ja für uns ein für alle Mal fest steht – auch dann, wenn wir wieder einmal Fehler machen und sündigen. Selbst wenn wir untreu sind bleibt er doch treu (2. Timotheus 2, 13)! Damit wir aber auch nach unserer Taufe immer wieder erleben und sogar körperlich spüren können, dass unsere Schuld wirklich bezahlt ist, ist das Abendmahl so wertvoll. Es erinnert uns daran, dass sein Leib an unserer Stelle zerbrochen und sein Blut für uns vergossen wurde, um unsere Schuld zu bezahlen und den Bund zwischen Gott und uns ein für alle Mal zu besiegeln (Matthäus 26, 26-28), so dass wir trotz unserer Fehler Segen und Heil erwarten dürfen.
Die ersten Christen haben täglich das Brot miteinander gebrochen und Abendmahl gefeiert. Wir sollten es auch heute regelmäßig tun. Damit es nicht zur leeren Routine verkommt dürfen wir es immer wieder neu kreativ gestalten. Am wichtigsten aber ist, dass wir uns den Sinn des Abendmahls lebendig vor Augen halten und uns darin immer wieder von Gott helfen lassen, unsere Scham zu überwinden. Auch hier gilt genau wie bei der Beichte: Man braucht nicht unbedingt Profis oder heilige Räumlichkeiten, um ein tiefes und bewegendes Abendmahl zu feiern. Schließlich sind wir im neuen Bund allesamt Priester (1. Petrus 2, 9). Entscheidend ist unsere Dankbarkeit für den hohen Preis, den Jesus für unsere Erlösung bezahlt hat. In Brot und Wein bzw. Saft begegnet uns sichtbar und spürbar seine Vergebung, seine aufopferungsvolle Liebe und seine Gnade. Auf diese ganz besondere Begegnung dürfen wir als Kirche Jesu Christi auf keinen Fall verzichten.
Die Krise des wichtigsten Gebots
Eine Bibelstelle, die mir als Pietist seit jeher in Fleisch und Blut übergegangen war, ist die Frage nach dem wichtigsten Gebot. Schon immer war mir klar: Gott zu lieben ist das Wichtigste. Und unseren Nächsten sollen wir ebenso lieben. Aber war da nicht noch etwas? Jesus hatte dem wichtigsten Gebot nicht nur einen Zwei- sondern einen Dreiklang gegeben: Gott lieben, den Nächsten lieben und – uns selbst lieben. Seltsamerweise haben wir über diesen dritten Teil in meinem christlichen Umfeld praktisch nie gesprochen. Dabei war Jesus das „ebenso wichtig: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.“ (Markus 12, 31).
Das Problem ist: Wenn wir diesen dritten Teil vergessen, funktionieren auch die beiden anderen Teile nicht. Wir können Gott und unsere Mitmenschen nur dann lieben, wenn wir uns selbst geliebt fühlen. Und Gottes heilende Liebe kann unser Herz nicht erreichen, solange wir Gottes liebevollen Gedanken über uns innerlich widersprechen, weil wir uns selbst nicht für liebenswert halten. Geliebt fühlen können wir uns nur, wenn wir Gottes guten Gedanken über uns zustimmen. Und ich habe festgestellt: Das ist oft gar nicht so einfach!
Als Jugendlicher wurde ich über Jahre von meinen Mitschülern wegen meiner Figur gemobbt. Das hat mein Selbstwertgefühl und meine Fähigkeit, mich selbst anzunehmen, stark beschädigt. Mein Verhältnis zu meinem Körper ist seither nie ganz heil geworden. Wenn ich in der Bibel lese, dass ich schön und wunderbar gemacht bin, dann klingt das für mich in der Theorie sehr nett. Aber in meiner Gefühlswelt kommt es nicht wirklich an. Wem glaube ich also? Meinen Gefühlen? Meinen früheren Mitschülern? Oder doch Gottes Wort? Kann ich die Worte Davids wirklich zu meinen eigenen machen? „Ich danke dir, dass du mich so herrlich und ausgezeichnet gemacht hast!“ (Psalm 139, 14) Als ich es zum ersten Mal gewagt habe, diese Worte ganz bewusst laut auszusprechen, fühlte sich das für mich fast ein wenig gruselig an. Ich habe mich gefragt: Was mache ich da eigentlich? Ist das jetzt so ein Art magisches „Positives Denken“? Rede ich mir selber etwas ein? Nein! Diese Wahrheit über mir selbst auszusprechen bedeutet doch einfach nur, Gott in seinem Urteil über mich zuzustimmen und dem Teufel, dem alten Ankläger, sowie allen Menschen, die negative und verurteilende Dinge über mir ausgesprochen haben, eine lange Nase zu drehen.
Worte haben Macht. Gottes Worte sind die Wahrheit. Die Wahrheit macht uns frei. Jedes Mal, wenn wir Gottes Worte aussprechen und ihnen innerlich oder noch besser laut zustimmen, dann erlauben wir Gott wieder ein wenig mehr, uns von Scham und Minderwertigkeit zu heilen und die zerstörerischen Lügen, die Andere in uns hineingepflanzt haben, durch Gottes befreiende Wahrheit zu ersetzen.
Eine scham-lose Kirche
Auf meinem Weg heraus aus Scham-, Schuld- und Minderwertigkeitsgefühlen bin ich noch lange nicht am Ziel. Aber Einiges hat sich schon bewegt. Ich kann mehr daran glauben, dass mein Gott wirklich für mich ist. Dass er mein Gebet hört, auch wenn ich die letzten Tage wieder einmal nicht so diszipliniert war mit meiner stillen Zeit. Dass er mich segnet, auch wenn ich mich wieder einmal nicht so verhalten habe, wie ich es eigentlich sollte. Dass er mit mir ist, auch wenn ich nach wie vor alles andere als ein geistlicher Überflieger bin.
Ich glaube, es ist Zeit, dass wir Davids Geheimnis des reinen Herzens neu entdecken. Es geht nicht um Perfektion. Gleich gar nicht geht es um eine postmoderne Schamlosigkeit, die von der Realität von Schuld und Vergebung überhaupt nichts mehr wissen will und die das Wort Sünde nur noch mit kalorienreichem Essen in Verbindung bringt. Nein, es ist immer noch wahr und muss gerade heute neu gepredigt werden: Wir sind alle allzumal Sünder. Unsere Schuld trennt uns von Gott und vom ewigen Leben. Auf dem Weg des Glaubens gibt es keine Abkürzung am Abgrund unserer Schuld und Verlorenheit und am Kreuz vorbei.
Aber dieser schlechten Nachricht darf und muss eine tiefe und anhaltende Vergewisserung der Vergebung und Erlösung folgen, die Jesus am Kreuz für uns erworben hat, damit wir mit freiem und reinem Herzen aufatmen und befreit und erlöst leben können. Johannes beschrieb, welche Folgen das hat: „Liebe Freunde, wenn unser Gewissen rein ist, können wir mit Zuversicht und mutig vor Gott treten“ (1. Johannes 3, 21). „Mutig komm ich vor den Thron!“ Dieses wunderschöne Lied singen wir auch in unserer Gemeinschaft immer wieder gerne. Denn tatsächlich ist das ja „der Grund, warum wir feiern: Wir sind befreit, er trug das Urteil. Preis dem Herrn!“
Die Lust am Beten, das Vertrauen in Gottes Gunst und die Kühnheit für mutige Glaubensschritte können in der Kirche Jesu wieder Einzug halten, wenn Gott uns von unserer Scham befreien darf. Nur mit dieser Kühnheit werden wir die Goliats unserer Zeit besiegen können.