Kirche wohin? – 9,5 Thesen zur Situation und zur Zukunft der (evangelischen) Kirche

Dieser Artikel ist eine gekürzte Fassung des Vortrags „Kirche wohin? Herausforderungen und Chancen der Kirche heute“, der am 20.10.2023 im Rahmen eines Themenabends der Lebendigen Gemeinde Christusbewegung in Pfalzgrafenweiler gehalten wurde. Der Artikel kann hier als PDF heruntergeladen werden.

Wie kann die evangelische Kirche Zukunft haben? Zu dieser Frage gibt es unzählige, sich vielfach widersprechende Ideen und Vorschläge. Was aber vollkommen fehlt, ist eine gemeinsame Vision. Das beklagte jüngst auch Prof. Volker Gäckle, der Rektor der Internationalen Hochschule Liebenzell: „Was wir in dieser historischen Situation brauchen, ist eine überzeugende theologische Deutung der Situation, Einigkeit und Entschlossenheit in den entscheidenden Gremien, Veränderungsfähigkeit auf allen Ebenen und eine größere Geschwindigkeit in den nötigen Prozessen … und kein Allotria!“[1] Das ist ohne Zweifel richtig. Die Frage ist nur: Woher soll die Einigkeit und Geschlossenheit kommen?

Gegründet wurde die evangelische Kirche einst auf der Basis: Sola Scriptura! Allein die Schrift soll regieren. Sie soll Richtschnur und Maßstab für die Kirche sein. Und auch heute noch gilt: Die gemeinsame Orientierung an der Heiligen Schrift ist die einzige Chance, um dem heillosen Meinungswirrwarr wenigstens teilweise entkommen zu können. Die dringend notwendige „überzeugende theologische Deutung“ als Grundlage für Einigkeit und Entschlossenheit kann die Kirche nur dann finden, wenn sie vor allem eines tut: Gemeinsam die Bibel aufschlagen und mit offenem Herzen hören, was Jesus, der Herr der Kirche, ihr zu sagen hat.

In Johannes 15, 1 – 10 finden wir eine Rede Jesu[2], die in sehr verdichteter Form entscheidende Hinweise zur Situation und zur Zukunft der Kirche geben kann. Dieser Artikel leitet aus diesem Abschnitt neun Thesen ab sowie einen zusätzlichen Hinweis zur Situation und zur Zukunft der Kirche. Er hat dabei primär die evangelische Kirche im Blick. Die neun Thesen und der zusätzliche Hinweis sind aber natürlich generell für alle Denominationen gültig.

1. Fokus Zeitenwende: Die Zukunft gestalten, statt nur den Niedergang zu verwalten!

„Wer in mir bleibt und ich in ihm, der bringt reichlich Frucht.“ (V. 5)

Jesus sagt also: Seine Nachfolger sind Fruchtbringer! Man erkennt sie daran, dass in ihrem Umfeld etwas Positives wächst. Tatsächlich haben sich die Jünger Jesu als extrem fruchtbar erwiesen. Innerhalb von nur drei Jahrhunderten haben sie die Botschaft Jesu durch die ganze damals bekannte Welt getragen. Sie haben überall Gemeinden gegründet. Das Christentum ist trotz massiver Widerstände derart schnell gewachsen, dass die Machthaber schließlich sagen mussten: Wir können den christlichen Zug nicht stoppen. Dann setzen wir uns eben selbst ins Führerhaus. Wir machen das Christentum zur Staatsreligion.

Was dann geschah, bezeichnen wir heute als die „konstantinische Wende“: Aus einer Freiwilligen- und Minderheitenkirche wurde eine Staats- oder Volkskirche, wie wir heute sagen. Die Folge war: Plötzlich mussten die Kirchenleiter keine Frucht mehr bringen. Wenn das ganze Volk schon per Definition zur Kirche gehört, dann muss man nicht mehr evangelisieren. Oder um es im Bild des Weinstocks zu sagen: Man muss sich nicht mehr mit Wachstum und Frucht beschäftigen, wenn der Wein jeden Sonntag frei Haus geliefert wird. Die Leute kommen zur Kirche, ob man sich um sie bemüht oder nicht.

Dieses System hat viele Jahrhunderte lang funktioniert. Aber seit rund 70 Jahren leben wir in einer Zeitenwende. Die wachsende Individualisierung und Säkularisierung hat zur Folge, dass Staat und Gesellschaft in Bezug auf Glaube und Religion keine Vorgaben mehr machen. Jeder entscheidet selbst, was er glauben möchte. Auch die Eltern überlassen es ihren Kindern, wie sie es mit Glaube und Kirche halten wollen. Die Folge ist: Die konstantinische Wende wird rückabgewickelt. Das „Volk“ läuft den großen Kirchen in Scharen davon. Sie sind faktisch schon jetzt wieder Minderheiten- und Freiwilligenkirchen.

Volker Gäckle prognostiziert, dass die evangelische Kirche sich bereits in den nächsten 10 bis 17 Jahren noch einmal halbieren wird.[3] Entsprechend wird auch der Zufluss an Kirchensteuermitteln immer dünner. Im Bild gesprochen: Die Kiste Wein, die uns jahrhundertelang frei Haus geliefert wurde, wird jedes Jahr kleiner. Und deshalb fragen wir uns: Wie können wir denn unser parochiales, volkskirchliches System weiter aufrechterhalten? Wie können wir weiterhin in jedem Ort Gottesdienste, Trauungen, Beerdigungen usw. anbieten, wenn wir doch immer weniger Personal und immer weniger Finanzen haben? Diese Frage bindet unsere Gedanken und unsere Kräfte. Wir sind beschäftigt damit, den Niedergang zu verwalten.

Dabei bin ich überzeugt: Eigentlich ist diese Zeitenwende keine Katastrophe. Dass die Kirche die dominante Mehrheit darstellt, ist biblisch, historisch und weltweit gesehen doch ohnehin eine seltene Ausnahme. Die Normalität ist: Kirche Jesu war und ist zuallermeist eine Minderheiten- und Freiwilligenkirche. Sie existiert dort – und nur dort – wo Menschen Frucht bringen, weil sie das Evangelium verkünden und weil sie Gemeinden gründen und bauen.

Natürlich müssen wir uns in der evangelischen Kirche mit den vielen praktischen Fragen beschäftigen, die sich aus der kollabierenden Mitgliederzahl ergeben. Aber wäre es für unsere Zukunft nicht noch erheblich wichtiger, dass wir uns fragen: Wie schaffen wir eine gesunde Grundlage dafür, dass wir als Minderheiten- und Freiwilligenkirche eine Zukunft haben? Sollte das nicht sogar die dominante und vorherrschende Frage sein, wenn wir als evangelische Kirche eine Zukunft haben wollen? Die folgenden acht Thesen befassen sich jedenfalls mit genau dieser Frage. Und sie lenken den Blick zunächst auf die zentrale Bedeutung der lokalen Ortsgemeinde:

2. Fokus Gemeinde: Der Aufbau profilierter Gemeinden ist alternativlos!

„Die Herrlichkeit meines Vaters wird dadurch sichtbar, dass ihr viel Frucht bringt und euch so als meine Jünger erweist.“ (V. 8)

Jesus sagt also: Die Schönheit, die Kraft, die Herrlichkeit Gottes wird für die Menschen sichtbar durch Menschen, die durch ihr Leben und ihren Umgang miteinander etwas davon sichtbar werden lassen. Der antike Kirchenschriftsteller Tertullian schrieb im zweiten Jahrhundert, dass über die Christen folgendes gesagt wurde: „Siehe, wie sie sich untereinander lieben!“[4] Ganz offenkundig waren die Christen auffällig anders. Und das wurde vor allem sichtbar in den christlichen Gemeinden.

Insgesamt fällt im Neuen Testament auf: Ortsgemeinden sind im Fokus! Viele neutestamentliche Briefe richten sich an Gemeinden. Auch die Sendschreiben in der Offenbarung richten sich nicht etwa an die Kirche in Kleinasien oder an bestimmte Kirchenleiter, sondern an Ortsgemeinden. Tatsächlich war die Gründung und der Aufbau von Ortsgemeinden DIE zentrale Missionsstrategie der jungen Kirche. Und weltweit sehen wir: Auch heute noch sind profilierte Gemeinden alternativlos. Und mit „profiliert“ meine ich: Gemeinden wachsender Kirchen sind nicht nur einfach ein Abbild der Gesellschaft. Sie machen einen Unterschied! Sie spiegeln etwas wieder vom Wesen Gottes.

Volker Gäckle schreibt deshalb zurecht: „Was wir brauchen, sind qualitative Kriterien für intakte und aufbruchsfähige Gemeinden mit einem dynamischen Gemeindeleben, die dann, wenn alle Pfarrpläne ausgereizt sind, neu anfangen können.“[5] In der Tat: Genau das ist letztlich DIE Überlebensfrage für die Kirche! Wir werden die Kirchenaustritte nicht stoppen können, gleich gar nicht durch die Anbiederung an zeitgeistige Milieus. Im Gegenteil: Die Politisierung unserer Kirche beschleunigt die Austrittsdyanmik nur noch mehr. Wir verbauen den Menschen den Zugang zum Evangelium, wenn wir es mit einer bestimmten politischen Meinung verbinden. Ich finde es deshalb bestürzend, wenn die Tagesordnung so mancher Synoden eher zu einem Parteitag passt. Die Zukunft der Kirche hängt nicht von politischen Fragen ab, sondern vor allem davon, ob es ihr gelingt, vor Ort lebendige, attraktive, profilierte Gemeinden zu bauen.

Deshalb frage ich mich: Wo und wie kümmern wir uns um den Aufbau profilierter, attraktiver Gemeinden, in denen die Herrlichkeit Gottes und die Schönheit des Evangeliums sichtbar und spürbar wird? Ja, wir kümmern uns darum, dass überall noch der Laden läuft. Wir kümmern uns darum, dass am Sonntag an jedem Ort noch jemand die Orgel spielt und eine Predigt gehalten wird. Aber zugleich ist meine Wahrnehmung: Es wird immer schwieriger, profilierte Gemeinden zu bauen. Denn was passiert im Moment? Gemeinden werden zusammengelegt. Pfarrer müssen zunehmend übergemeindlich denken und kooperieren. Dass wir vor Ort eine Gemeindeleitung haben, in der ein Pfarrer und die Gemeindeleitung gemeinsam langfristig eine biblisch profilierte Gemeinde entwickeln, das ist immer seltener möglich. Diesen Missstand müssen wir dringend ändern, wenn wir als evangelische Kirche eine Zukunft haben wollen.

3. Fokus Fruchtbarkeit: Wir brauchen die Konzentration auf das, das Wachstum hervorbringt!

„Jede Rebe an mir, die keine Frucht bringt, schneidet er weg, und jede, die Frucht bringt, schneidet er zurück und reinigt sie so, damit sie noch mehr Frucht bringt.“ (V. 2)

Gott macht also zwei Dinge: Er reinigt das, was Frucht bringt. Und er schneidet weg, was keine Frucht bringt. Wie machen wir das in unserer Kirche? Meine Wahrnehmung ist: Die Frage, ob in einer Gemeinde der Gottesdienst leer oder voll ist, ob es ehrenamtliches Engagement gibt, ob es Kinder-, Jugend- und Seniorenarbeit gibt, ob die Gemeinde evangelistisch aktiv ist oder nicht, das spielt bei der Verteilung von Stellen und Ressourcen in der evangelischen Kirche keine Rolle. Wir versuchen nicht einmal, unsere Kräfte auf solche Aktivitäten zu konzentrieren, die tatsächlich Frucht bringen. Wir spüren zwar, dass wir an vielen Stellen neue Angebote bräuchten, um die Menschen mit dem Evangelium zu erreichen. Aber weil wir nicht den Mut haben, Bestehendes zu kürzen oder zu streichen, haben wir auch keine Kraft für Neues. Und meine Frage ist deshalb: Müssten wir nicht viel konsequenter alles das reduzieren, was sich totgelaufen hat, damit wir das fördern können, was wirklich Frucht bringt? Volker Gäckle bringt es so auf den Punkt: „Wir brauchen den Mut zum würdigen Abschied und Ende von dem, was sich überlebt hat.“[6]

4. Fokus Jesus Christus: Die Liebe zu Jesus muss das Zentrum sein!

„Getrennt von mir könnt ihr gar nichts bewirken. … Ich habe euch genauso geliebt, wie der Vater mich geliebt hat. Bleibt in meiner Liebe!“ (V. 5+9)

Das ist bei weitem nicht die einzige Bibelstelle, in der deutlich zum Ausdruck kommt, wie zentral die Liebe zu Jesus ist. Jesus sagt sogar: Gott zu lieben von ganzem Herzen, mit ganzem Willen und mit ganzer Kraft ist das Wichtigste überhaupt. (Mk. 12,29-39) Deshalb frage ich mich: Wo steht es in unserer Kirche um die Liebe zu Jesus? Wo spürt man uns die innige Verbindung mit ihm ab?

Ulrich Parzany hat vor kurzem geäußert: „Ich beobachte seit längerer Zeit, dass es Predigten in evangelischen Gottesdiensten gibt, in denen Jesus gar nicht vorkommt. Das trifft aus meiner Sicht auch für viele kirchliche Äußerungen zu. Natürlich ist das meine subjektive Wahrnehmung. Ich wäre froh, wenn mir nachgewiesen würde, dass ich mit dieser Behauptung falsch liege. Ich halte diese Jesus-Vergessenheit – ich nenne sie Jesus-Demenz – für eine tödliche Seuche.“[7]

Ich kann diese Beobachtung leider nur bestätigen. Schon vor einigen Jahren hatte die EKD ein Internetportal aufgesetzt, um Menschen für den Pfarrberuf zu begeistern. Beim Durchklicken der Seiten fiel mir auf: In den über 40 Artikeln kam das Wort „Jesus“ überhaupt nur zweimal vor: In einer Erläuterung der synoptischen Evangelien. Und in einem Artikel unter der Überschrift „Geistliche Kuriositäten“. Seither frage ich mich: Was soll aus unseren Gemeinden werden, wenn Jesus bei der Anwerbung von Gemeindeleitern offenkundig kaum eine Rolle spielt? Denn wenn wir Jesus ernst nehmen, dann ist Jesus-Demenz absolut tödlich für die Kirche! Denn sie raubt ihr ihre Fruchtbarkeit.

Aber auch wenn wir den Begriff Jesus oft auf den Lippen haben, heißt das noch nicht, dass wir Jesus wirklich lieben. Wenn wir nur eine dogmatische Rechtgläubigkeit haben, die aber nicht getränkt ist in der Liebe Gottes, dann wird Glaube oft hart und gesetzlich. Dann werden Gemeinden kalt und abstoßend. Deshalb macht Jesus so deutlich: Nur wo Menschen unterwegs sind, die Jesus wirklich lieben, ist echte Frucht und echtes Wachstum zu erwarten. Dort – und nur dort – hat Kirche Zukunft.

5. Fokus Gottes Wort: Ohne Vertrauen in die Inspiration der Schrift gibt es keine Kirche!

„Wenn ihr in mir bleibt und wenn meine Worte in euch bleiben, dann…“ (V. 7)

Jesus betont hier einen Doppelklang: Wir sollen in IHM bleiben, das heißt: In ihm als Person, die heute lebendig ist und an den wir uns im Gebet jederzeit wenden können. Aber zugleich gilt: Auch seine Worte müssen in uns bleiben! Damit sind natürlich nicht nur biblische Jesuszitate gemeint. Die Bibel selbst macht immer wieder klar: Jesus ist Gott. Und die ganze Bibel, bestehend aus Altem und Neuem Testament, ist sein Wort.[8] Und Jesus macht hier deutlich: Ohne sein Wort entsteht keine Frucht! Genau deshalb ist es so dramatisch, wenn die Kirche bezweifelt, ob die Bibel tatsächlich Gottes Wort ist.

Diese Zweifel begegnen uns heute in ganz unterschiedlichen Formulierungen.[9] So wird zum Beispiel gesagt: Die Bibel bezeugt Gottes Wort. Oder: Die Bibel enthält Gottes Wort. Oder: Die Bibel kann zum Wort Gottes für uns werden. Gott kann diese Texte für uns zu seinem Wort machen. Alle diese Formulierungen ändern nichts daran, dass die Worte der Bibel letztlich zu menschlichen Worten degradiert werden. Und wie alle menschlichen Worte sind sie natürlich auch fehlerhaft. Und deshalb müssen wir sie kritisch lesen, das heißt: Wir müssen auf Basis eigener Kriterien unterscheiden, was darin wohl Gottes Wesen wiederspielgelt und was nur veraltete Vorstellungen über Gott transportiert. Da man sich in Bezug auf diese Unterscheidung niemals wird einigen können, ist die Konsequenz am Ende immer: Wir wissen nichts gesichertes mehr darüber, was Gott gesagt hat. Wir haben sein Wort verloren.

Martin Luther hat die Aussage geprägt: „Wo das Wort ist, da ist die Kirche.“[10] Kirche ist nichts anderes als eine „creatura verbi“, ein Geschöpf des Wortes Gottes. Und das gilt aus guten Gründen: Kirche ohne Gottes Wort hat keine Botschaft, denn sie ist ja nur Botschafter an Christi statt. Kirche ohne Gottes Wort kennt nur Meinungen, aber keine Gewissheiten. Kirche ohne Gottes Wort kann niemanden trösten und niemandem Halt geben, weil sie selbst nichts Sicheres weiß über Gott, über die existenziellen Grundfragen der Menschen und über die Ewigkeit. Kirche ohne die Offenbarungsquelle von Gottes Wort hört auf, Kirche zu sein.

Deshalb frage ich mich: Wann werden wir uns daran erinnern, auf welchem Fundament unsere Kirche steht? Wann werden wir uns wieder gemeinsam beugen unter dieses von Gottes Geist inspirierte Wort, statt uns kritisch über die Schrift zu stellen? Denn so viel ist klar: Ohne das kraftvolle Wort Gottes wächst kein geistliches Leben. Ohne das Licht des Wortes Gottes verliert und verläuft sich die Kirche im Nebel der Zeit – wie man schon jetzt vielerorts traurig beobachten muss.

6. Fokus Gottes Gebot: Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen!

„Bleibt in meiner Liebe! Ihr bleibt darin, wenn ihr meinen Anweisungen folgt. Auch ich habe immer die Weisungen meines Vaters befolgt und bleibe in seiner Liebe.“ (V. 9b+10)

Jesus sagt also: Es reicht nicht, Gottes Wort zu kennen. Wir müssen die darin enthaltenen Anweisungen auch befolgen! Gott zu lieben und seine Gebote zu befolgen ist in der Bibel immer untrennbar miteinander verbunden. Seine Gebote sind Ausdruck seiner Liebe zu uns. Unser Gehorsam ist Ausdruck unserer Liebe zu Gott. Wer von der Liebe Gottes spricht, muss deshalb zugleich auch immer die hohe Bedeutung seiner Gebote im Blick behalten.

Eines seiner Gebote lautet: Du sollst nicht töten. Christen aller Zeitalter und Denominationen waren sich einig: Dieses Gebot bezieht sich selbstverständlich auch auf das ungeborene Leben. Deshalb ist es so dramatisch, wenn die EKD diesen biblisch klar begründeten Konsens nun verlässt und die Tötung ungeborenen Lebens zumindest bis zur 22. Schwangerschaftswoche freigeben will.[11] Damit bringt sie zahllose Christen in eine schwerwiegende Gewissensnot. Ich kann nur hoffen, dass eine Vielzahl kirchlicher Leiter sich eindeutig und klar gegen diese Verirrung der EKD positioniert.

Im Alten wie im Neuen Testament spielen zudem die Gebote zur Sexualethik eine wichtige Rolle. Der bekannte Theologe N.T. Wright schreibt dazu: „Während der gesamten ersten christlichen Jahrhunderte, als jede Art von Sexualpraktik, die in der Menschheit jemals bekannt war, in der antiken griechischen und römischen Gesellschaft weit verbreitet war, bestanden Christen wie Juden darauf, dass die ausgelebte Sexualität auf die Ehe zwischen einem Mann und einer Frau zu beschränken sei. Heute wie damals denkt der Rest der Welt, das sei verrückt. Der Unterschied besteht leider darin, dass heute auch die halbe Kirche dasselbe denkt.“[12]

Quer durch die Jahrtausende hindurch haben Menschen das Wort Gottes bei diesem Thema zumindest in den Grundlinien gut verstanden. Schon immer hat sich Gottes Volk damit in einen scharfen Gegensatz zur kulturellen Umgebung begeben. Auch deshalb wurde die junge Kirche verachtet und verfolgt. Und doch hatte gerade diese Kirche eine enorme Ausstrahlung. Sie hat extrem viel Frucht gebracht, von der wir heute noch zehren.

Aber ist das heute vielleicht anders als damals? Müsste sich die Kirche heute vielleicht stärker anpassen, um die Menschen in der Gesellschaft zu erreichen? In seinem Buch „Menschen mit Mission“ schreibt Thorsten Dietz über die Evangelikalen: „Warum handelt es sich bei den Evangelikalen heute um die weltweit zweitgrößte christliche Strömung nach dem Katholizismus? Niemand hätte sich das vor 50 oder 60 Jahren träumen lassen. … Welche Zukunft sollten … schon Grüppchen haben, denen Evangelisation und Mission über alles geht, die im Zweifelsfall lieber der Bibel glauben als der historischen Forschung? Wer wird schon Ewiggestrige ernst nehmen, die sich radikal der sexuellen Liberalisierung der 1960er-Jahre verweigern? Aber entgegen allen Erwartungen ist keine religiöse Gruppe im letzten halben Jahrhundert dynamischer gewachsen als diese.[13]

Es waren also ausgerechnet diese komischen Evangelikalen mit ihrer angeblich so überkommenen Sexualethik, die Frucht gebracht haben – während zugleich die liberalen Kirchen weltweit schrumpften. Welchen Beweis brauchen wir noch, bis wir verstehen, dass Jesus tatsächlich über harte Realitäten spricht, wenn er Fruchtbarkeit mit dem Befolgen der Gebote verknüpft?

Trotzdem fordern christliche Leiter immer wieder: Lasst uns doch nicht streiten wegen sexualethischen Fragen. Und natürlich hat niemand Lust auf Streit. Aber die Bibel ist nun einmal durchgängig völlig eindeutig: Wenn Gottes klare Gebote missachtet werden, dann verlieren wir den Segen Gottes. Und ohne Gottes Segen geht die Kirche zugrunde. Deshalb müssen wir – gerade auch aus Liebe zur Kirche – darauf bestehen, dass die Kirche an Gottes Geboten festhält.

7. Fokus Evangelisation: Menschen aktiv in die Nachfolge rufen!

„Ihr allerdings seid schon rein, weil ihr mein Wort gehört und angenommen habt.“ (V. 3)

Jesus formuliert hier in einer sehr verdichteten Kurzform das, was der Kern aller kirchlichen Aktivitäten sein sollte:

  1. Menschen hören Gottes Wort.
  2. Menschen nehmen es an.
  3. Menschen werden rein. Ihre Schuld wird abgewaschen. Sie finden Versöhnung und Gemeinschaft mit Gott und dadurch auch ewiges Leben bei ihm.

In 2. Korinther 5, 20-21 formuliert es Paulus ein wenig ausführlicher so: „So sind wir nun Botschafter an Christi statt, denn Gott ermahnt durch uns; so bitten wir nun an Christi statt: Lasst euch versöhnen mit Gott! Denn er hat den, der von keiner Sünde wusste, für uns zur Sünde gemacht, auf dass wir in ihm die Gerechtigkeit würden, die vor Gott gilt.“ Das ist der Kernauftrag und die Kernbotschaft der Kirche. Das ist der Kern des Evangeliums. Echte Kirche Jesu wird im Kern immer alles daran setzen, dass die Menschen diese Botschaft hören und annehmen.

Trotzdem höre ich in meiner evangelischen Kirche häufig eine andere Botschaft, in der den Menschen in etwa folgendes vermittelt wird:

  1. Die Menschen sind schon rein und versöhnt mit Gott, weil sie ja getauft sind.
  2. Dessen müssen wir sie jetzt nur noch versichern.
  3. Wenn sie noch nicht getauft sind, laden wir sie zu einer niedrigschwelligen Taufe ein.

So schreibt die EKD zum Beispiel auf ihrer Internetseite zu ihrer großen Taufaktion: „Die Taufe besiegelt die Beziehung zwischen dem einzelnen Menschen und Gott. … Sie gibt uns Anteil an seinem Leben, Reden und Handeln.“ Angesichts ihrer Kindertaufpraxis ist es kein Wunder, dass die evangelische Kirche auf Basis solcher Aussagen kaum noch evangelisiert. Warum auch? Alle Getauften sind ja bereits mit Gott verbunden! Übrig bleibt eine Botschaft, die sich in Zuspruch erschöpft, in der aber von Gericht, Umkehr, Rettung und Erlösung nichts mehr zu hören ist.

Die Frage ist nur: Reicht eine Kindertaufe wirklich, um am Tag des Gerichts bestehen zu können? In Markus 16, 16 lesen wir: „Wer glaubt und sich taufen lässt, den wird Gott retten. Wer nicht glaubt, den wird Gott verurteilen.“ Die Bibel ist also eindeutig: Taufe ohne Glaube rettet nicht. Eine Taufrettungstheologie verfälscht das Evangelium. Und sie hat zur Konsequenz, dass die Kirche stirbt, weil sie nicht mehr evangelisiert. Einmal mehr zeigt sich: Kirche wächst nicht, wenn sie ihre Botschaft glättet, um nirgends Anstoß zu erregen. Sie wächst vielmehr dort, wo sie das ein für allemal überlieferte Evangelium ins Zentrum ihrer Botschaft stellt und klar verkündigt.

8. Fokus Priestertum aller Gläubigen: Hin-Gabe geht vor Amt und Hierarchie!

„Ihr könnt keine Frucht bringen, wenn ihr nicht mit mir verbunden bleibt.“ (V. 4)

Jesus betont also: Die gelebte Verbindung mit ihm ist die entscheidende Grundlage, um fruchtbar in der Kirche dienen zu können. Umso mehr stellt sich die Frage: Woher kommt eigentlich dieser Gedanke, dass das Austeilen des Abendmahls, die Verkündigung von Gottes Wort und die Leitung einer Gemeinde in der evangelischen Kirche einzig und allein an einem völlig gemeindefernen und zudem bibelkritischen Theologiestudium hängt? Wollten wir nicht eine Kirche sein, die das sogenannte „Priestertum aller Gläubigen“ hochhält?

Und zudem frage ich mich: Können wir uns das denn wirklich noch länger leisten, dass die sogenannten „Laien“ zwar die Kinder- und Jugendarbeit und viele andere Dienste in unseren Gemeinden übernehmen, aber von der Verkündigung und von der Leitung der Gemeinde auch dann ausgeschlossen sind, wenn sie eng verbunden sind mit Jesus, wenn sie tief verwurzelt sind in Gottes Wort und wenn sie ihr Leben ausrichten an seinen Geboten? Und warum tun wir das eigentlich? Warum lassen wir Gaben und Talente verkümmern, während zugleich Gemeinden verkümmern, weil sich angesichts des wachsenden Pfarrermangels niemand mehr um sie kümmern kann?

Wenn die Kirche Zukunft haben möchte, muss sie ernst machen mit dem Priestertum aller Gläubigen. Die längst überfällige Zulassung von Absolventen freier theologischer Ausbildungsstätten für das Pfarramt wäre ein erster Schritt. Aber wenn wir wirklich wollen, dass in der Fläche lebendige, profilierte Gemeinden wachsen, dann müssen wir darüber hinaus Ausschau halten nach begabten Menschen, die eng mit Christus verbunden sind und verwurzelt sind in seinem Wort. Wo auch immer wir solche Menschen finden, sollten wir sie gemäß ihren Gaben ausbilden segnen, bevollmächtigen und senden. Volker Gäckle schreibt dazu: „Wir brauchen … eine breite theologische Qualifizierung und Ausbildungskultur von Ehrenamtlichen.“[14] Und ich möchte ergänzen: Wir brauchen dazu natürlich auch eine konkrete Perspektive, wie diese Ehrenamtlichen dann auch Verantwortung übernehmen können in den Gemeinden. Denn warum sollten sie sich sonst ausbilden lassen? Es wird für die Kirche eine Überlebensfrage sein, ob sie den Mut aufbringt, nicht länger Universitätsstudium, Amt und Hierarchie höher zu werten als die Hingabe an Christus und als die Gaben und Berufungen, die der Heilige Geist frei den Menschen zuteilt, denen er sie zuteilen will.

9. Fokus Gebet: An Gottes Segen ist alles gelegen!

„Wenn ihr in mir bleibt und wenn meine Worte in euch bleiben, dann könnt ihr bitten, um was ihr wollt: Ihr werdet es bekommen.“ (V. 7)

Was für ein unglaubliches Versprechen! Es sind Verheißungen wie diese, die Christen zu allen Zeiten ins Gebet getrieben haben. Denn sie haben gewusst und gespürt: Das Wachstum der Kirche ist nicht machbar. Es ist immer ein Wunder, wenn Menschen zum lebendigen Glauben finden. Es ist immer ein Wirken des Heiligen Geistes, wenn es geistliche Aufbrüche gibt, wenn Gemeinde und Kirche wächst und wenn Menschen anfangen, Jesus nachzufolgen. Die Frage ist: Ist uns das bewusst, dass an Gottes Segen alles gelegen ist? Und wenn uns das bewusst ist: Warum beten wir dann so wenig?

Von Martin Luther ist uns der Satz überliefert: „Heute habe ich viel zu tun, deswegen muss ich viel beten.“ Ihm war noch bewusst: Die Arbeit am Haus Gottes ist umsonst, wenn wir sie in eigener Kraft tun. Ohne Gottes Segen bemühen wir uns vergeblich. Deshalb galt zu allen Zeiten: Wo Kirche wächst, da findet man immer auch Christen, die sich Zeit nehmen für das Gebet. Wo Christen auf ihren Knien sind, da fängt die Kirche an, aufzustehen, zu wachsen und zu gedeihen.

Ergänzend zu den neun Thesen lässt sich nun aus den Worten Jesu noch ein wichtiger, ergänzender Hinweis ableiten:

9,5. Es ist dringend! JETZT ist die Zeit der mutigen Pioniere!

„Wer nicht mit mir verbunden bleibt, wird weggeworfen und verdorrt wie eine nutzlose Rebe. Solche Reben sammelt man nur noch auf, um sie zu verbrennen.“ (V. 6)

Immer wieder hört man die These: Die Kirche kann nicht untergehen. Denn Jesus hat doch fest versprochen: Die Pforte der Hölle werden sie nicht überwinden (Mt. 16, 18). Das stimmt. Aber das gilt natürlich nur für die Kirche Jesu insgesamt. Für eine bestimmte Institution, Denomination oder Konfession hingegen gibt es keine Bestandsgarantie. Das hat die Kirchengeschichte wieder und wieder gezeigt. Es ist also angebracht, sich ernste Sorgen um das Überleben der evangelischen Kirche zu machen.

Die Kirchengeschichte hat jedoch auch gezeigt: Neue Aufbrüche sind möglich, wo Menschen sich vom Heiligen Geist anzünden und sich von Gottes Wort prägen und leiten lassen. Unser Gott ist immer noch derselbe wie zur Zeit Martin Luthers. Gott kann auch heute wieder die Kirche erneuern. Und die dramatische Mitgliederentwicklung sollte uns deutlich machen: Viel Zeit bleibt nicht mehr. Wir müssen JETZT mutige Schritte der Erneuerung gehen, wenn die Kirche eine Zukunft haben soll.

Das gilt umso mehr, da die hier vorgestellten Thesen ja nicht neu sind. In seiner Schrift „Pia desideria“ hat Philipp Jacob Spener bereits im Jahr 1675 viele dieser Thesen vertreten[15]: Das Priestertum aller Gläubigen. Die praxisnahe Reform der Ausbildung zukünftiger Gemeindeleiter. Die Förderung des Bibelstudiums aller Gläubigen. Die Notwendigkeit der praktischen Umsetzung von Gottes Wort und Gebot. Die Zentralität der Liebe Gottes. Alles das hat Spener auch im 17. Jahrhundert der Kirche schon ins Stammbuch geschrieben. Und er war ein Mann der Praxis. Er hat nicht gewartet, bis die Kirchenpolitik ihn verstanden hat. Er hat einfach angefangen, mit den Menschen die Bibel zu studieren, zu beten und über die geistliche Praxis zu sprechen. Die Folge waren diese wunderbaren geistlichen Aufbrüche, die wir heute als Pietismus bezeichnen und von denen wir bis heute profitieren.

Aber es ist leider nicht alles praktisch geworden, was Spener sich gewünscht hat. Manches ist auch liegen geblieben. Vor allem die grundlegende Reform der Ausbildung der Gemeindeleiter steht bis heute aus. Das konnte sich die Kirche ja auch lange Zeit leisten. Denn egal, ob ein Pfarrer begabt war oder nicht, ob er ein hingebungsvoller Jesusliebhaber war oder nicht, das System hat trotzdem funktioniert. Aber diese Zeit ist jetzt vorbei. Unsere Kirche stirbt, wenn sie nicht ganz neu lernt, fruchtbar zu sein.

Wir müssen uns der Tatsache stellen: Wenn die Kirche vor allem versucht, an den volkskirchlichen Strukturen festzuhalten, dann muss sie sich um ihre Zukunft keine Sorgen machen. Dann hat sie keine. Aber wenn wir uns an Jesus, den Herrn der Kirche halten, wenn wir uns tief in ihm, in seinem Wort und Gebot verwurzeln, dann hat auch die evangelische Kirche ihre beste Zeit noch vor sich. Und genau das wünsche ich mir! Nicht nur wegen unserer Kirche, sondern auch für unser Land, das so dringend das Salz und Licht einer lebendigen Kirche braucht. Und vor allem für die vielen Menschen, die so dringend das rettende Evangelium hören müssen.

Und deshalb gilt: Jetzt ist die Zeit, mutig die Strukturen der Kirche so zu ändern, dass sie zu einer Freiwilligenkirche passen und dass sie wieder fruchtbar wird. Jetzt ist die Zeit, sich neu in der Liebe Christi und in seinem Wort zu verwurzeln. Jetzt ist die Zeit, Gottes Wort und Gebot wieder hochzuhalten. Jetzt ist die Zeit für mutige Pioniere, das Evangelium zu verbreiten und Gemeinden mit Profil zu bauen, egal ob sie Theologen oder sogenannte Laien sind. Und: Jetzt ist die Zeit, Gott zu suchen im Gebet, damit er das tut, was er verheißen hat: Dass wir hingehen und Frucht bringen. Frucht die Gott Ehre macht. Frucht, die in Ewigkeit bleibt.


[1] In: LG-Magazin 3 2023, S. 10

[2] Johannes 15, 1-10 in der Neuen evangelistischen Übersetzung: „1 Ich bin der wahre Weinstock und mein Vater ist der Weingärtner. 2 Jede Rebe an mir, die keine Frucht bringt, schneidet er weg, und jede, die Frucht bringt, schneidet er zurück und reinigt sie so, damit sie noch mehr Frucht bringt. 3 Ihr allerdings seid schon rein, weil ihr mein Wort gehört und angenommen habt. 4 Bleibt in mir, und ich bleibe in euch! Eine Rebe kann nicht aus sich selbst heraus Frucht bringen; sie muss am Weinstock bleiben. Auch ihr könnt keine Frucht bringen, wenn ihr nicht mit mir verbunden bleibt. 5 Ich bin der Weinstock; ihr seid die Reben. Wer in mir bleibt und ich in ihm, der bringt reichlich Frucht. Denn getrennt von mir könnt ihr gar nichts bewirken. 6 Wer nicht mit mir verbunden bleibt, wird weggeworfen und verdorrt wie eine nutzlose Rebe. Solche Reben sammelt man nur noch auf, um sie zu verbrennen. 7 Wenn ihr in mir bleibt und wenn meine Worte in euch bleiben, dann könnt ihr bitten, um was ihr wollt: Ihr werdet es bekommen. 8 Die Herrlichkeit meines Vaters wird dadurch sichtbar, dass ihr viel Frucht bringt und euch so als meine Jünger erweist. 9 Ich habe euch genauso geliebt, wie der Vater mich geliebt hat. Bleibt in meiner Liebe! 10 Ihr bleibt darin, wenn ihr meinen Anweisungen folgt. Auch ich habe immer die Weisungen meines Vaters befolgt und bleibe in seiner Liebe.“

[3] „Das Ergebnis ist, dass die Landeskirchen pro Jahr zwischen 2,5 % und 4,6 % ihrer Mitglieder verlieren und der einzige Trend, der gegenwärtig wächst, ist, dass diese Prozentzahl von Jahr zu Jahr höher wird. Man braucht bei diesen Zahlen keinen Taschenrechner, um zu begreifen, dass die drohende Halbierung nicht erst 2060 eintritt, sondern je nach Landeskirche zwischen 2035 und 2040. Wenn das exponentielle Wachstum der Austrittszahlen andauern sollte, auch schon früher. Anders ausgedrückt: in 10 bis 17 Jahren! Und auch danach wird der Prozess nicht einfach aufhören.“ LG-Magazin 3 2023, S. 9

[4] In: Apologetikum, Kap. 39

[5] In: LG-Magazin 3 2023, S. 10

[6] In: LG-Magazin 3 2023, S. 10

[7] Aus dem Vortrag von Ulrich Parzany: „Jesus-Demenz in der Christenheit – eine tödliche Seuche“ gehalten am IX. Ökumenischen Bekenntniskongress der IKBG, 14.8.2022, Ev. Akademie Loccum

[8] Siehe dazu den AiGG-Artikel: „Das biblische Bibelverständnis“ im AiGG-Blog 10 2021

[9] Ausführlich erläutert im Vortrag von Markus Till: „Die Bibel: Was ist das eigentlich? Die Frage nach dem Bibelverständnis“ vom Juni 2023, Skript und Video unter blog.aigg.de/?p=6707

[10] „Ubi est verbum, ibi est ecclesia“ (Wo das Wort ist, da ist Kirche). In: WA 39 II, 176, 8f Promotionsdisputation von Johannes Macchabäus Scotus, 1542.

[11] „Stellungnahme des Rates der EKD zur Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen eine Regelung zum

Schwangerschaftsabbruch außerhalb des Strafgesetzbuchs möglich ist“ vom 11.10.2023, S. 7

[12] Aus N.T. Wright: „Warum Christsein Sinn macht“, 2009 Johannis bei SCM Hänssler, S. 231

[13] In Thorsten Dietz: „Menschen mit Mission“, 2022, SCM R. Brockhaus, S. 92

[14] In: LG-Magazin 3 2023, S. 10

[15] Siehe dazu der offen.bar-Vortrag vom 4.10.2023 von Albrecht Wandel „Was die Kirche jetzt braucht – Von den Pietisten lernen“: https://youtu.be/az6yWXPYX1M

4 aktuelle christliche Megatrends

Nichts ist so beständig wie der Wandel. Das war schon dem griechischen Philosoph Heraklit bewusst. Das Tempo des Wandels scheint sich aber ständig zu steigern. Das gilt nicht nur für technische oder gesellschaftliche Entwicklungen, sondern auch für den Zustand der Kirche Jesu in unserem Land. Dieser Artikel beleuchtet vier bedeutende aktuelle Trends im christlichen Umfeld. Und er will zeigen: Neben allen Herausforderungen bergen sie auch große Chancen!

Vier Milieus im frommen Umfeld

Wenn die Öffentlichkeit auf das Christentum in Deutschland schaut, hat sie zumeist die beiden großen Kirchen im Blick. Deren dramatischer Abwärtstrend ist hinlänglich bekannt. Kaum wahrgenommen werden hingegen die Trends im kirchlich-pietistischen, freikirchlichen und allianzevangelikalen Umfeld, obwohl dieser Bereich vor allem in Bezug auf die Gottesdienstbesucherzahlen längst mindestens ebenso bedeutsam ist.[1] Man kann diese „Szene“ grob vereinfacht in vier verschiedene Milieus unterteilen:

Die klassisch Evangelikalen (die sich im landeskirchlichen Umfeld oft auch als Pietisten bezeichnen) betonenden lebendigen Christus als Zentrum des Glaubens und der Kirche. Unaufgebbar ist für sie zugleich das Festhalten an der Bibel als „unfehlbares“[2] Wort Gottes und an den zentralen Bekenntnissen der Christenheit. Der stellvertretende Opfertod Jesu am Kreuz steht für sie im Zentrum des Evangeliums. Und im ethischen Bereich sind sie auf der Basis des biblischen Zeugnisses weithin überzeugt: Gott segnet praktizierte Sexualität nur im Rahmen einer Ehe von einem Mann und einer Frau.

Postevangelikale und Progressive hingegenhalten das evangelikale Festhalten an der Heiligen Schrift als göttliches Offenbarungsdokument für prämodern und fundamentalistisch. Das stellvertretende Sühneopfer gilt für sie bestenfalls als eine von mehreren Deutungsmöglichkeiten des Kreuzestodes Jesu. Und die evangelikale Ablehnung der Trauung gleichgeschlechtlicher Paare empfinden sie als lieblos und diskriminierend, teilweise gar als unerträglich.

Das pragmatische Milieu ist bemüht, derartige Differenzen zu überbrücken durch eine eher untheologische und pragmatische Herangehensweise. Die Themen in diesem Milieu sind vorwiegend seelsorgerlicher und erbaulicher Natur. Verbindend ist für sie „das Evangelium“, der lebendige Christus (statt eines toten Dogmas) sowie die gemeinsame praktische Arbeit für Gemeindebau, Mission und Evangelisation. Bekenntnisse werden eher als ausgrenzend und spaltend empfunden. Theologische Fragen nach dem Bibel- und Kreuzesverständnis sowie nach der Sexualethik betreffen für sie nicht den Kern des Glaubens und können daher unterschiedlich gesehen werden.

Ganz im Gegensatz dazu sind für Konfessionalisten bestimmte theologische Spezialitäten so unaufgebbar wichtig, dass sie konfessionsübergreifenden Einheitsbemühungen insgesamt eher skeptisch bis ablehnend gegenüberstehen.

Diese vier Milieus gibt es schon seit längerem. Doch mit wachsendem Tempo finden Verschiebungen statt. Aktuell lassen sich vier bedeutende Trends beobachten:

1. Trend: Der Verlust der Selbstverständlichkeiten

Der eher untheologische Kurs des pragmatischen Milieus hat lange Zeit gut funktioniert. Die Pragmatiker konnten für sich in Anspruch nehmen, Brückenbauer zu sein und zugleich ganz praktisch die Verbreitung des Evangeliums voranzubringen, statt sich in theologischen Debatten aufzureiben. Möglich war dieser untheologische Pragmatismus aber nur, weil die evangelikalen und pietistischen Wurzeln einige „Selbstverständlichkeiten“ hinterlassen haben, die man miteinander feiern konnte, ohne sie vertieft besprechen und inhaltlich beleuchten zu müssen. Vor allem das „Evangelium“ mit Jesus Christus im Zentrum galt als selbstverständliche Mitte, die alle Christen verbindet und ihnen hilft, Differenzen fröhlich auszuhalten.

Aber spätestens seit der Corona-Krise orientieren sich die Menschen zunehmend selbständig im Internet. Dabei stoßen sie auch in Bezug auf die allerzentralsten Glaubensfragen auf die unterschiedlichsten Quellen mit sehr verschiedenen, oft gegensätzlichen Inhalten. Seither gilt zunehmend: Es ist nichts mehr selbstverständlich. Auch im pietistisch-evangelikalen Umfeld wird die ausufernde theologische Pluralität immer mehr zur Belastung.[3] Bestimmte Begriffe wie „Gottes Wort“, „Christus“ oder „Evangelium“ sind zwar noch weit verbreitet. Aber wenn man genauer hinschaut, merkt man: Es sind oft nur noch Begriffshülsen, die vollkommen unterschiedlich oder sogar gegensätzlich gefüllt werden – und deshalb ihre verbindende Kraft verlieren.

2. Trend: Progressive und Postevangelikale werden „liberaler“ und „missionarischer“

Es ist erst drei Jahre her, als das Buch „Homosexualität und christlicher Glaube“ erschien. Der Chefarzt der christlichen Klinik Hohe Mark Martin Grabe legte darin seine progressiven sexualethischen Positionen dar. Im Zuge dieser Veröffentlichung bekannten sich gleich mehrere postevangelikale Persönlichkeiten öffentlich dazu, dass sie die klassisch evangelikalen Positionen in Bereich der Sexualethik verlassen haben.

Seither hat sich die Situation dramatisch verändert. Die einstige postevangelikale Zurückhaltung in sexualethischen Fragen hat sich in kürzester Zeit in eine enorme missionarische Dynamik verwandelt. Fast pausenlos erscheinen neue Vorträge, Bücher, Artikel und Podcasts mit dem Ziel, die im landeskirchlichen Umfeld längst vorherrschende progressive Sexualethik auch im freikirchlichen und allianzevangelikalen Umfeld voranzutreiben. Dabei wird das Bild erzeugt: Es sei nur eine Frage der Zeit, bis die alten Positionen überwunden sind und man sich an diesen Konflikt nur noch so kopfschüttelnd erinnere wie an frühere Auseinandersetzungen um die Sklaverei und das Patriarchat. Zudem wird betont: Die Zukunft der Kirche Jesu hänge daran, dass dieser Wandel rasch vollzogen wird. Wer weiterhin die klassischen Positionen vertritt, wird als lieblos, diskriminierend oder gar als „fundamentalistischer Hetzer“ dargestellt, der jedenfalls nicht die Liebe und Gnade Jesu repräsentiert und deshalb dringend umkehren müsse.

Der Wandel betrifft aber nicht nur die Sexualethik. Lange Zeit war es ein aufwändiges Unterfangen, die Differenzen zwischen evangelikaler und postevangelikaler Theologie für jedermann deutlich sichtbar zu machen. Viele Postevangelikale hatten sich bemüht, ihre Theologie in Formulierungen zu kleiden, denen sich auch Evangelikale anschließen können. Das ist heute immer weniger der Fall. Bekannte postevangelikale Vertreter scheuen sich nicht, ihre „liberalen“[4] Positionen sehr offen anzusprechen. Sie bekunden öffentlich ihre Sympathien für Theologen wie Eugen Drewermann, Dorothee Sölle oder Paul Tillich und werben für solche Theologie. Sie unterstützen den stark politisierten Kurs der EKD. Die Distanz zwischen Postevangelikalen und Evangelikalen ähnelt damit zunehmend dem tiefen Graben, der sich im letzten Jahrhundert zwischen der universitären Theologie und den Evangelikalen auftat und der letztlich zum Aufbau vieler evangelikaler (Parallel-)Strukturen und Organisationen führte.

3. Trend: Mehr Theologie, Apologetik und Vernetzung unter Evangelikalen

Der Verlust der Selbstverständlichkeiten sowie die wachsende „missionarische Dynamik“ der Progressiven löst im Umfeld der klassisch Evangelikalen zwei Konsequenzen aus:

Zum einen ist unübersehbar: Immer mehr Leiter im evangelikalen Umfeld bemerken, dass die tragenden und verbindenden theologischen Grundlagen verschwimmen oder „dekonstruiert“ werden. Und sie verstehen: Die Strategie, über strittige Themen einfach den Mantel des Schweigens zu breiten, funktioniert nicht mehr. Wer das versucht, überlässt nur kampflos das Feld den immer „missionarischeren“ progressiven Kräften – mit der Konsequenz, dass das eigene Werk, die Gemeinde oder Gemeinschaft von immer heftigeren Gegensätzen gelähmt oder gar zerrissen wird. Die wachsende Zahl an apologetischen Initiativen (wie z.B. offen.bar, Daniel-Option, Bibelfit oder die Apologetikinitiative) ist auch eine Folge dieser wachsenden Verunsicherung und des steigenden Bedarfs nach Orientierung.

Aber auch immer mehr Pastoren und Leitungsgremien beschäftigen sich mit dem Phänomen der „Dekonstruktion“ und fangen an, sich bei den umkämpften Themen zu positionieren und über zentrale theologische Grundlagen zu lehren. Kurz gesagt: Die Evangelikalen werden wieder theologischer – und dadurch auch sprachfähiger in Bezug auf die Grundlagen ihres Glaubens. Sie lernen wieder mehr, ihre grundlegenden und verbindenden Glaubensschätze zu begründen und offensiv zu vertreten – auch gegen Widerspruch aus den eigenen Reihen. Diese Fähigkeit hat bereits die frühen Kirchenväter ausgezeichnet. Sie war ein wichtiges Element der Reformation. Sie erlebt in unseren Tagen eine Renaissance.

Und noch eine zweite Konsequenz fällt auf: Immer mehr Christen spüren, dass man einander braucht, wenn man prägend wirksam sein möchte. Die Einflüsse von progressiven und postevangelikalen Formaten und Publikationen wirken grenzüberschreitend hinein in alle Gruppen, Bünde und Werke. Dagegen kommt man als Einzelner kaum an. Deshalb wächst die Bereitschaft, zumindest punktuell die eigenen Spezialitäten zurückzustellen. Überkonfessionelle Netzwerke werden gestärkt. Und auch neue Verbindungen und Netzwerke entstehen. Das erlebe ich gerade live vor meinen Augen.

4. Trend: Die Pragmatischen in der Zerreißprobe

Alle diese Trends haben zur Folge, dass die Strategie des pragmatischen Milieus in immer schwierigeres Fahrwasser gerät. Der Verlust der Selbstverständlichkeiten, die zunehmende „missionarische“ Aktivität der Progressiven sowie die wachsenden apologetischen Anstrengungen von Evangelikalen führt das pragmatische Milieu zwangsläufig immer mehr in die Zerreißprobe. Wohin das führen kann, haben die schweren Konflikte und die Spaltung unter den weltweiten Methodisten sowie die historische Spaltung der Anglikaner bereits gezeigt. Die Signale mehren sich, dass wir in den kommenden Jahren mit ähnlichen Entwicklungen auch in Deutschland rechnen müssen.

Dieser Trend ist vor allem für solche Bünde und Werke ein Problem, die bislang versucht haben, Evangelikale und Postevangelikale durch einen pragmatischen Kurs gleichermaßen zu umwerben und einzubinden. Denn zunehmend führen Brückenbauversuche in die eine Richtung gleichzeitig zum Vertrauensverlust in die andere Richtung – und umgekehrt.

Der Kampf um die Deutungshoheit: Wo ist die Mitte der Evangelikalen?

Als Autor kenne ich dieses Phänomen: Um die eigene Position als gesund und ausgewogen darzustellen, grenzt man sich gerne von Randpositionen auf beiden Seiten ab und stellt sich selbst als die ausgewogene Mitte dar. Aber wo ist eigentlich die gesunde und ausgewogene Mitte der evangelikalen Bewegung? In welchem Milieu ist sie am ehesten zu finden?

Die Deutungshoheit zu dieser Frage ist heftig umkämpft. Deutlich wurde mir das in den letzten Jahren vor allem am Umgang mit dem Netzwerk Bibel und Bekenntnis und den beiden Leitern Ulrich Parzany und Rolf Hille. Ohne Frage waren diese beiden Männer zentrale Protagonisten des evangelikalen Aufbruchs in Deutschland in den letzten Jahrzehnten. Kaum jemand hat so viel für Einheit, gemeinsame Evangelisation und Mission getan wie diese beiden. Nicht wenigen „Frommen“ waren sie im letzten Jahrhundert noch eher zu links und zu „offen“ gewesen. Umso erstaunlicher ist es, dass ihr Netzwerk heute oft als der „rechte Rand“ der Evangelikalen dargestellt wird, das eher spaltend statt verbindend wirke. Haben sich diese beiden Männer denn wirklich so verändert?

Ich hatte in den letzten Jahren das Vorrecht, Ulrich Parzany und Rolf Hille aus nächster Nähe persönlich kennen lernen zu dürfen. Ihr tiefer persönlicher Glaube, ihr Humor, ihre Liebe zu den Menschen, ihre ehrliche Sorge um die Kirche Jesu hat mich tief beeindruckt. So manche prominente Christen verlieren eher, wenn man ihnen näherkommt. Bei Rolf Hille und Ulrich Parzany ging es mir genau umgekehrt. Sie wurden für mich mehr denn je zu großen Vorbildern im Glauben.

Deshalb sage ich es mit aller Entschiedenheit: Nein, diese Männer haben sich nicht verändert. Sie stehen bis heute unverändert für dieses klassisch evangelikale Christentum mit großem Vertrauen in die Bibel als Heilige Schrift, mit klarem Fokus auf Jesus Christus und mit einem weiten Herzen für die Vielfalt an (Aus-)Prägungen von Jesusnachfolge in Landes- und Freikirchen. Der Umgang mit ihnen und ihrem Netzwerk beweist vielmehr, wie sehr sich die Position vieler Meinungsmacher im allianzevangelikalen Umfeld zwischenzeitlich verschoben hat. Es war und ist gerade auch das pragmatische Milieu, das Stimmen wie Hille und Parzany heute als störend empfindet, weil sie sich dafür einsetzen, Kurs zu halten und klassisch evangelikale Grundüberzeugungen nicht aufzugeben.

Aber die hier dargestellten Trends zeigen: Diese Situation verändert sich. Die klassisch evangelikale Bewegung, die im letzten Jahrhundert durch Leiter wie Billy Graham, John Stott, Francis Schaeffer und in Deutschland durch Ulrich Parzany, Rolf Hille und andere geprägt wurden, wird gerade jetzt wieder neu gestärkt. Das Bewusstsein wächst, auf welchen Grundlagen diese Bewegung entstanden ist und woran sie festhalten muss, um auch in Zukunft fruchtbar zu bleiben. Diese evangelikale Bewegung ist laut Thorsten Dietz „entgegen allen Erwartungen“ im letzten halben Jahrhundert dynamischer gewachsen ist als jede andere religiöse Gruppe[5]. Es mag sein, dass sie zukünftig noch weniger Wert auf die Bezeichnung „evangelikal“ legt, denn sie will ja letztlich nichts anderes sein als die heutige Konkretion des historisch-„orthodoxen“[6] Christentums, das sich gründet auf die biblische Lehre der Apostel und Propheten. Aber unabhängig von diesem Begriff bin ich überzeugt: Diese Bewegung ist nicht am Ende. Sie steckt nicht in einer Sackgasse. Im Gegenteil: Sie hat ihre beste Zeit noch vor sich. Es ist mir ein Vorrecht, diese Entwicklung miterleben und mitgestalten zu dürfen.


[1] Siehe dazu z.B. die „Stuttgarter Gottesdienst- und Gemeindestudie“ des LIMRIS-Insituts von der Internationalen Hochschule Liebenzell, online unter: https://ihl.eu/wp-content/uploads/2022/09/ihl_limris_broschuere_03_DEF_compressed.pdf

[2] Der Begriff „unfehlbar“ muss genau wie der Begriff „irrtumslos“ genau definiert werden, damit er nicht zu Missverständnissen führt. Siehe dazu z.B. der AiGG-Artikel „Ist die Bibel unfehlbar?“ blog.aigg.de/?p=4212

[3] So beschrieb z.B. der Rektor der Internationalen Hochschule Liebenzell Prof. Volker Gäckle schon im Jahr 2018 die Situation in „pietistischen Gemeinden“ so: „Von gemäßigt liberalen bis hin zu fundamentalistischen Positionen, von radikal reformierten, extrem nüchternen und anticharismatischen bis zu intensiv-pentekostalen und leicht katholisierenden Frömmigkeitsformen kann einem auch in unseren Gemeinden heute alles begegnen.“ Diese Situation sei für Pastoren eine wachsende Belastung und trage zur Krise des Pastorenamts bei. In: „Evangelikale Ausbildungsstätten: Pastorenamt ist in einer Krise“, IDEA 30.11.2018, online unter www.idea.de/spektrum/evangelikale-ausbildungsstaetten-pastorenamt-ist-in-einer-krise 

[4] Der Begriff „liberal“ wird hier nicht im akademischen Sinne sondern als Sammelbegriff für nichtevangelikale Theologie verwendet.

[5] So schreibt Thorsten Dietz in seinem Buch „Menschen mit Mission“: „Warum handelt es sich bei den Evangelikalen heute um die weltweit zweitgrößte christliche Strömung nach dem Katholizismus? Niemand hätte sich das vor 50 oder 60 Jahren träumen lassen. Der Lausanner Kongress wurde in der deutschen Öffentlichkeit nur am Rande registriert. Die meisten (gerade auch in den Kirchen) waren sich sicher: Zukunft kann nur eine Christenheit haben, die sich für die Moderne öffnet, die das aufgeklärte Wahrheitsbewusstsein der Wissenschaften respektiert und eine politisch-gesellschaftliche Kraft für eine bessere Welt wird. Welche Zukunft sollten da schon Grüppchen haben, denen Evangelisation und Mission über alles geht, die im Zweifelsfall lieber der Bibel glauben als der historischen Forschung? Wer wird schon Ewiggestrige ernst nehmen, die sich radikal der sexuellen Liberalisierung der 1960er-Jahre verweigern? Aber entgegen allen Erwartungen ist keine religiöse Gruppe im letzten halben Jahrhundert dynamischer gewachsen als diese.“ (S. 92)

[6] Mit „orthodox“ ist hier nicht die konfessionelle orthodoxe Kirche gemein, sondern die „rechtgläubige“ Christenheit, die festhält an der Lehre der Apostel und Propheten und den zentralen christlichen Bekenntnissen.

Der traurige Niedergang meiner Kirche

Diesen Artikel schreibe ich mit traurigem Herzen. Ich liebe das reiche Erbe meiner evangelischen Kirche. Und ich liebe meine lokale evangelische Gemeinde, in der ich mit überaus wertvollen Geschwistern verbunden bin. Aber ich kann nicht schweigend darüber hinweggehen, was in meiner Kirche vor sich geht.

Dass die evangelische Kirche in Bezug auf ihre Mitgliederentwicklung förmlich implodiert, kann man jeden Tag in den Medien lesen. Persönlich halte ich die Prognose, dass die Mitgliederzahlen sich bis 2060 halbieren, für viel zu optimistisch. Es ist offenkundig, dass das Zerfallstempo zunimmt. Hinzu kommt: Schon jetzt gibt es eine Zweidrittelmehrheit in unserem Land, die sich für eine Abschaffung der Kirchensteuer ausspricht. Es wäre naiv zu glauben, dass diese Stimmung nicht irgendwann in entsprechende politische Entscheidungen mündet. Dann werden viele evangelische Gemeinden, die im Moment noch durch Kirchensteuermittel künstlich am Leben gehalten werden, ein schnelles Ende finden. Kürzlich habe ich von einer Stadt erfahren, in der die evangelische Kirche 52 Gebäude besitzt, von denen sie schon jetzt 39 abstoßen muss. Zugleich wird überall die Zahl der Pfarrstellen erheblich gekürzt.

All das wäre nicht weiter schlimm. Dass die sogenannte “Volkskirche” wieder zur Freiwilligenkirche wird, ist letztlich nur eine Rückkehr zur Normalität. So war die Kirche am Anfang der Christenheit. Und so ist sie es bis heute in den allermeisten Teilen der Welt. Die evangelische Kirche hätte trotzdem Zukunft, wenn sie das Engagement von gläubigen Laien erfolgreich fördern würde. Meine Erfahrung ist jedoch: Die Mächtigen der Kirche achten nach wie vor strikt auf das theologische Monopol von genau der universitären Theologie, wegen der heute kaum noch jemand weiß, was die Botschaft der Kirche eigentlich ist und worin ihr Daseinszweck besteht. So wird jeder geistliche Aufbruch im Keim erstickt.

Kulturchristentum, Esoterik und politischer Aktivismus

Neulich war ich bei einem Abendkonzert in einer Kirche. Die Menschen strömten. Aufgeführt wurde die Matthäus-Passion von Johann Sebastian Bach. Die Texte waren geprägt vom tiefen Glauben an das Evangelium vom stellvertretenden Sühneopfer. Am Ausgang stand ein großes Plakat. Es wollte den Besuchern 10 Gründe näherbringen, die für die Kirchenmitgliedschaft sprechen. Da war von Besinnung die Rede, von Solidarität, von Gemeinsamkeit, von Werten und von „kultureller Aufgeschlossenheit“. Was allerdings fehlte, war das Evangelium. Die Kirche wirbt für sich selbst statt für Jesus. Das klappt offenbar nicht besonders gut. Außer mir schien sich niemand für das Plakat zu interessieren.

Derweil wird auf „evangelisch.de“ Werbung für die okkulten Praktiken einer Hexe gemacht, scheinbar ohne dass irgendjemand protestiert. Und auf der EKD-Synode gibt es stehende Ovationen für eine säkulare „Klimaaktivist*in“ der sogenannten „Letzten Generation“. Auch die zahlreichen Gesetzesbrüche dieser Gruppierung sowie die Ablehnung durch weite Teile der Politik und der Bevölkerung hindern die EKD-Präses Anna-Nicole Heinrich nicht daran, sich weiterhin öffentlich mit dieser Gruppe zu solidarisieren. Dabei müsste eigentlich jeder wissen: Eine “Volkskirche”, die sich mit einer kleinen säkularen und radikalen Minderheit solidarisiert, ist zwangsläufig keine Volkskirche mehr. Kein Wunder, dass der EKD die Frommen ebenso weglaufen wie die ganz normalen Bürger, die diesen polarisierenden politischen Aktivismus nicht länger mit Kirchensteuern unterstützen wollen.

Taufe für alle: Ist das die Rettung?

Um dem Abwärtstrend entgegenzuwirken, treibt die Kirche jetzt eine Taufaktion voran. Unter dem Slogan „Viele Gründe, ein Segen, Deine Taufe“, schreibt die EKD:

„Du bist geliebt!“ Das ist Gottes Zusage an jedes Menschenkind. Die Taufe bestätigt das: Ob kleine Kinder getauft werden, Erwachsene oder Jugendliche vor der Konfirmation – durch die Taufe wird ihnen allen zugesprochen: Du gehörst zu Jesus Christus, Jesus Christus hat dich erlöst.“

Auf Plakaten und Bannern wird verkündet: “Weil Du ein Segen bist”, bist Du und Dein Kind eingeladen zur Taufe. Auf der zugehörigen Internetseite (www.deinetaufe.de) erschöpfen sich sämtliche Texte in bedingungslosem Zuspruch. Biblisch/Reformatorische Begriffe wie Umkehr, Jesusnachfolge, Schuld, Sünde, Vergebung (1. Petrus 3,21), Rettung oder Rechtfertigung sucht man vergeblich. Stattdessen wird konsequent das Bild erzeugt: Wer getauft ist, der ist und bleibt ein Kind Gottes. Dabei wird „Taufe“ im Grunde mit „Segen“ gleichgesetzt – so wie man ein Schiff “tauft”, damit es heil durch alle Gewässer kommt. Irgendwelche Vorbedingungen für eine Erwachsenentaufe? Die Notwendigkeit, dass nach einer Kindertaufe später der persönliche Glaube hinzukommen muss? Komplette Fehlanzeige.

Man muss kein Theologe sein, um zu wissen, dass eine solche „Taufrettungstheologie“ zentralen Aussagen des Neuen Testaments grundlegend widerspricht. Denn da heißt es ja: „Wer glaubt und sich taufen lässt, den wird Gott retten. Wer nicht glaubt, den wird Gott verurteilen.“ (Markus 16, 16) In Römer 10, 9 schreibt Paulus: „Wenn du also mit deinem Mund bekennst: »Jesus ist der Herr!« Und wenn du aus ganzem Herzen glaubst: »Gott hat ihn von den Toten auferweckt!« Dann wirst du gerettet werden.“ Die Bibel ist glasklar: Taufe ohne Jesusnachfolge rettet nicht.

Aber kann sie vielleicht die Kirche retten?

Eine weichgespülte Botschaft macht die Kirche nicht attraktiver

Alexander Garth beschreibt in seinem Buch „Untergehen oder umkehren“, warum der Versuch einfach nicht funktioniert, die Kirche durch Glättung ihrer Botschaft attraktiv zu machen:

„Das Resultat der Anpassung ist ein weichgespültes Evangelium und eine profillose Kirche. … Dennoch verstärkt sich der Trend zum Kirchenaustritt. Die Logik geht nicht auf. Der Nivellierungskurs führt zu einer Banalisierung des Glaubens. Kaum einer weiß noch, wofür die evangelische Kirche eigentlich steht – außer natürlich für das, wofür auch der gesellschaftliche Mainstream steht. Aber dafür braucht es keine Kirche. Wer in der Kirche auf Anpassung setzt, schafft sie ab.“

Tatsächlich entspricht es auch meiner Wahrnehmung, dass Christen wie Nichtchristen diese Taufinitiative eher als einen krampfhaften Versuch zur Gewinnung von Kirchensteuerzahlern empfinden. Das nagt nicht nur weiter an der Glaubwürdigkeit der Kirche (ich kenne Menschen, die genau wegen dieser Aktion jetzt aus der Kirche austreten). Wenig überraschend ist, dass zugleich die evangelistischen Bemühungen immer spärlicher werden. Was sollte auch die evangelistische Botschaft sein, wenn man doch zugleich mit aller Kraft das Bild vermittelt, dass jeder Getaufte von Gott angenommen, gesegnet und fest mit ihm verbunden ist und dass Christsein und Christwerden mit Umkehr, Sündenvergebung und praktischer Jesusnachfolge („Lehrt sie halten alles, was ich euch befohlen habe!“) nichts zu tun hat?

Schon Dietrich Bonhoeffer war deshalb der Meinung, dass es der Kirche nicht nutzt, sondern massiv schadet, wenn sie den Menschen Versöhnung mit Gott verspricht, ohne sie in die Nachfolge des Herrn Jesus Christus zu rufen:

Billige Gnade ist der Todfeind unserer Kirche. … Billige Gnade heißt Gnade als Schleuderware, verschleuderte Vergebung, verschleuderten Trost, verschleudertes Sakrament; Gnade als unerschöpfliche Vorratskammer der Kirche, aus der mit leichtfertigen Händen bedenkenlos und grenzenlos ausgeschüttet wird; Gnade ohne Preis, ohne Kosten. … Wer sie bejaht, der hat schon Vergebung seiner Sünden. … In dieser Kirche findet die Welt billige Bedeckung ihrer Sünden, die sie nicht bereut und von denen frei zu werden sie erst recht nicht wünscht. … Wie die Raben haben wir uns um den Leichnam der billi­gen Gnade gesammelt, von ihr empfingen wir das Gift, an dem die Nachfolge Jesu unter uns starb. … Sie hat uns den Weg zu Christus nicht geöffnet, sondern verschlossen. Sie hat uns nicht in die Nachfolge gerufen, sondern in Ungehorsam hart gemacht. … Der glimmende Docht wurde unbarmherzig ausgelöscht. Es war unbarmherzig, zu einem Menschen so zu reden, weil er, durch solches billiges Angebot verwirrt, seinen Weg verlassen musste, auf den ihn Christus rief, weil er nun nach der billigen Gnade griff, die ihm die Erkenntnis der teuren Gnade für immer versperrte. … Das Wort von der billigen Gnade hat mehr Christen zugrunde gerichtet als irgendein Gebot der Werke.

Das sind harte Worte. Und doch glaube ich: Wir müssen sie heute wieder hören. Wer glaubt, dass ich mit diesem Artikel jetzt auch zu diesen Leuten gehöre, die sich am Untergang der Kirche regelrecht zu freuen scheinen und die sich selbst wohl fühlen beim hämischen Kirchenbashing, der irrt sich. Ich leide unter dieser Situation. Und gerade deshalb halte ich es für wichtig, dass wir Frommen in der Kirche diese Missstände offen ansprechen. Ulrich Parzany schrieb vor nicht allzu langer Zeit: “Wer schweigt, fördert, was im Gange ist.“ Wir Frommen neigen dazu, um des lieben Friedens willen alles still zu ertragen. Aber ich glaube nicht, dass das immer eine Tugend ist. Allzuoft hat es auch mit Menschenfurcht oder mit persönlichen, vielleicht sogar finanziellen Abhängigkeiten zu tun. Die letzten Jahre haben gezeigt: Unser Schweigen hat es nicht besser gemacht, im Gegenteil: Es ist alles noch schlimmer geworden. Die Kirche steht mehr denn je am Abgrund. Und es wird mir ein ewiges Rätsel bleiben, warum in den Freikirchen und in der katholischen Kirche scheinbar so Viele der evangelischen Kirche auch noch nacheifern wollen.

Es gibt ein Fundament, auf dem die Kirche bestehen kann

Ohne Frage haben wir der evangelischen Kirche und dem Erbe eines Martin Luther und anderer Reformatoren unfassbar viel Gutes zu verdanken. Ich erlebe vor Ort, welch große missionarische Möglichkeiten es in dieser Kirche lange Zeit gab und mancherorts immer noch gibt. Ich kenne evangelische Gemeinden, die bis heute blühen, weil es immer noch Pfarrer und Laien gibt, die alles tun, um Menschen in Wort und Tat das Evangelium zu bringen und sie in die Nachfolge Jesu zu rufen. Aber gerade wegen diesen wundervollen Geschwistern bitte ich die Verantwortlichen meiner Kirche: Kehrt um. Besinnt euch auf das Erbe, auf dem diese Kirche gebaut ist:

Sola Scriptura: Allein die Schrift hat die höchste Autorität.

Sola Gratia: Allein durch Gnade werden wir gerettet.

Sola Fide: Allein durch Glauben findet man diese Gnade.

Solus Christus: Christus allein ist unser Herr, Retter und Erlöser.

Soli Deo Gloria: Gott allein gehört alle Ehre.

Ich weiß nicht, ob und wie lange es noch eine evangelische Kirche geben wird. Aber mein Trost und meine Hoffnung ist: Ihre Fundamente sind nicht vergessen. Im Gegenteil: Die Kirche Jesu, die auf diesen starken Fundamenten steht, ist vielerorts quicklebendig. Zu ihr gehören alle, die diesem Jesus folgen, wie die Schrift ihn uns bezeugt. Sie organisieren sich immer wieder neu und sie tragen die Fackel weiter. Diese Kirche Jesu wächst und gedeiht – weltweit und auch in Deutschland. Ihr gehört die Zukunft.

4 zentrale Herausforderungen der evangelikalen Bewegung

Wegweisende Worte von Francis A. Schaeffer

Der bekannte christliche Denker Francis A. Schaeffer hat im Jahr 1974 zum ersten Lausanner Kongress einen Text verfasst, der bis heute in beeindruckender Weise aktuell ist und nach wie vor die zentralen Herausforderungen beschreibt, vor denen die evangelikale Bewegung mehr denn je steht. Der nachfolgende Artikel enthält eine Übersetzung zentraler Aussagen (Überschriften und Hervorhebungen sind nachträglich hinzugefügt). Der vollständige Text ist im englischen Original nachlesbar unter https://lausanne.org/best-of-lausanne/francis-schaeffer-and-the-whole-pie bzw. https://lausanne.org/content/form-and-freedom-in-the-church.

Es ist unverzichtbar, an den zentralen Lehren des Christentums festzuhalten!

Es hat keinen Sinn, darüber zu reden, wie wir der Bedrohung der kommenden Zeit begegnen oder unsere Berufung inmitten des letzten Viertels des zwanzigsten Jahrhunderts erfüllen können, wenn wir uns nicht gegenseitig bewusst helfen, eine klare Lehrmeinung zu vertreten. Wir müssen den Mut haben, keine Kompromisse mit der liberalen Theologie … einzugehen. … Es gibt eine Wahrheit und wir müssen an dieser Wahrheit festhalten. Es wird Grenzbereiche geben, in denen wir untereinander Differenzen haben, aber in den zentralen Fragen darf es keine Kompromisse geben. … Wir müssen den Mut haben, eine klare Position zu beziehen. …

Wir dürfen gewiss nicht jede unserer sekundären Unterscheidungsmerkmale nehmen und sie zu einem Punkt erheben, an dem wir uns weigern, auf irgendeiner Ebene Gemeinschaft mit denen zu haben, die sie nicht vertreten. Es sind die zentralen Dinge des Wortes Gottes, die das Christentum zum Christentum machen. An ihnen müssen wir beharrlich festhalten … Aus Loyalität zu dem unendlich persönlichen Gott, der da ist und der in der Heiligen Schrift gesprochen hat, und aus Mitgefühl für unsere eigenen jungen Menschen und andere, wagen wir als Evangelikale keine halben Sachen in Bezug auf die Wahrheit oder die Praxis der Wahrheit zu machen. …

Wir können über Methoden reden, wir können uns gegenseitig ermutigen, wir können uns zu allen möglichen Aktionen aufrufen, aber wenn das nicht auf einer starken christlichen Grundlage im Bereich der Inhalte und der Praxis der Wahrheit beruht, bauen wir auf Sand und tragen zur Verwirrung unserer Zeit bei.

Wir müssen in der Lage sein, gute Antworten zu geben auf intellektuelle Anfragen an das Christentum!

Es ist nicht geistlicher, zu glauben, ohne Fragen zu stellen. Es ist nicht biblischer. Es ist weniger biblisch und wird letztendlich weniger geistlich sein, weil nicht der ganze Mensch einbezogen wird. Deshalb müssen wir in unserer Evangelisation, in unserer persönlichen Arbeit, in unserer Jugendarbeit, in unserem Dienst, wo immer wir sind, diejenigen von uns, die Prediger sind und predigen, diejenigen von uns, die Lehrer sind und lehren, und diejenigen von uns, die Evangelisten sind, absolut entschlossen sein, nicht in die Falle zu gehen und zu sagen oder zu implizieren: “Stellt keine Fragen, glaubt einfach.” Es muss der ganze Mensch sein, der begreift, dass das Evangelium Wahrheit ist, und der glaubt, weil er durch gute und ausreichende Gründe überzeugt ist, dass es Wahrheit ist.Das Christentum verlangt von uns, dass wir genug Mitgefühl haben, um die Fragen unserer Generation zu lernen.

Fragen zu beantworten ist harte Arbeit. Können Sie alle Fragen beantworten? Nein, aber Sie müssen es versuchen. Fangen Sie an, mitfühlend zuzuhören, fragen Sie, was die Fragen dieses Mannes wirklich sind, und versuchen Sie zu antworten. Und wenn Sie die Antwort nicht wissen, versuchen Sie, irgendwohin zu gehen oder zu lesen und zu studieren, um Antworten zu finden.

Antworten sind keine Erlösung. Erlösung bedeutet, sich zu verneigen und Gott als Schöpfer und Christus als Erlöser anzunehmen. Ich muss mich zweimal beugen, um ein Christ zu werden. Ich muss mich beugen und anerkennen, dass ich nicht autonom bin. Ich bin ein vom Schöpfer geschaffenes Geschöpf. Und ich muss mich beugen und anerkennen, dass ich ein schuldiger Sünder bin, der das vollendete Werk Christi zu meiner Erlösung braucht. Und es muss ein Wirken des Heiligen Geistes geben. Ich spreche jedoch von unserer Verantwortung, genug Mitgefühl zu haben, um zu beten und die harte Arbeit zu tun, die notwendig ist, um die ehrlichen Fragen zu beantworten.

Es stimmt nicht, dass jede intellektuelle Frage eine moralische Ausflucht ist. Es gibt ehrliche intellektuelle Fragen, und jemand muss in der Lage sein, sie zu beantworten. Vielleicht kann nicht jeder in Ihrer Kirche oder Ihrem Jugendverband diese Fragen beantworten, aber die Kirche sollte Männer und Frauen ausbilden, die das können. Auch unsere theologischen Seminare sollten sich dieser Aufgabe widmen. Das ist ein Teil dessen, worum es bei der christlichen Erziehung gehen sollte.

Wir sind nur glaubwürdig, wenn wir die Wahrheit auch praktisch leben!

Da wir einen starken Lehrinhalt haben, müssen wir … die Wahrheit, die wir zu glauben behaupten, praktizieren. Wir müssen unseren eigenen Kindern und der Welt, die uns beobachtet, zeigen, dass wir die Wahrheit ernst nehmen. In einem relativistischen Zeitalter reicht es nicht aus, zu sagen, dass wir an die Wahrheit glauben, während wir zugleich diese Wahrheit nicht dort praktizieren, wo sie beobachtet werden kann und wo sie etwas kostet.

Als Christen sagen wir, dass wir glauben, dass die Wahrheit existiert. Wir sagen, wir haben die Wahrheit aus der Bibel. Und wir sagen, dass wir diese Wahrheit anderen Menschen in aussagekräftiger, verbalisierter Form geben können und dass sie diese Wahrheit haben können. Das ist genau das, was das Evangelium behauptet, und das ist es, was wir behaupten. Aber wir sind von einem relativistischen Zeitalter umgeben. Glauben Sie auch nur einen Augenblick, dass wir glaubwürdig sind, wenn wir sagen, wir glauben an die Wahrheit, aber die Wahrheit in religiösen Dingen nicht praktizieren? Wenn wir das nicht tun, können wir nicht einen Moment lang erwarten, dass die hartgesottenen jungen Menschen des zwanzigsten Jahrhunderts, einschließlich unserer eigenen jungen Leute, uns ernst nehmen, wenn wir sagen: “Hier ist die Wahrheit”, wenn sie von einem völlig monolithischen Konsens umgeben sind, dass es die Wahrheit nicht gibt.

Das Ziel des Christentums ist nicht die Wiederholung von bloßen Sätzen.  Ohne die richtigen Sätze kann man nicht das bekommen, was daraus resultieren sollte. Aber wenn wir die richtigen Sätze haben, dann ist das Ziel, Gott mit ganzem Herzen, ganzer Seele und ganzem Verstand zu lieben. … Eine tote, hässliche Orthodoxie ohne echte geistliche Realität muss als unchristlich abgelehnt werden. … Es gibt in der ganzen Welt nichts Hässlicheres und nichts, was die Menschen von sich weist, als eine tote Orthodoxie.

Unser Zeugnis muss durch die Schönheit unseres Umgangs miteinander bestätigt werden!

Wahres Christentum bringt sowohl Schönheit als auch Wahrheit hervor, vor allem in den spezifischen Bereichen der menschlichen Beziehungen. Lesen Sie das Neue Testament aufmerksam in diesem Sinne. Beachten Sie, wie oft Jesus auf dieses Thema zurückkommt, wie oft Paulus davon spricht. Wir sollen der Welt, die uns beobachtet, etwas zeigen, und zwar auf der Grundlage der menschlichen Beziehungen, die wir zu anderen Menschen haben, nicht nur zu anderen Christen. Wenn wir nun dazu aufgerufen sind, unseren Nächsten wie uns selbst zu lieben, auch wenn er kein Christ ist, wie viel mehr – zehntausendmal zehntausendmal mehr – sollte es Schönheit in den Beziehungen zwischen wahren bibelgläubigen Christen geben!

Wir müssen unsere Eigenheiten bewahren. Einige von uns sind Baptisten, einige von uns halten an der Kindertaufe fest, einige von uns sind Lutheraner und so weiter. Aber den wahren bibelgläubigen Christen über alle Grenzen hinweg und in allen Lagern möchte ich sagen: Wenn wir keine Schönheit in der Art und Weise zeigen, wie wir miteinander umgehen, dann zerstören wir in den Augen der Welt und in den Augen unserer eigenen Kinder die Wahrheit, die wir verkünden.

Jedes große Unternehmen, das eine riesige Anlage bauen will, errichtet zunächst eine Pilotanlage, um zu zeigen, dass sein Plan funktioniert. Jede Kirche, jede Mission, jede christliche Schule, jede christliche Gruppe, egal in welchem Bereich, sollte eine Pilotanlage sein, auf die die Welt schauen kann und dort eine Schönheit menschlicher Beziehungen sehen kann, die in deutlichem Kontrast zu der schrecklichen Hässlichkeit dessen steht, was moderne Menschen in ihrer Kunst malen, was sie mit ihren Skulpturen machen, was sie in ihren Filmen zeigen und wie sie einander behandeln.

Warum war die frühe Kirche in der Lage, sich innerhalb eines Jahrhunderts vom Indus bis nach Spanien auszubreiten? Stellen Sie sich das vor: ein Jahrhundert, Indien bis Spanien! Wenn wir in der Apostelgeschichte und in den Briefen lesen, finden wir eine Kirche, die beide Orthodoxien (Lehre und Gemeinschaft) hatte und praktizierte, und dies wurde von der Welt beobachtet. So empfahlen sie der damaligen Welt das Evangelium, und der Heilige Geist wurde nicht betrübt.

Es gibt eine Überlieferung (die nicht in der Bibel steht), dass die Welt über die Christen in der frühen Kirche sagte: “Seht, wie sie einander lieben”. Wenn wir die Apostelgeschichte und die Briefe lesen, erkennen wir, dass diese frühen Christen wirklich um eine praktizierende Gemeinschaft gerungen haben. Wir erkennen, dass eines der Kennzeichen der frühen Kirche eine echte Gemeinschaft war, eine Gemeinschaft, die bis hinunter zur gegenseitigen Fürsorge für die materiellen Bedürfnisse reichte.

Vom Ringen um Einheit – Eindrücke vom Allianz-Symposium „Verbindende Glaubensschätze“

Drei extrem intensive Tage liegen hinter mir. Das lag nicht nur am Programm, das mit 17 Kurzvorträgen und diversen Diskussionsrunden mehr als vollgepackt war. Dazu kamen die Sitzungen der Vorbereitungsgruppe sowie viele spannende Gespräche mit überaus wertvollen Mitchristen (insgesamt waren fast 100 Leiter aus den verschiedensten Bereichen der evangelikalen Welt zusammengekommen). Die größte Herausforderung war für mich, dass eben auch eine gewisse Spannung in der Luft lag, die hier und da auch in offene Kontroversen mündete. Aber dazu später mehr.

Worum ging es bei diesem Symposium?

Die Überschrift machte es deutlich: Es ging um unsere „verbindenden Glaubensschätze” sowie um die aktuell immer drängender werdende Frage: “Wie gelingt Einheit in Vielfalt?“ Erläuternd war dazu im Programmablauf zu lesen:

„Die Zukunft der Allianzbewegung und die Gültigkeit ihrer theologischen Basis als gemeinsame Vertrauens-Plattform. Ziel: Glaubensgrundlagen stärken, Begegnung ermöglichen, Unterschiedliche Sorgen verstehen und ernst nehmen, das Miteinander stärken, gemeinsam Jesus-gemäße Wege in die Zukunft erkunden“

Ein absolutes Highlight des Symposiums waren für mich dabei die vielen großartigen Vorträge, die diese Fragestellung ausleuchteten. Noch nie wurde mir so deutlich, wie viel Potenzial wir in unseren evangelikalen Reihen haben: Kluge Denker. Kühne Evangelisten. Gründliche Theologen. Aufopferungsvolle Beter. Visionäre Gemeindebauer. Allesamt durchdrungen von spürbarer Liebe, Leidenschaft und Herzlichkeit. Das habe ich in dieser Dichte und Vielfalt noch nie erlebt.

Die Vorträge waren in 4 Blöcke eingeteilt:

Im 1. Block unter dem Titel „Die Herausforderung in den Blick nehmen“ ging es um eine Bestandsaufnahme der IST-Situation. Wie steht es um unsere „fromme Landschaft“ im landes- und freikirchlichen Bereich? Darüber sprachen Volker Gäckle, Alexander Garth und Ansgar Hörsting. Mein Vortrag befasste sich dazu mit der Frage: Wie gestaltet sich das Miteinander? Welche theologischen Spannungen gibt es und wie sollten wir darauf reagieren? Und welche Rolle spielen dabei die Bekenntnisse, insbesondere die Glaubensbasis der evangelischen Allianz?

Der 2. Block war überschrieben mit dem Titel „Der Blick zurück – Was lehrt uns die Geschichte?“ Prof. Roland Werner und Rainer Harter sprachen über die frühe Kirche: Welche Prinzipien haben sie zur Bewegung werden lassen? Wie gingen sie mit falschen Lehren um? Welche Rolle haben ethische Fragen gespielt? Welche Bedeutung hatten die Bekenntnisse? Rainer Harter machte deutlich: Das Nicäno-Konstantinopolitanum ist ein wunderschöner Glaubensschatz, der bis heute weltweit zahllose Kirchen miteinander verbindet. Ulrich Parzany blickte in seinem Vortrag auf den Aufbruch der Evangelikalen im 20. Jahrhundert zurück – eine beeindruckende Innenansicht, die zeigte: Viele äußere Erfolge waren auch hart umkämpft.

Im 3. Block ging es um die Kernfrage dieses Symposiums: „Einheit in Vielfalt – Was ist unser verbindender Kern?“ Die Vorträge von Johannes Röskamp, Martin P. Grünholz und Nicola Vollkommer-Sperry gaben dazu drei eindrückliche Antworten: Der Offenbarungscharakter der Bibel! Der stellvertretende Opfertod Jesu! Und die Leidenschaft für Jesus Christus, wie er uns in der Bibel offenbart wird! Aber genügt diese Übereinstimmung für echte Einheit? Ulrich Eggers wies in seinem Vortrag auf notwendige Herzenshaltungen hin, die für Einheit unverzichtbar sind.

Der 4. Block am Freitagabend unter dem Titel „Der Blick nach vorne: Was wir jetzt brauchen!“ war zunächst geprägt von einem beeindruckenden Vortrag von Dr. Fabian Grassl zur dringenden Notwendigkeit der (verlorenen) Kunst der Apologetik. In einem Podiumsgespräch wurde herausgearbeitet: Wir müssen die Kunst der theologischen Debatte wieder ganz neu lernen! Der Abend mündete in einen Aufruf zum Gebet um Erweckung und zum notwendigen Miteinander zwischen Betern, Bibel- und Bekenntnisleuten sowie Praktikern in Gemeinden und Werken.

Der 5. Block am Samstagmorgen war überschrieben mit dem Titel: „Einheit im Spannungsfeld“. Stephanus Schäl sprach konkret über „Einheit im Spannungsfeld zwischen Gesetzlichkeit und Beliebigkeit“. Armin Baum nahm sich des Themas an, das die ganze Zeit über immer wieder aufblitzte, weil es faktisch so oft im Zentrum der laufenden Auseinandersetzungen steht: Wie gelangt man von den biblischen Aussagen zur ethischen Praxis? Dirk Scheuermann, Reinhard Spincke und Gernot Elsner machten deutlich, dass alles notwendige theologische Ringen kein Selbstzweck ist, sondern am Ende zur missionarischen Praxis führen muss. Die äußerst ermutigenden Berichte aus der erwecklich gewachsenen Kirchengemeinde Nierenhof sowie von den missionarischen Einsätzen am Ballermann in Mallorca haben sicher bei vielen Symposiumsteilnehmern bleibenden Eindruck hinterlassen.

Die gesamte Playlist mit allen Vorträgen findet sich hier auf dem YouTube-Kanal der Evangelischen Allianz.

Und was war das Ergebnis?

Über der gesamten Veranstaltung schwebten letztlich 2 Grundfragen, die nach meiner Wahrnehmung wie große Elefanten im Raum standen. Die erste Frage hieß: Wie gehen wir um mit der Glaubensbasis der evangelischen Allianz? In meinem Vortrag hatte ich dazu Thorsten Dietz zitiert mit dem Satz: „Die Allianz ist eine ökumenische Bewegung, die gerade darum das gemeinsame Bekenntnis so knapp wie möglich formuliert hat.“ Damit hat er sicher recht. Aber wenn das so ist, dann heißt das eben auch: Wenn selbst diese wenigen, allerzentralsten Sätze hinterfragt, relativiert oder subjektiviert werden, dann driften wir eben nicht mehr nur bei Randfragen des Glaubens auseinander, sondern dann geht es wirklich ans Eingemachte, um den innersten, verbindenden Kern unseres Glaubens.

Umso mehr bin ich überaus dankbar dafür, dass die Vorbereitungsgruppe des Symposiums (Ekkehart Vetter, Reinhardt Schink, Ulrich Eggers und ich) zu dieser Frage eine klare Antwort fand, die wir auch gemeinsam öffentlich bekanntgaben:

„Als Vorbereitungsgruppe des Symposiums sind wir dankbar für unsere intensive Tagung, bekräftigen und feiern die theologische Basis der EAD und halten fest, wie wichtig persönliche Begegnung und vertrauensvolles Gespräch für die Erfüllung unseres Auftrags ist. Gemeinsam wünschen wir uns mitten in den drängenden Fragen und Nöten unserer Zeit einen Neuaufbruch unserer Gemeinden und Werke zu vermehrtem Gebet und missionarischem Christus-Zeugnis in Wort und Tat.“

Diese Aussage haben wir unterstrichen durch einen Bekenntnisakt am Ende des Symposiums, den Ekkehart Vetter in IDEA wie folgt beschrieb:

„Ich bin Jahrzehnte im Kontext von Evangelischer Allianz unterwegs, aber das Symposium, prall gefüllt mit 17 Kurzreferaten, Diskussion, Gebet, viel Begegnung bis tief in die Nacht, endete mit einem für mich anfangs nicht geplanten Novum: Das versammelte Plenum des Symposiums las, ja proklamierte die Glaubensbasis der EAD als gemeinsames Bekenntnis. Ein fast historischer Moment, der nach meinem Eindruck nicht ohne Folgen bleiben wird.“

Diese Worte kann ich nur dick unterstreichen. Ich bin deshalb auch sehr ermutigt aus diesem Symposium herausgegangen. Gleichwohl steht natürlich immer noch eine zweite große Frage im Raum: Wie gehen wir damit um, wenn in unserer Mitte der Glaubensbasis widersprochen wird? Sollten wir wieder neu lernen unsere Glaubensgrundlagen leidenschaftlich zu verteidigen? Oder sollten wir unsere theologische Position nur möglichst bescheiden vertreten oder gar ganz zurückstellen, um keine Spaltung zu verursachen? Diese wichtige Frage wurde zwar andiskutiert, aber sie ist nach meinem Empfinden nach wie vor unbeantwortet.

Das Überwinden von Klischees als erster Schritt?

Ich hoffe aber, dass das Symposium zumindest geholfen hat, ein paar Klischees zu überwinden, die das Gespräch zu dieser Frage bisher belastet haben. Oft wird ja behauptet, hier stünden sich 2 Lager gegenüber: Die einen hätten ihre Priorität auf Einheit, ihr Denken sei von Offenheit geprägt, sie lesen die Bibel von Jesus her, sie glauben einander den Glauben, sie sind lernbereit im Umgang mit anderen Christen, ihre Priorität ist Gemeindebau und Mission aus Liebe zu den Menschen und um dieser Prioritäten willen sind sie offen für neue Impulse und Entwicklungen. Diesem „offenen“ Lager stünden die sogenannten „Bekenntnisevangelikalen“ gegenüber, die die Priorität auf die Durchsetzung eigener Überzeugungen legen, deren Denken von Grenzen geprägt ist, die dem Buchstaben und ihrer persönlichen Bibelauslegung folgen, deren Priorität der theologische Streit ist, die neue Entwicklungen als angsteinflößende Gefahr für die rechte Lehre empfinden und sich kulturpessimistisch von der „Welt“ abkapseln.

Das Symposium hat hoffentlich gezeigt: Auch diejenigen, die dafür eintreten, dass wir unsere Glaubensgrundlagen hochhalten, begründen und verteidigen sollten, haben in vielen Fragen der Theologie und Prägung eine große Weite. Auch sie stellen Christus ins Zentrum. Es geht ihnen gerade nicht ums Rechthaben sondern um eine gesunde Grundlage für Einheit, Gemeindebau und Mission. Sie verstecken sich nicht hinter dogmatischen Mauern, sondern sie sind leidenschaftliche Beter, Gemeindebauer, Evangelisten und Missionare. Aber sie sehen eben im schwindenden Konsens zu den Kernfragen unseres Glaubens eine Hauptursache dafür, warum unsere Einheit und unsere missionarische Dynamik schwindet. Gerade um der Einheit und der Mission willen ringen sie um diese Themen. Das angebliche Gegeneinander von „Allianzevangelikalen“ und „Bekenntnisevangelikalen“ ist aus ihrer Sicht ein Mythos, denn: Allianzevangelikale waren doch schon immer zugleich auch Bekenntnisevangelikale. Mehr noch: Für das historische Christentum haben Bekenntnisse schon immer eine entscheidende Rolle gespielt. „Allianz“ und „Bekenntnis“ gehörte schon immer untrennbar zusammen. Wer die Bekenntnisse auflöst, untergräbt auch die Einheit. Die Bekenntnisse hochzuhalten und zum Leuchten zu bringen ist deshalb ein aktiver Dienst für unsere Einheit und das missionarische Miteinander.

Wie geht es weiter?

Vielleicht wird es ja möglich sein, auf einer klischeebereinigteren Grundlage die Gespräche auf einer breiteren Basis fortzusetzen. Das würde ich mir zumindest sehr wünschen. Die Vorträge des Symposiums könnten dafür eine solide Gesprächsgrundlage sein. Sie werden aktuell nachbearbeitet und in Kürze online gestellt. Ich empfehle dringend, am besten sämtliche Vorträge anzuschauen. Ich hoffe, dass zukünftig noch mehr Christen sich in diese so wichtige Debatte einbringen. Und lasst uns gemeinsam dafür beten, dass die Kirche Jesu insgesamt auf eine Spur findet, die zu wachsender Einheit und zu einem erwecklichen, missionarischen Aufbruch führt.

Macht – Die dreifache Versuchung für christliche Leiter

Die Bibel berichtet, dass Jesus sich vor dem Beginn seines öffentlichen Dienstes einer besonderen Prüfung unterziehen musste. Nach einer 40-tägigen Fastenzeit in der Wüste wurde er dreifach vom Teufel versucht (Matthäus 4, 1-11; siehe auch Lukas 4, 1-13). Diese kurze Geschichte ist vor allem für christliche Leiter von enormer und grundlegender Bedeutung. Denn die Strategien des „Versuchers“ (in der Bibel eine andere Bezeichnung für den Teufel) sind bis heute die gleichen geblieben:

1. Missbrauch der eigenen Macht

Als Jesus nach der langen Fastenzeit überaus hungrig war, machte ihm der Teufel einen verführerischen Vorschlag: „Wenn du der Sohn Gottes bist, befiehl doch, dass die Steine hier zu Brot werden!“ Keine Frage: Jesus hätte das gekonnt! Wer Wasser in Wein verwandeln kann, kann auch Steine in Brot verwandeln. Aber er wusste, dass er seine Macht nicht beliebig für die eigene Bedürfnisbefriedigung missbrauchen durfte.

Missbrauch der eigenen Macht ist bis heute eines der größten Probleme in unseren Gemeinden. Kirchen- und Gemeindeleiter missbrauchen ihre Macht, um ihre eigene Position und die eigenen Kirchen- und Gemeindestrukturen abzusichern. Wie viele Aufbrüche wurden abgewürgt, weil sie nicht die bestehenden Strukturen gestützt haben, sondern weil der neue Wein neue Schläuche gebraucht hätte? Wie viele Aufbrüche wurden bekämpft, weil sie den Wünschen der Mächtigen in Kirchen und Gemeinden widersprachen? Wie viele Gottesdienste und Gemeinden sind routiniert und kraftlos, weil Kirchen- und Gemeindeleiter ihre Macht missbrauchen, um Veränderung zu unterdrücken? Wie viel kraftvolles Gotteswort ist verloren gegangen, weil die Mächtigen in Kirchen und Gemeinden das Kanzelrecht aufgrund von Ämtern und Ausbildung vergeben statt aufgrund von Gabe und Berufung?

Jesus antwortet mit einem Schriftwort: „In der Heiligen Schrift steht: Der Mensch lebt nicht nur von Brot. Nein, vielmehr lebt er von jedem Wort, das aus dem Mund Gottes kommt.“ Wo geistliche Leiter nur ihre eigenen Brötchen backen, verhungern Kirchen und Gemeinden. Geistliches Leben entsteht dort, wo wir dem kraftvollen Wirken von Gottes Wort Raum geben, auch wenn wir die Wirkungen dieses Wortes nicht kontrollieren können.

2. Missbrauch der Nähe zur Macht Gottes

Im zweiten Anlauf versucht der Teufel, Jesus mit seiner Nähe zur Macht Gottes zu verführen: „Wenn du der Sohn Gottes bist, spring hinunter! Denn in der Heiligen Schrift steht: ›Er wird seinen Engeln befehlen: Auf ihren Händen sollen sie dich tragen, damit dein Fuß nicht an einen Stein stößt.‹“ Jesus war sich der Macht Gottes sicher bewusst. Gott sandte ihm immer wieder Engel, so auch am Ende dieser Geschichte in der Wüste. Und was wäre das für eine Show gewesen! Ein Mann, der vom Dach des Tempels springt und von Engeln aufgefangen wird, bräuchte nicht mehr mühsam um Respekt und Aufmerksamkeit kämpfen.

Auch heute noch ist die (gefühlte oder angemaßte) Nähe zur Macht Gottes eine gewaltige Versuchung für christliche Leiter. Ich denke an manche charismatische Frontleute, die eine emotional aufgeladene Atmosphäre, Wunder und Geistesgaben nutzen, um Aufmerksamkeit und Spendenaufkommen zu generieren. Ich denke an manche Christen, die vorschnell persönliche Meinungsäußerungen mit „So spricht der Herr“ oder „Die Bibel sagt“ unterlegen, um Widerspruch von vornherein auszuschließen. Ich denke an manche Kirchen- und Gemeindeleiter, die ihr Amt missbrauchen, um Dinge und Handlungen zu segnen, die Gott niemals segnen würde. Ich denke an manche Pfarrer, Pastoren und Prediger, die ihr Amt missbrauchen, indem sie wahllos jedem das Heil, den Segen und die Vergebung Gottes zusprechen, ohne zugleich über die Realität der Sünde und die Notwendigkeit zur Umkehr zu sprechen. Und ich frage mich, wie oft ich selbst schon in solche Fallen getappt bin.

Die Antwort Jesu ist klar: „Es steht aber auch in der Heiligen Schrift: ›Du sollst den Herrn, deinen Gott, nicht auf die Probe stellen!“ Gott vor den eigenen Karren zu spannen, hat immer katastrophale Folgen.

3. Missbrauch der Nähe zur weltlichen Macht

Im dritten Anlauf lenkt der Teufel den Blick Jesu auf die weltliche Macht: „Er zeigte ihm alle Königreiche der Welt in ihrer ganzen Herrlichkeit. Er sagte zu ihm: »Das alles will ich dir geben, wenn du dich vor mir niederwirfst und mich anbetest!«“ Damit ließ der Teufel Jesus spüren: In diesem Augenblick bist Du mit der zentralen Schaltstelle der weltlichen Macht in Verbindung. Ein kurzes Gebet – und die Macht gehört Dir! Du könntest sie für großartige Dinge einsetzen: Kriege beenden. Für soziale Gerechtigkeit sorgen. Übeltäter stoppen…

Ich sehe das überall in der kirchlichen Welt: Die Nähe zur politischen Macht und zu den intellektuellen Eliten ist überaus verführerisch. Da lohnt es sich doch scheinbar, das Evangelium ein wenig zeitgeistiger zu formulieren, um von Steuertöpfen profitieren zu können, um in den Medien Beifall zu bekommen, um in der akademischen Welt Anerkennung zu finden. Und es lohnt sich doch scheinbar, sich nicht mit der Kirchenleitung anzulegen, ganz egal, wie sehr sie sich auch verirrt. Wenn ich mich mit der Kirchenleitung gut stelle, dann darf ich vielleicht ein wenig mitreden. Dann kann ich vielleicht eher die eigenen Interessen einbringen. Dann bekommt meine Organisation vielleicht ein paar mehr Stellen und ein wenig mehr Geld aus den Kirchensteuer- bzw. Spendentöpfen. Und damit könnte man doch so großartige Dinge bewegen…

Auf solche Spielchen ließ Jesus sich nicht ansatzweise ein: „Da sagte Jesus zu ihm: »Weg mit dir, Satan! Denn in der Heiligen Schrift steht: ›Du sollst den Herrn, deinen Gott, anbeten und ihn allein verehren!‹« Daraufhin verließ ihn der Teufel. Und es kamen Engel und sorgten für ihn.“ Die Grundlage für den Dienst Jesu lag darin, all diesen Versuchungen zur Macht gründlich zu widerstehen. Stattdessen behielt er den Fokus auf Gottes Macht und Souveränität. Seine feste Verwurzelung in der Heiligen Schrift war dafür von entscheidender Bedeutung.

Wir müssen uns bewusst machen, wie verführbar wir sind

Die Botschaft dieser biblischen Episode ist drastisch: Wehe uns, wenn wir selbst die Macht in den Gemeinden und Kirchen übernehmen, statt Christus das Haupt der Kirche sein zu lassen. Wehe uns, wenn wir Gott für unsere eigenen Ziele missbrauchen. Wehe uns, wenn wir das Evangelium beschneiden, um von weltlicher oder kirchlicher Macht profitieren zu wollen. Ja, natürlich sollen wir unsere Talente und unseren Einfluss weise nutzen. Natürlich sollen wir Gottes Macht endlos viel zutrauen. Natürlich sollen Christen auch die Welt mitgestalten und dafür gerne auch politische Macht anstreben. Aber wir müssen uns dabei jederzeit unserer enormen Verführbarkeit bewusst sein. Wir müssen uns immer wieder klar machen: Die Versuchung zum Machtmissbrauch ist gigantisch. Das gilt besonders dann, wenn wir persönlichen Mangel erleben und gerade durch eine Wüstenzeit gehen.

Es gibt für uns nur einen Schutz: Die Anbetung Gottes. Die feste Verwurzelung in dem Vertrauen, dass ER uns versorgt und sein Werk in der Kirche Jesu und in der Welt tut, so dass wir ihm nicht mit eigenen Machtmitteln vorgreifen müssen. Und die feste Verwurzelung in der Heiligen Schrift. Dieser Fokus, dieses Vertrauen und diese Verwurzelung war die unverzichtbare Grundlage für den Dienst Jesu. Wir sollten nicht glauben, dass wir diesen Versuchungen entgehen können, wenn wir diesen Fokus und diese Verwurzelung nicht haben.

Es sollte uns in eine gesunde Unruhe versetzen, wenn wir sehen, wie viele geistliche Leiter in eine oder mehrere dieser Fallen getappt sind und dadurch schlimmen Schaden für sich selbst und für die Kirche Jesu verursacht haben. Immer wieder will ich mir deshalb bewusst machen: Ich bin nicht besser als sie! Ich bin genauso verführbar! Die Versuchung klopft genauso auch an meine Tür! Und ich habe selbst oft genug versagt. Ich brauche Gottes Gnade, das Aufschauen zu Jesus und die feste Verwurzelung in seinem Wort, um so wie Jesus bestehen zu können und dadurch bereit zu werden für einen gesegneten Dienst.

Evangelikale Bewegung – wohin?

Der Vortrag “Evangelikale Bewegung – wohin?” wurde am 24.09.2022 beim Arbeitskreis bekennender Christen in Bayern gehalten. Der Vortragstext kann hier auch als PDF heruntergeladen werden.

Die sogenannte evangelikale Bewegung bedeutet mir ungeheuer viel. Diese Bewegung ist meine geistliche Heimat. Seit ich denken kann liebe ich es, Teil dieser so ungeheuer vielfältigen Bewegung zu sein. Evangelikale findet man in Landes- und Freikirchen. Sie haben teils sehr unterschiedliche Prägungen, Frömmigkeitsstile und sehr verschiedene Überzeugungen zu durchaus wichtigen theologischen Fragen wie z.B. zur Kinder- und Erwachsenentaufe. Und trotzdem sammeln sie sich um Jesus Christus herum, um Bibel und Gebet, um das Evangelium, von dem sie gemeinsam der Überzeugung sind: Jeder Mensch soll es hören, dass Jesus lebt! Jesus ist für unsere Schuld gestorben! Wenn wir an ihn glauben, empfangen wir Vergebung und ewiges Leben. Dieser uralte Glaube, der seit 2000 Jahren um die Welt geht, fasziniert uns gemeinsam. Er tröstet und trägt uns. Er setzt unsere Herzen in Brand. Und er verbindet uns. Weil Jesus unser gemeinsamer Herr ist, sind wir gemeinsam auch Glieder an seinem Leib, auch wenn wir so verschieden sind.

Die Evangelikalen sind meine Familie

Evangelikale sind deshalb für mich mehr als nur eine interessante Bewegung. Sie sind für mich auch mehr als nur Gleichgesinnte. Sie sind Schwestern und Brüder! Geschwister sucht man sich manchmal nicht aus. Manchmal ärgert man sich über sie. Aber sie sind und sie bleiben trotzdem meine Geschwister. Ich fühle mich mit ihnen allen aufs herzlichste verbunden. Die Frage nach der Zukunft der evangelikalen Bewegung kann ich deshalb nicht wie ein nüchterner Dozent behandeln, der ein paar Fakten zusammengetragen hat. Ich bin ja ein zutiefst Beteiligter, der leidenschaftlich in dieses Thema involviert ist. Es geht hier um meine Familie! Die Liebe und Verbundenheit mit meinen evangelikalen Geschwistern prägt alle meine Gedanken, die mich zu dieser Frage umtreiben.

Unsere Gesellschaft braucht eine lebendige Jesusbewegung

Ein weiterer Grund, warum mich die Frage nach der Zukunft der Evangelikalen so umtreibt, ist meine Liebe zu den Menschen um mich herum und die Überzeugung: Was unsere Gesellschaft und unser Land dringender denn je braucht, ist eine lebendige, kraftvolle Jesusbewegung. Es braucht lebendige, christuszentrierte Gemeinden und Gemeinschaften, damit die Menschen um uns herum zu Jesus finden können und mit ihm das ewige Leben.

Zudem braucht es eine lebendige evangelikale Bewegung als Salz und Licht dieser Gesellschaft, die in immer turbulenteres Fahrwasser gerät, die immer polarisierter und orientierungsloser wird. Die Geschichte hat immer wieder gezeigt, dass kraftvolle christliche Bewegungen ganze Nationen prägen und verändern konnten. Denken wir nur an die Great Awakenings in Amerika. Denken wir an den Pietismus in Süddeutschland. Wer das „Buch der Mitte“ von Vishal Mangalwadi gelesen hat, der weiß: Letztlich hat die Bibel ganz Europa und die westliche Welt geprägt und überaus viel Segen gebracht. Deshalb bin ich überzeugt: Unser Land braucht heute mehr denn je dieses Salz und Licht einer lebendigen, kraftvollen Kirche Jesu, die auf dem Fundament der Bibel steht.

Was sind die Wurzeln der Evangelikalen?

Bevor wir uns der Frage stellen, wo es mit dieser evangelikalen Bewegung hingehen soll, sollten wir zunächst einmal genauer auf die Frage schauen: Was ist das eigentlich, die evangelikale Bewegung? Zu dieser Frage ist dieses Jahr ein interessantes Buch erschienen. In „Menschen mit Mission“ erläutert Prof. Thorsten Dietz, dass die Wurzeln der evangelikalen Bewegung äußerst bunt und vielfältig sind. Er nennt täuferische und freikirchliche Impulse, er nennt den Pietismus und den Methodismus, er weist auf pfingstliche und charismatische Aufbrüche hin. Und er sagt: Letztlich lassen sich die Spuren bis zur Reformation zurückverfolgen.

Für mich wird spätestens an dieser Stelle klar: Letztlich wollen wir Evangelikalen nichts anderes sein als die heutige Konkretion des historischen Christentums. Wir folgen von Herzen diesem Jesus von Nazareth, wie ihn die Bibel bezeugt. Die Lehre der Apostel und Propheten, die wir in der Bibel finden, soll für uns genau wie für die allerersten Christen Richtschnur und Maßstab sein. Der Heilige Geist, der seit Pfingsten in der Kirche Jesu wirkt, soll uns erfüllen.

Aber gerade im letzten Jahrhundert haben sich diese Strömungen stärker denn je formiert, um eine gemeinsame, stärker sichtbare Jesusbewegung zu bilden. Einige Organisationen haben sich gebildet, die evangelikale Frömmigkeit in besonderer Weise bündeln. Thorsten Dietz nennt dazu vor allem die Lausanner Bewegung und die Evangelische Allianz. Zudem sind viele evangelikal geprägte Gemeinden und Gemeinschaften entstanden. Und dazu wurden im 20. Jahrhundert eine Reihe von Verlagen, Medien, Ausbildungsstätten, Großveranstaltungen und noch einiges mehr gegründet.

Was verbindet die Evangelikalen?

Trotz all der Vielfalt evangelikaler Organisationen betont Thorsten Dietz zurecht: „Sie haben kein gemeinsames Lehramt. Sie haben keine liturgischen Traditionen, die sie verbinden.“ Und sie haben „keinerlei kirchliche Struktur.“ Umso erstaunlicher ist es, dass aus dieser bunten, unstrukturierten, führungslosen Menge an Gruppierungen eine gemeinsame Bewegung entstanden ist. Der britische Historiker David Bebbington hat 4 Merkmale identifiziert, die man trotz aller Vielfalt in sämtlichen evangelikalen Strömungen vorfinden kann:

  1. „Bekehrung“ meint die starke Betonung der Notwendigkeit einer persönlichen Hinwendung zu Jesus Christus.
  2. „Aktivismus“ meint: Nicht nur Priester oder Pastoren, sondern alle Gläubigen sind aufgerufen, sich zu engagieren, vor allem für Gemeindebau, Evangelisation und (Welt-)Mission.
  3. Was mit „Biblizismus“ gemeint ist, kann man am besten mit einer Passage aus der Glaubensbasis der Evangelischen Allianz in Deutschland erklären. Da heißt es: „Die Bibel, bestehend aus den Schriften des Alten und Neuen Testaments, ist Offenbarung des dreieinen Gottes. Sie ist von Gottes Geist eingegeben, zuverlässig und höchste Autorität in allen Fragen des Glaubens und der Lebensführung.“
  4. Auch die Bedeutung von „Kreuzeszentrierung“ kann man gut mit einer Passage aus der Glaubensbasis der Evangelischen Allianz zeigen: „Jesus Christus, der Mensch gewordene Sohn Gottes, ist stellvertretend für alle Menschen gestorben. Sein Opfertod allein ist die Grundlage für die Vergebung von Schuld, für die Befreiung von der Macht der Sünde und für den Freispruch in Gottes Gericht.“

Bebbington sagt: Diese 4 Punkte sind Grundüberzeugungen, die alle Evangelikalen einen, quer durch alle Gruppierungen hindurch. Das ist nicht viel. Das Band, das die Evangelikalen eint, ist dünn. Und doch war es stark genug, eine dynamische, weltweite Bewegung zu formen.

Steht die evangelikale Bewegung am Scheideweg?

Heute fragen sich allerdings Manche, ob diese Erfolgsgeschichte zu Ende geht. Es gibt Beobachter, die sagen: Es gibt Spaltungstendenzen unter den Evangelikalen. Ulrich Eggers hat dieses Problem in der Zeitschrift AUFATMEN wie folgt beschrieben: „Wir alle merken: Gemeinsam – das fällt in diesen Zeiten, in denen sich viele gewachsene Traditionen auflösen, selbst Einheits- oder Allianz-gewillten Christen zunehmend schwer! … Zunehmend zieht Misstrauen und Entfremdung ein, bedroht Einheit – und damit auch die gemeinsame Arbeitsplattform für missionarische Bewegung.“

Ich teile diese Beobachtung. Solange ich denken kann, war für mich die evangelische Allianz das, was Ulrich Eggers in diesem Artikel als eine „sichere Burg der Freunde” bezeichnet hat. Ich war mir einfach sicher: In den Allianz-Kreisen, da sind wir zwar bei vielen Themen sehr vielfältig. Aber im Kern, da sind wir eins. Wenn es um das Evangelium geht, da stehen wir zusammen. Dieses Evangelium können wir ganz selbstverständlich gemeinsam feiern, besingen und aller Welt bezeugen.

Aber genau diese Selbstverständlichkeit scheint gerade jetzt verloren zu gehen. Und die große Frage ist: Woran liegt das? Warum gelingt scheinbar plötzlich das nicht mehr, was doch so viele Jahre lang weitgehend gelungen ist? Natürlich kann man dafür schnell einige Gründe finden:

  • Christen nehmen Anteil an der wachsenden Polarisierung der Gesellschaft. Wir erleben das an den heißen Diskussionen auch unter Christen zu Themen wie Corona, zum Umgang mit Flüchtlingen im Mittelmeer oder zur Klimaproblematik. Befeuert werden die Differenzen durch die Echokammern und Filterblasen in den sozialen Medien.
  • Und dann ist da natürlich dieses große Thema Sexualethik und die Frage nach dem Umgang mit gleichgeschlechtlichen Paaren. Dieses Thema ist im Moment in der weltweiten Christenheit DER Spaltpilz. Und es wird auch bei evangelikal geprägten Christen immer mehr zum Streitpunkt.

Ohne Fragen sind diese Themen wirklich belastend für die Einheit in vielen Gemeinden, in Verbünden und christlichen Werken. Thorsten Dietz sieht jedoch noch einen tieferen Grund für die auseinanderlaufenden Tendenzen in der evangelikalen Welt. Im Verlauf seines fast 500 Seiten langen Buchs stellt Dietz die These auf, dass es zwei verschiedene Grundströmungen unter den Evangelikalen gibt, die sich zunehmend schwer miteinander tun: Die eine Gruppierung nennt Dietz die „Allianzevangelikalen“. Auf der anderen Seite identifiziert Thorsten Dietz eine Gruppe, die er als „Bekenntnisevangelikale“ bezeichnet. Auf den letzten beiden Seiten identifiziert Dietz diese beiden Gruppen mit konkreten Personen, die für zwei verschiedene Umgangsweisen mit der Pluralität in der evangelikalen Bewegung stehen. Er sagt:

  • Auf der einen Seite stehe Michael Diener, der ehemalige Präses des Evangelischen Gnadauer Gemeinschaftsverbands und ehemalige Vorsitzenden der Deutschen Evangelischen Allianz. Sein Vorschlag sei, mit Pluralität so umgehen, „dass die Evangelikalen, Pietisten etc. unterschiedliche moralische Überzeugungen aushalten und ihren gemeinsamen missionarischen Auftrag ins Zentrum stellen.“
  • Auf der anderen Seite stehe das Netzwerk Bibel und Bekenntnis, das laut Dietz anstrebt, „dass man sich verbindlich auf eindeutige Bekenntnisse einigt und entsprechend auf allen Ebenen durchsetzt, was in der jeweiligen Gemeinde, Kirche oder Allianz vertreten werden darf“.

Die Konfliktfrage: Wie gelingt Einheit in Vielfalt?

Tatsächlich beobachte auch ich, dass unter Evangelikalen mit wachsender Schärfe diskutiert wird, wie denn heutzutage noch Einheit in Vielfalt unter Evangelikalen gelingen kann. Grundsätzlich gilt ja: Wenn ein Konsens verloren geht, dann kann man prinzipiell auf 2 verschiedene Weisen darauf reagieren:

Reaktionsmöglichkeit 1: Wir müssen den Konsens in den Kernfragen verteidigen und – wo er verloren gegangen ist – wieder neu gewinnen.

Reaktionsmöglichkeit 2: Wir müssen den Konsens bewusst loslassen und uns stattdessen üben in gelebter Toleranz. Oft ist da die Rede von sogenannter „Ambiguitätstoleranz“.

Wer die Reaktionsmöglichkeit 1 für richtig hält, der sieht die Einheit dort bedroht, wo Menschen den Konsens in Frage stellen. Für den gelten die als Brückenbauer, denen es gelingt, in zentralen Fragen einen Konsens unter Christen herzustellen bzw. zu bewahren.

Wer hingegen die Reaktionsmöglichkeit 2 für richtig hält, für den sind die Feinde der Einheit die, die unbedingt am Konsens festhalten wollen. Brückenbauer sind hingegen solche Leute, die zwar einen Standpunkt haben, die aber anderslautende Standpunkte als genauso richtig anerkennen und somit eher nur subjektive statt objektive Wahrheiten vertreten.

Warum mehr Toleranz nicht unbedingt zu mehr Einheit führt

In den letzten Jahren war meine Beobachtung: Scheinbar neigen immer mehr Leiter von christlichen Werken, Gemeinschaften und Gemeinden dazu, dass Einheit in Vielfalt nicht über Konsens sondern über mehr Toleranz funktionieren müsse. Da wird dann zum Beispiel gesagt: Die verbindende Mitte des Christentums, das sei keine Lehre, sondern die Person Jesus Christus. Deshalb sollten wir doch Enge und Rechthaberei überwinden, uns gegenseitig unseren Glauben glauben und Raum geben für unterschiedliche Sichtweisen und Erkenntnisse. Das klingt weitherzig und versöhnlich. Die große Frage ist nur: Funktioniert das auch? Gewinnen wir so tatsächlich Einheit in Vielfalt? Aus zwei Gründen bin ich skeptisch:

Zum einen beobachte ich: Christen, die sich theologisch liberal geben, können in ethischen oder politischen Fragen zugleich sehr intolerant sein. Das gilt in sehr unterschiedlichen Bereichen, vor allem aber natürlich im Feld der Sexualethik. Der Postevangelikale David P. Gushee war jüngst Hauptredner bei der Coming-In-Tagung in Niederhöchststadt. Er schrieb schon im Jahr 2016: „Neutralität ist keine Option. Ebenso wenig wie eine höfliche Halbakzeptanz. Genauso wenig wie das Vermeiden des Themas. Wie sehr Sie sich auch verstecken mögen, das Thema wird Sie finden.“ Und die evangelische Pastorin Sandra Bils, die inzwischen an der CVJM-Hochschule Kassel lehrt, hat schon 2015 in ihrem Blog geschrieben: „Ich freue mich, wenn sich mein Landesbischof öffentlich äußert und stolz auf die Segnung gleichgeschlechtlicher Paare in der Hannoverschen Landeskirche hinweist und gleichzeitig merke ich, dass es mir nicht weit genug geht, weil er im gleichen Atemzug anderen Meinungen eine Daseinsberechtigung zuspricht.“ Da ist also keinerlei Toleranz für die traditionelle Position spürbar, die heute immer noch von der übergroßen Mehrheit der weltweiten Christenheit geteilt wird.

Meine zweite Beobachtung ist: Einheit auf Basis einer Christusmitte funktioniert nicht, wenn der Begriff „Christus“ nur noch eine Hülse ist, die jeder subjektiv ganz unterschiedlich füllen kann. Denn die Frage ist ja: Wer und wie ist denn dieser Christus, der uns verbinden soll? Was hat er getan? Was hat er gelehrt? Worin liegt sein Erlösungswerk? Wir haben nur eine einzige Informationsquelle zu solchen Fragen: Die Bibel. Wenn aber die Bibel kein verbindlicher Maßstab mehr ist, dann wird es letztlich auch bei diesen allerzentralsten Fragen des Glaubens unmöglich, gemeinsame Antworten geben zu können. Dann haben wir auch keine gemeinsame Botschaft mehr. Dann verlieren wir unser Profil. Dann weiß niemand mehr, wofür wir stehen. Dann marginalisiert sich die Kirche. Und dann gibt es auch nichts mehr, was man ganz selbstverständlich miteinander feiern, besingen und bezeugen kann. Dann gibt es zwar vielleicht keinen Streit mehr, aber es gibt etwas, was noch schlimmer ist: Wir entfremden uns voneinander. Unsere Jesusbewegung trocknet langsam aus.

Wenn mehr Toleranz nicht die Lösung ist, was ist es dann?

Der Autor Jürgen Mette hat in seinem Buch „Die Evangelikalen“ folgende These aufgestellt: „Wer sich in Christologie und Soteriologie in der Mitte findet, der kann sich Differenzen an der Peripherie des Kirchenverständnisses, des Taufverständnisses, der Eschatologie leisten.“

Einfach ausgedrückt sagt Jürgen Mette: Wer sich darin einig ist, wer Jesus ist und warum er am Kreuz für uns gestorben ist, der kann Differenzen bei Fragen zur richtigen Kirchenstruktur, zur Tauffrage oder zu Endzeitfragen aushalten. Wenn wir im Kern beieinander sind, dann trennen uns die Differenzen in den Randfragen nicht.

Ich bin überzeugt: Das stimmt! Genau das war das Erfolgsgeheimnis der Evangelikalen! Diese starke Übereinstimmung im Kern und beim Evangelium ermöglicht es ihnen, die enorme Vielfalt an Prägungen, an Kulturen und an Strukturen auszuhalten.

Flexibilität und Intoleranz: 2 Pole im Neuen Testament

Genau diese doppelte Ausrichtung finden wir auch im Neuen Testament. Die junge Christenheit war eine sehr bunte Bewegung, die enorm viele, teils krasse Differenzen aushalten musste. Da kamen Juden mit Nichtjuden unterschiedlichster Hintergründe zusammen. Da gab es gesellschaftliche Differenzen: Gutsherren, Sklaven, Männer, Frauen und Kinder kamen zusammen. Das war damals absolut revolutionär. Und Paulus war er der Meinung: Es ist so wichtig, dass wir uns da nicht trennen lassen. Von sich selbst hat er gesagt: Ich bin allen alles geworden, damit ich so viele wie möglich gewinnen kann. Da hatte Paulus also eine enorme Weite und eine große Flexibilität.

Aber wenn es um das Evangelium ging, da wurde Paulus plötzlich absolut kompromisslos. Da ging er scharf gegen falsche Lehre vor. Den Galatern schrieb er sogar: „Wer euch eine andere Gute Nachricht verkündet als die, die ihr bereits angenommen habt, soll verflucht sein!“ Er scheute nicht einmal davor zurück, Petrus öffentlich anzugreifen, wenn es um das Evangelium geht.

Genau diese Haltung sehen wir später auch bei den apostolischen Vätern und den Kirchenvätern. Die junge Christenheit musste sich gegen viele falsche Lehren erwehren: Gesetzlichkeit, Gnosis, Doketismus, Marcionismus… Das Abwehren von falscher Lehre gehörte von Beginn an zur Aufgabe von christlichen Leitern dazu. Und die Kirche hat überhaupt nur überlebt, weil die christlichen Leiter diese Aufgabe ernst genommen haben.

Die wichtige Funktion der Bekenntnisse

Für die Abwehr falscher Lehre haben die frühen Christen solch wundervolle Bekenntnisse wie das Apostolikum und das Nicäno-Konstantinopolitanum formuliert, die bis heute die Christenheit miteinander verbinden. Schon immer hatten diese Bekenntnisse auch die Funktion, falsche Einflüsse zurückzuweisen und deutlich zu machen, was Christen miteinander verbindet.

Auch den Christen, die die evangelische Allianz gegründet haben, war das wichtig. Die Deutsche evangelische Allianz hat ihre Glaubensbasis erst vor kurzem wieder aktualisiert, um sagen zu können: Trotz aller Vielfalt und Differenzen sind es diese Überzeugungen, die uns einen. Diese wenigen Sätze beschreiben einen gemeinsamen Kern, der uns verbindet und der uns die Kraft gibt, die Differenzen bei vielen anderen Fragen auszuhalten. Thorsten Dietz schreibt dazu zurecht: „Die Allianz ist eine ökumenische Bewegung, die gerade darum das gemeinsame Bekenntnis so knapp wie möglich formuliert hat.“ Wie wahr! Aber gerade deshalb ist es ja so ungeheuer wichtig, wenigstens diese wenigen Sätze zu schützen und zu bewahren! Und meine Beobachtung war in den letzten Jahren leider, dass leider auch diese ganz zentralen Grundbekenntnisse der Evangelikalen in Frage gestellt werden – nicht nur von außen, sondern auch mitten im allianzevangelikalen Umfeld.

Entscheidende Differenzen beim Bibelverständnis

Um zu zeigen, was ich meine, möchte ich gerne mit Ihnen genauer auf diesen letzten Satz in der Glaubensbasis der Evangelischen Allianz schauen. Er lautet:

„Die Bibel, bestehend aus den Schriften des Alten und Neuen Testaments, ist Offenbarung des dreieinen Gottes. Sie ist von Gottes Geist eingegeben, zuverlässig und höchste Autorität in allen Fragen des Glaubens und der Lebensführung.“

Hier wird mit wenigen Worten ein Bibelverständnis zusammengefasst, das oft als konservativ oder auch als biblizistisch oder fundamentalistisch bezeichnet wird. Ich persönlich bezeichne dieses Bibelverständnis lieber als das „historische Bibelverständnis“. Historisch deshalb, weil ich der Überzeugung bin, dass sich dieses Bibelverständnis in der ganzen Kirchengeschichte immer wieder nachweisen lässt, gerade auch in der Reformation, aber auch bei den Kirchenvätern, bei den apostolischen Vätern und vor allem – und das ist natürlich am wichtigsten – in der Bibel selbst.

Die Frage ist jetzt aber: Ist dieses historische Bibelverständnis denn heute noch Konsens unter Evangelikalen? Nach meiner Beobachtung muss ich diese Frage mit einem ganz klaren „nein“ beantworten. Meine Beobachtung ist, dass heute auch mitten im allianzevangelikalen Umfeld ein konkurrierendes Bibelverständnis vertreten wird, das zwar oft mit ähnlichen Worten beschrieben wird, das aber im Kern vollkommen anders ist und zu völlig anderen Konsequenzen führt.

Dieses konkurrierende Bibelverständnis hat verschiedene Bezeichnungen. Ich bezeichne es gerne als „progressives Bibelverständnis“. Das Problem ist: Vielen Christen fällt gar nicht auf, wie grundsätzlich anders dieses Bibelverständnis ist, denn oft werden nur die Gemeinsamkeiten zwischen dem historischen und dem progressiven Bibelverständnis betont. Und tatsächlich gibt es diese Gemeinsamkeiten:

  • Beide Bibelverständnisse sind sich einig, dass die Bibel ganz Menschenwort ist, dass hier Menschen geschrieben haben und dass ihr Charakter und ihre Erfahrungen ihre Texte geprägt haben.
  • Beide Bibelverständnisse sind sich einig, dass die Bibel auslegungsbedürftig ist. Bibelstellen müssen immer im biblischen Gesamtkontext verstanden werden. Die Textgattung, die Reichweite, die Adressaten sowie das historische und heilsgeschichtliche Umfeld müssen differenziert beachtet werden! Und zum richtigen Verstehen der Texte wird der Heilige Geist benötigt.
  • Und beide Bibelverständnisse sagen übereinstimmend:
    Die Bibel ist Gottes Wort im Menschenwort.
    Die Bibel ist inspiriert.

Sind sich die Evangelikalen im Kern also doch einig? Meine Beobachtung ist: Nein, überhaupt nicht. Denn trotz dieser Übereinstimmungen gibt es ganz gravierende Unterschiede, die weitreichende Konsequenzen haben:

Der wichtigste Unterschied betrifft das Wesen und den Charakter der biblischen Texte. Das Bibelverständnis der Evangelischen Allianz sagt dazu: „Die Bibel IST Offenbarung des lebendigen Gottes.“ Das progressive Bibelverständnis sagt hingegen: Die Bibel ist ein Zeugnis der Offenbarung des lebendigen Gottes. So heißt es zum Beispiel in einem aktuellen Grundsatztext der EKD: „Die biblischen Texte werden gehört und ausgelegt als Gottes Wort im Menschenwort, das das endgültige Wort Gottes in Person und Wirken Jesu Christi bezeugt.“

Im historischen Bibelverständnis wird also gesagt: Die Bibel IST Offenbarung. Die Texte sind so, wie sie dastehen, offenbarte Worte Gottes. Im progressiven Bibelverständnis wird hingegen gesagt: Die Bibel bezeugt die Offenbarung. Was sich so unscheinbar anhört, hat in Wahrheit gewaltige Konsequenzen. Gerade die Formel „Gotteswort im Menschenwort“ hat dann eine ganz unterschiedliche Bedeutung. Im historischen Bibelverständnis heißt diese Formel: Die Bibel ist ganz Menschenwort UND zugleich ganz Gotteswort. Im progressiven Bibelverständnis bedeutet diese Formel hingegen: Die Bibel ist ganz Menschenwort und sie kann Gottes Wort enthalten bzw. vermitteln. So schreibt zum Beispiel Siegfried Zimmer: „Der Satz ‚Die Bibel ist Gottes Wort‘ meint: Gott kann und will durch die Bibel zu uns reden.“ Oder der Theologe Udo Schnelle schreibt: „Natürlich ist die Bibel das Wort Gottes. Sie ist es aber nicht an sich, sondern immer dann, wenn sie für Menschen zum Wort Gottes wird. In dem Moment, wo es Menschen erreicht und zum Glauben an Jesus Christus führt, wird die Bibel zum Wort Gottes.“

Damit wird der Unterschied im progressiven Bibelverständnis deutlich: Hier ist die Bibel nicht an sich Gotteswort, sondern sie kann es beim Lesen individuell für uns werden! Daraus leitet sich dann auch ein unterschiedliches Inspirationsverständnis ab. Im historischen Bibelverständnis wird die Inspiration der Bibel stark auf die Entstehung der Texte bezogen. Man sagt also: Der Heilige Geist hat bei der Entstehung der Texte mitgewirkt, so wie Petrus zum Beispiel sagt: „Vom Heiligen Geist haben Menschen in Gottes Auftrag geredet.“ Im progressiven Bibelverständnis hingegen sagt man: Die Inspiration der Texte bezieht sich primär auf unser heutiges Lesen und Verstehen der Bibeltexte. Wenn wir die Bibel lesen, dann kann der Heilige Geist diese Texte für uns individuell zu inspirierten Gottesworten machen.

Der Knackpunkt: Das progressive Bibelverständnis ermöglicht Sachkritik

Damit kommen wir zum entscheidenden Unterschied dieser beiden Bibelverständnisse: Wenn die Bibel Gottes Offenbarung IST, wie es in der Glaubensbasis der evangelischen Allianz festgehalten wird, dann können wir diese Bibelworte natürlich unmöglich inhaltlich kritisieren! Wir können zwar unterscheiden lernen, wie diese Texte gemeint sind und wie sie einzuordnen sind. Aber wenn es Gott ist, der in den biblischen Texten zu Wort kommt, dann können wir die Aussagen, die wir aus den biblischen Texten ableiten, letztlich nicht kritisieren, sondern dann haben wir sie als Gotteswort demütig zu hören. Wenn Gott spricht, dann kann nur Vertrauen und Gehorsam unsere Antwort sein.

Im progressiven Bibelverständnis hingegen ist das anders. Da sagt man ja: Die Bibeltexte sind zunächst einmal nur Menschenwort. Sie sind nur ein Zeugnis der Offenbarung. Aber ein Zeugnis kann auch fehlerhaft sein. Es kann auch widersprüchlich sein. Und deshalb kann man diese Texte natürlich auch kritisieren. Dazu noch einmal Siegfried Zimmer: „Eine Kritik an den Offenbarungsereignissen selbst steht keinem Menschen zu. … Die schriftliche Darstellung von Offenbarungsereignissen darf man aber untersuchen, auch wissenschaftlich und ‚kritisch‘.“

Und da haben wir die ganz entscheidende Differenz schwarz auf weiß: Wenn der biblische Text die Offenbarung nur bezeugt aber nicht selbst IST, dann können wir diese Texte natürlich heute auf Basis unserer Vernunft auch inhaltlich kritisieren. In der Theologie würden wir dann von „Sachkritik“ sprechen. Und genau hier laufen die Wege auseinander. Denn Sachkritik, also inhaltliche Kritik an biblischen Gesamtaussagen, wird im Rahmen des progressiven Bibelverständnisses für etwas völlig Normales gehalten.

Das wird beispielhaft deutlich im Buch „glauben lieben hoffen“, das von Vertretern der freikirchlichen Jugendarbeit im SCM-Verlag herausgegeben wurde. Knapp zusammengefasst wird da zum Beispiel gesagt:

  • In den prophetischen Texten wird keine Zukunft vorhergesagt.
  • Jesus wird nicht im Alten Testament vorausgesagt.
  • „Die Bibel ist von einer Entwicklung hin zum Monotheismus geprägt.“ Das heißt also: Die Bibel enthält veraltete Gottesbilder.
  • Die „Vorstellungen“ von Teufel, Himmel und Hölle haben sich wohl erst nach dem babylonischen Exil entwickelt, vermutlich durch den Einfluss des Zoroastrismus und des griechischen Denkens
  • Matthäus, Lukas und Paulus seien von einer biologischen Vaterschaft Josefs ausgegangen.

Natürlich widersprechen diese Aussagen komplett den Aussagen, die die Texte selbst machen wollen. Aber derartige Bibelkritik wird möglich, wenn die Bibel die Offenbarung Gottes nur bezeugt, aber nicht selbst ist. Das Problem ist: Etwas, das ich auf Basis meiner Vernunft kritisieren kann, das kann natürlich nicht mehr so wie in der Glaubensbasis der evangelischen Allianz als „zuverlässig und höchste Autorität in allen Fragen des Glaubens und der Lebensführung“ gelten. Diesen Wert als Norm des Glaubens hat die Bibel dann verloren.

Die Folge: Widersprüchliche Lehren bei den Kernfragen des Glaubens

In der Praxis zeigt sich: Mit der Öffnung für Sachkritik wird die Tür geöffnet für Lehren, die nicht mehr mit durchgängigen Aussagen der Bibel zusammenpassen. Wie drastisch sich dieses Bibelverständnis selbst auf die innersten Kernfragen des Glaubens auswirkt, sieht man besonders gut bei der Frage, warum denn eigentlich Jesus am Kreuz gestorben ist. Schauen wir doch einmal, was das Bekenntnis der evangelischen Allianz zu dieser Frage sagt und was wir im Vergleich dazu im Buch „glauben lieben hoffen“ lesen:

Aus der Glaubensbasis der
evangelischen Allianz
Zitat aus „glauben lieben hoffen“
„Der Mensch … ist durch Sünde und Schuld von Gott getrennt.

Jesus Christus, der Mensch gewordene Sohn Gottes, ist stellvertretend für alle Menschen gestorben. Sein Opfertod allein ist die Grundlage für die Vergebung von Schuld, für die Befreiung von der Macht der Sünde und für den Freispruch in Gottes Gericht.“

„So wurde und wird häufig argumentiert: Infolge des Sündenfalls ist der Mensch getrennt von Gott, und nur ein vollkommenes Opfer kann die Beziehung zwischen Gott und Mensch wieder in Ordnung bringen. … Hat eigentlich mal jemand gefragt, warum eine Opferhandlung  … dies erreichen können soll? … Gott vergibt, weil er ein gnädiger Gott ist, ohne dass Gott durch Töten und Blutvergießen milde gestimmt werden müsste. … um die Sünde der Menschen hinweg zu nehmen, braucht es eigentlich kein Opfer und keinen Geopferten.“ (S. 69, M. Drodofsky)

Ohne Zweifel steht die Kreuzestheologie mitten im Zentrum unseres Glaubens. Und es ist nun einmal ein riesengroßer Unterschied, ob…

… Gott uns einfach so vergibt oder ob er uns verurteilt, dann aber selbst die Strafe übernimmt.

… wir uns nur subjektiv schuldig fühlen oder ob wir objektiv schuldig sind und von Gott eigentlich im Gericht verurteilt werden müssten.

… Jesu Tod nur ein Akt der Solidarität und Hingabe ist oder ein wirksames Opfer zur Vergebung unserer Schuld.

… wir nur belastete Menschen sind, die Zuspruch und Ermutigung bekommen sollen oder ob wir ohne das Kreuz verloren sind und Rettung brauchen.

Wir müssen es so deutlich sagen: Es handelt sich bei dieser progressiven Deutung der Kreuzestheologie letztlich um ein anderes Evangelium.

Die missionarische Dynamik geht verloren

Welche Konsequenzen ergeben sich aus diesen Differenzen beim Evangelium? Im Buch „Mission Zukunft“ hat der Präses des Bundes der Freien evangelischen Gemeinden Ansgar Hörsting geschrieben: „Ich kenne keine missionarisch wirksame Gemeinde, in der es nicht Leute gibt, die klar auf dem Schirm haben: Ohne Jesus Christus sind Menschen verloren.“ Die Kirche Jesu verliert also ihre missionarische Dynamik, wenn sie Botschaft vom Kreuz verliert oder umdeutet.

Und Pfarrer Swen Schönheit, Theologischer Referent der Geistlichen Gemeindeerneuerung schreibt: „Die „Botschaft vom Kreuz“ ist im Raum der Kirche verblasst. Damit verliert sich „Gottes Kraft“ und Kirche reduziert sich selbst zu einer Agentur der Mitmenschlichkeit.“

Das heißt also: Das veränderte Bibelverständnis führt zu einer veränderten Theologie, die wiederum ganz direkte Auswirkungen hat auf die missionarische Kraft und Ausstrahlung der Kirche. Der evangelische Pfarrer Alexander Garth schreibt dazu in seinem Buch „Untergehen oder umkehren“:

„Es besteht ein Zusammenhang zwischen liberaler westlicher Theologie und dem Niedergang von Gemeinden. Es sind fast ausschließlich liberale Kirchen, die teilweise dramatisch Mitglieder verlieren.“ „Wenn man in der Welt aufstrebende Gemeinden und Bewegungen bestimmen möchte, die nicht evangelikal sind, so würde man kaum etwas finden. Zumindest gehört das zu den gesicherten Forschungsergebnissen der Religionssoziologie.“

Das Ringen um gesunde Theologie ist von entscheidender Bedeutung

Dieses Zitat macht etwas deutlich, was aus meiner Sicht auch für den weiteren Weg der evangelikalen Bewegung ganz entscheidend ist: Theologie zählt! Ich höre heute auch mitten im allianzevangelikalen Umfeld häufig die These: Lasst uns doch nicht über Theologie streiten. Lasst uns lieber gemeinsam evangelisieren und Gemeinde bauen. Das hört sich schön an. Und ich würde sofort zustimmen, wenn die Praxis nicht zeigen würde: Unsere Theologie ist ganz offenkundig ein entscheidender Faktor dafür, ob wir miteinander fruchtbar evangelisieren und Gemeinde bauen können oder nicht. Theologie kann Einheit, Evangelisation und Gemeindebau befruchten, sie kann aber auch Einheit, Evangelisation und Gemeindebau unterwandern und zerstören. Deshalb müssen wir gerade um der Evangelisation, der Mission und des Gemeindebaus willen, ringen, streiten um die zentralen theologischen Fragen.

Stellen Sie sich einmal diese Situation vor: Da steht jemand auf dem Feld mit einer stumpfen Sense und kommt kaum voran bei der Ernte. Und ein anderer rennt hin und sagt: Mensch, der Bauer hat doch gesagt, wir sollen zum Ernten den Mähdrescher nehmen. Und der erste sagt: Jetzt mecker nicht rum. Schnapp Dir die Sense und hilf mit!

Genau so empfinde ich diese Aufrufe, nicht über Theologie zu streiten, obwohl doch das Ringen um die richtige Theologie schon in der Bibel eine enorm wichtige Rolle spielt. Die Bibel macht immer wieder deutlich: Wir können und dürfen nicht einfach schweigend zusehen, wenn Leute in unserer Mitte aufstehen und Dinge lehren, die nicht zum biblischen Evangelium passen. Gerade um der Mission willen, gerade um der Einheit willen, gerade um des Gemeindebaus willen müssen wir ganz neu lernen, um die richtige Theologie zu streiten. Es gäbe uns heute nicht, wenn nicht die Apostel, die Kirchenväter oder die Reformatoren intensiv um theologische Fragen gestritten hätten! Streit ist zwar Mist, wenn es um Randfragen geht, wenn es ums pure Rechthaben geht, wenn der Streit lieblos und arrogant geführt wird. Aber wo unser Herz brennt für das Evangelium und für die verlorenen Menschen, da wird Gott mit uns sein, wenn wir sagen: Hier stehe ich und kann nicht anders. Ich muss widersprechen, um des Wortes Gottes und des Evangeliums willen. Das wünsche ich mir, dass das wieder viel häufiger geschieht.

Allianzevangelikale sind immer auch Bekenntnisevangelikale

Aber was bedeutet das jetzt für die Zukunft der Evangelikalen? Das war ja die Frage dieses Vortrags: Evangelikale Bewegung, wohin? Das Bild, das Thorsten Dietz gezeichnet hat, hatte die Botschaft: Da gibt es eine Weggabelung und die evangelikale Bewegung muss sich entscheiden: Folgen wir den Allianzevangelikalen? Oder folgen wir den Bekenntnisevangelikalen? Die Frage ist nur: Ist das wirklich die Weggabelung, vor der die evangelikale Bewegung steht? Ich bin der Meinung, dass das tatsächliche Bild etwas anders aussieht.

Ich glaube nicht, dass es zu dieser Aufspaltung kommt. Das tatsächliche Bild, das ich wahrnehme sieht so aus: Es gibt keine Differenz zwischen Allianz- und Bekenntnisevangelikalen. Ohne Bekenntnis kann es keine Allianz geben. Deshalb waren Allianzevangelikale immer schon zugleich auch Bekenntnisevangelikale! Die Glaubensbasis der evangelischen Allianz, das Apostolikum, das Nicäno-Konstantinopolitanum, das sind feststehende Bekenntnisse, die grundlegend sind für die Evangelikalen, für die Lausanner Bewegung und für die evangelische Allianz. Deshalb brauchen wir beides, wenn wir auch in Zukunft noch Einheit in Vielfalt wollen: Wir brauchen Toleranz in den Randfragen. Und wir brauchen Konsens in den zentralen Bekenntnisfragen.

Es geht um die Bewahrung unserer verbindenden Glaubensschätze

Thorsten Dietz hat deshalb auch das Anliegen des Netzwerks Bibel und Bekenntnis leider falsch dargestellt. Er meint, das Netzwerk Bibel und Bekenntnis wolle, dass „man sich verbindlich auf eindeutige Bekenntnisse einigt und entsprechend auf allen Ebenen durchsetzt, was in der jeweiligen Gemeinde, Kirche oder Allianz vertreten werden darf.“ Nichts könnte verkehrter sein als das. Das Anliegen des Netzwerks Bibel und Bekenntnis ist nicht, dass man sich auf etwas Neues einigt. Es geht nicht darum, etwas durchzusetzen. Es geht vielmehr darum, etwas zu bewahren! Auf die Bekenntnisse muss man sich nicht einigen, die sind ja längst vorhanden und veröffentlicht. Das Anliegen des Netzwerks Bibel und Bekenntnis ist: Die Liebe zu Christus zu stärken und zugleich Festhalten an den veröffentlichten Bekenntnissen, die unverzichtbar sind für die Einheit der Evangelikalen. Wir arbeiten und beten dafür, dass die veröffentlichten Bekenntnisse und Glaubensgrundlagen nicht zu Papiertigern verkommen, sondern das bleiben, was sie schon immer waren: Verbindende Glaubensschätze, die man über alle Unterschiede hinweg ganz selbstverständlich miteinander feiern, besingen und bezeugen kann. Lassen Sie uns das gemeinsam weiter tun!

Kurs halten auf der einzigartigen Erfolgsspur der Evangelikalen!

Ich möchte diesen Vortrag abschließen mit einem Zitat aus dem Buch „Menschen mit Mission“, über das wir heute so viel gesprochen haben. Ich nehme wahr, dass manche Evangelikale heute entmutigt sind. Man hat das Gefühl: Wir sind Wenige. Wir sind auf dem Rückzug. Wir werden in der Gesellschaft immer mehr an den Rand gedrängt. Niemand nimmt uns mehr ernst. Das spannende ist: Genau dieses Gefühl hätten die Evangelikalen auch für einem halben Jahrhundert haben können. Der Lausanner Kongress ist jetzt beinahe 50 Jahre her. Auch damals waren die Evangelikalen eine Randgruppe. Aber Thorsten Dietz schreibt:

Warum handelt es sich bei den Evangelikalen heute um die weltweit zweitgrößte christliche Strömung nach dem Katholizismus? Niemand hätte sich das vor 50 oder 60 Jahren träumen lassen. Der Lausanner Kongress wurde in der deutschen Öffentlichkeit nur am Rande registriert. Die meisten (gerade auch in den Kirchen) waren sich sicher: Zukunft kann nur eine Christenheit haben, die sich für die Moderne öffnet, die das aufgeklärte Wahrheitsbewusstsein der Wissenschaften respektiert und eine politisch-gesellschaftliche Kraft für eine bessere Welt wird. Welche Zukunft sollten da schon Grüppchen haben, denen Evangelisation und Mission über alles geht, die im Zweifelsfall lieber der Bibel glauben als der historischen Forschung? Wer wird schon Ewiggestrige ernst nehmen, die sich radikal der sexuellen Liberalisierung der 1960er-Jahre verweigern? Aber entgegen allen Erwartungen ist keine religiöse Gruppe im letzten halben Jahrhundert dynamischer gewachsen als diese.

Evangelikale Bewegung wohin? Aus meiner Sicht kann es darauf nur 1 Antwort geben: Weiter hinter Jesus her! Weiter auf der Spur, die sein Wort uns zeigt! Lassen wir uns nicht entmutigen. Lassen wir uns nicht einschüchtern. Lassen wir uns nicht aus der Segensspur drängen. Machen wir uns eins mit so vielen evangelikalen Geschwistern auf der ganzen Welt, die Jesus folgen, oft unter großen Opfern, die sein Wort weitertragen bis an die Enden der Erde und die gemeinsam mit uns darauf warten, dass unser Herr wiederkommt und sein Reich aufrichtet. Lassen wir es zu, dass diese Hoffnung neu unser Herz erfüllt. Lassen Sie uns gemeinsam mutig dafür beten und arbeiten, dass sein Reich schon jetzt unter uns Gestalt gewinnt.

Mein Traum geht in die Verlängerung (2)

Im Juli 2020 habe ich einen Artikel veröffentlicht, an den ich in den letzten Tagen immer wieder denken musste. Er befasste sich mit meinem großen Lebenstraum „von einer fröhlichen, bunten und vielfältigen Jesus-Bewegung, die gemeinsam für diese eine Botschaft steht: Jesus ist Herr! Er ist der Weg, die Wahrheit und das Leben! Sein Blut reinigt uns von unserer Schuld! Komm und lass Dich von ihm retten!“ Ich habe in diesem Artikel meine Enttäuschung darüber geschildert, dass unter uns Christen in den letzten Jahren nicht nur alte Spaltpilze überwunden wurden, sondern leider auch der verbindende Konsens in zentralen Glaubensfragen dahingeschmolzen ist – und damit auch die Basis für unsere Einheit.

Besonders bewegt haben mich die immer lautstärkeren Rufe nach einer “Öffnung” im Bereich der Sexualethik. Das hat mich zu der Frage geführt: „Sollte ich mir vielleicht doch einen Ruck geben und mit auf den Zug aufspringen? Offenkundig steigen nicht wenige geschätzte Mitchristen ein in diesen Zug, der jetzt wieder einmal lautstark zum Mitfahren lockt. Aber nein. Ich werde nicht mitfahren. Es zerreißt mir zwar das Herz, dass sich dadurch wohl auch Wege trennen müssen. Aber ich kann trotzdem nicht anders.“ Denn ich kann mein Gewissen vor Gott nicht kompromittieren. Und ich kann zudem absolut nicht erkennen, dass dieser Zug in Richtung Einheit und Erweckung fährt.

Der Zug ist in rasantem Tempo weitergefahren

Seither ist der Zug der progressiven Sexualethik in rasantem Tempo weitergefahren. Neben zahlreichen Worthausvorträgen, Podcasts und Büchern gab es 2021 das erste größere Treffen der Initiative „Coming-In“. Schon der Name vermittelt das Bild: Wer praktizierte Homosexualität nicht gutheißt, der glaubt nicht, dass bei Gott alle Menschen willkommen sind. In meinem Kommentar zur Gründung von „Coming-In“ hatte ich drei Bitten an die Unterstützer formuliert: Bitte sprecht anderen Christen nicht von vornherein die Liebe ab! Baut selbst Gemeinden statt andere Gemeinden umdrehen zu wollen! Und helft doch bitte mit, dass in unserem Land eine Atmosphäre echter Toleranz bewahrt bleibt, in der auch Gemeinschaften mit einer konservativen Position respektiert werden, so dass es ein respektvolles Nebeneinander und vielleicht sogar zumindest punktuell ein Miteinander geben kann. „Vielleicht gelingt das ja eines Tages, dass wir gelassen sagen können: We agree to disagree. Wir sind uns einig, dass wir uns nicht einig sind. Aber wir unterstellen dem Anderen deshalb keine bösen Motivationen.“

Zum „Coming-In“ gesellt sich das „Get out“

Ein weiteres Jahr später sehe ich: Meine Bitten werden nicht gehört. Auf der diesjährigen Coming-In-Tagung in Niederhöchststadt verglich Michael Diener seine Hinwendung zur progressiven Sexualethik mit dem biblischen Saulus/Paulus-Ereignis. Früher habe er andere Menschen „diskriminiert, falsch beraten, ihnen so Schaden zugefügt“ und „die Gnade, die Liebe Gottes, das Evangelium […] viel kleiner gemacht“. Christliche Gemeinschaften, die seinen Weg nicht mitgehen wollen, bezeichnet er als „abgeschlossene Gruppen“, in denen ein „Zeitgeist von vorgestern“ herrscht, und die „ohne Impuls von außen nicht in der Lage sind, sich dem Wirken des lebendigen Geistes Gottes […] zu öffnen”. “Mit aus dem Zusammenhang gerissenen Bibelzitaten wollen sich manche durch eine komplexe Zeit navigieren. Die Bibel wird so aber überfordert und ungeistlich missbraucht.“ Auf der Tagung ist davon die Rede, dass die Sünde der Ausgrenzung aufhören müsse. Ein guter Freund von mir reagierte mit den Worten: Wenn er Recht hat, bin ich ein selbstgerechter, verdammter Irrlehrer. Eine schärfere Infragestellung habe ich noch nie erlebt.“ Der Blogger Matt Studer erkennt in der Tagung gar ein „polemisches Storytelling”. Stillschweigend werde „Willkommenskultur“ (die alle wollen!) mit „Gutheissungskultur“ gleichgesetzt (was niemand durchhalten kann, weil jeder Toleranzgrenzen hat). Konservativen werde unterstellt, nicht die ganze Bibel bei der Auslegung zu berücksichtigen. Sie werden als wissenschaftsfeindlich und realitätsfern dargestellt. Studers Fazit: „Inklusion kommt für Progressive auch an ihre Grenze, wenn es um uns Konservative geht. Denn uns könnt ihr ja unmöglich inkludieren, es sei denn wir tun Busse und denken um!“

Für mich bestätigt sich hier, was ich schon früher beobachtet habe: „Ambiguitätstoleranz“ war gestern. Jetzt werden auch im freikirchlichen Bereich Stimmen laut, die ich aus der evangelischen Kirche schon lange kenne. Die evangelische Pastorin Sandra Bils (die inzwischen an der CVJM-Hochschule Kassel lehrt) schrieb schon 2015 in ihrem Blog, dass sie der Gedanke stört, dass man der konservativen Position noch eine Daseinsberechtigung zuspricht. Die Nordkirche (die ev. Landeskirche in Schleswig Holstein, Hamburg und Mecklenburg-Vorpommern) hat 2019 nicht nur beschlossen, gleichgeschlechtliche Paare zu trauen, sondern zugleich auch die Gewissensfreiheit für Pastoren in dieser Frage abzuschaffen – womit Konservative dort keinen Pfarrdienst mehr anstreben können, wenn sie ihr Gewissen nicht kompromittieren wollen. 2020 hatten die Tübinger Theologieprofessoren die konservative Position als „unerträglich“ bezeichnet. Der Trend ist klar: Zum „Coming-In“ gesellt sich rasch das „Get out“ an alle, die diesen Weg nicht mitgehen wollen.

Noch 3 weitere Beobachtungen aus den vergangenen Jahren verfestigen sich:

1. Die progressive Sexualethik geht einher mit einem veränderten Bibelverständnis

So sagt Michael Diener: Er sei gebunden gewesen an eine bestimmte Lesart der Bibel. Heute begreife er die Bibel immer noch als Heilige Schrift und Gottes Wort, “aber zugleich so, dass sie die in ihr steckende Kraft nicht im Buchstaben allein, sondern durch Gottes Geist und in die Zeit hinein entfaltet”. Nun war Michael Diener als Vorsitzender der Deutschen Evangelischen Allianz und Präses des Gnadauer Gemeinschaftsverbandes sicher noch nie ein radikaler Biblizist. Aber auch ein grundsolides evangelikal-/pietistisches Bibelverständnis ist offenkundig nicht mehr vereinbar mit den Thesen, die heute im Umfeld von Coming-In vertreten werden.

2. Progressive Christen missionieren mit Vorliebe konservative Christen

Michael Diener ruft dazu auf, gemeinsam zu glauben, zu hoffen, zu lieben und zu “arbeiten für christliche Gemeinden, in denen Menschen nach ihrem Coming Out ein herzliches Coming In erfahren egal, ob lesbisch, schwul, bi, trans, hetero oder anders queer”. Nun gibt es ja bereits massenhaft Gemeinden, in denen gleichgeschlechtliche Paare getraut werden, vor allem in der evangelischen Kirche, zu der Michael Diener gehört. Trotzdem wird bei Coming-In in Workshops über notwendige Change-Prozesse nachgedacht, damit Gemeinden sich für die LSBTIQ-Community öffnen und „Hartnäckige Missverständnisse“ überwinden. Ich finde es immer noch wenig fair und überzeugend, mit missionarischem Eifer lebendige Gemeinden umdrehen zu wollen, die Christen mit einer anderen Position zum Blühen gebracht haben, während zugleich liberale Gemeinden massenhaft zugrunde gehen. Und auffällig ist: Während Konservative bei jeder Äußerung zum Thema Sexualethik mit dem Vorwurf konfrontiert werden, sie würden nur um das Thema Sex kreisen, wird auf der anderen Seite dieses Thema mit immer größerer Frequenz auf die Tagesordnung gesetzt. Es werden sogar spezielle Tagungen zu diesem Thema abgehalten.

3. Es ist naiv, zu glauben, dass es Einheit gibt, wenn Konservative die Segnung gleichgeschlechtlicher Paare tolerieren

Die Agenda der progressiven Sexualethik ist lang. Erst kürzlich habe ich begründet, warum ich – gerade auch als Christ – niemals gendern werde. Michael Diener forderte hingegen bereits in seinem Buch „Raus aus der Sackgasse“ die Durchsetzung von Gendersprache und Frauenquoten, und zwar „auch gegen eine eher fundamentalistische oder biblizistische Minderheit. Und bitte halten Sie das nicht für ein Nebenthema!“ (S. 206)

Direkt nach der Coming-In-Tagung lud Michael Diener leidenschaftlich ein zur Tagung: “Zurück zur »natürlichen« Ordnung? Theologische und theopolitische Dimensionen des Anti-Gender-Diskurses”, veranstaltet vom Studienzentrum der EKD für Genderfragen. Auf der Rednerliste der Tagung steht unter anderem Thorsten Dietz, der über „Heteronormative Geschlechterpolitik im Evangelikalismus und seine Probleme“ spricht. Höhepunkt der Tagung ist der öffentliche Abendvortrag von Neil Datta, dem Generalsekretär des „European Parliamentary Forum for Sexual and Reproductive Rights (EPF)“ und zugleich Vorkämpfer für das “Recht auf Abtreibung” und gegen verpflichtende Beratungsgespräche. Aus seiner Sicht ist Deutschland noch lange nicht im grünen Bereich, was das “Recht auf Abtreibung” betrifft, wie dieser WELT-Online-Artikel zeigt.

Dass die progessive Sexualethik und Genderbewegung auch Abtreibung mit im Gepäck hat, mag manche überraschen. Neu ist die Öffnung in der Abtreibungsfrage im kirchlich-progressiven Umfeld aber nicht. 2018 wurde in der evangelischen Kirchenzeitschrift Chrismon aktiv für die Abschaffung des §219a geworben. 2019 rechtfertigte die US-amerikanische Pastorin Nadia Bolz-Weber (laut dem christlichen Medienmagazin PRO „so etwas wie der Star der Emergenten und progressiven Evangelikalen“) ihre eigene Abtreibung mit der These, dass das Leben mit dem Atem beginne – ein wahrhaft verstörender Satz. Denn als Christ und als Biologe muss ich sagen: Auch im Mutterleib sind Kinder bereits Kinder – mit einer gottgegebenen Würde und einem Recht auf Leben. Wer daran zweifelt, dem empfehle ich den Gang durch eine Frühgeborenenstation. Wie Christen sich mit Kräften gemein machen können, die die geltenden Regelungen zum Thema Abtreibung in Deutschland aufkündigen und ein “Recht auf Abtreibung” vorantreiben wollen, ist mir schleierhaft. Ganz sicher ist: Zu solchen Positionen werde ich niemals Brücken bauen können.

Zwei unvereinbare Positionen stehen im Raum

Umso mehr bin ich froh, dass ich 2020 nicht in diesen Zug eingestiegen bin. Die “Öffnung” beim Thema Sexualethik hat zu vieles im Gepäck, was ich nicht teilen kann, darunter auch eine liberalere Theologie, die weltweit Kirchen schrumpfen lässt, wie Alexander Garth in seinem Buch „Untergehen oder umkehren“ eindrücklich dargelegt hat. Wie spaltend progressive Sexualethik wirkt, macht im Moment auch der synodale Weg” in der katholischen Kirche vor. Es ist zwar traurig, aber wir müssen realistisch sein: Hier stehen sich zwei unvereinbare Positionen gegenüber. Auf beiden Seiten handelt es sich nicht nur um eine Meinung, sondern um eine Gewissensfrage. Diesen Dissens kann man vielleicht auf Kongressen übergehen, aber in jeder Gemeinde muss zwangsläufig eine Entscheidung getroffen werden. Wenn sich ein Gemeindebund nicht dazu positionieren will, dann wird der Konflikt auf die Ebene der lokalen Gemeinden verschoben und damit vielfach multipliziert – mit allen zerstörerischen Folgen, die das für die Gemeinden mit sich bringen kann.

Umso mehr bin ich dankbar für alle, die sich mutig, sensibel und kenntnisreich dafür einsetzen, dass wir gemeinsam an dem Konsens festhalten, der in der historischen Kirche durchgehend galt und bis heute für den allergrößten Teil der Weltkirche gilt, wie jüngst der Generalsekretär der Weltweiten Evangelischen Allianz Prof. Thomas Schirmacher bekräftigt hat. Johannes Traichel hat in seinem Buch “Evangelikale und Homosexualität” wunderbar beschrieben: An der Schönheit und Kraft biblischer Sexualethik dürfen wir nicht nur aus soliden biblischen Gründen fröhlich festhalten. Wir müssen diese Sexualethik auch aktiv einüben. Wir müssen lernen, wie sie in unseren Gemeinden praktisch gelebt werden kann. Der Versuch, das Thema um des scheinbaren lieben Friedens willen einfach totzuschweigen, kann also aus vielen Gründen keine Option sein.

Mein Traum ist lebendiger denn je

Mein Traum von Einheit in Vielfalt ist zwar immer noch in der Verlängerung. Aber er ist lebendiger denn je! Ich sehe viele Anzeichen, dass jenseits des Postevangelikalismus eine neue Einheit unter Jesusnachfolgern wächst. Das Bewusstsein wird geschärft, wie wichtig und unersetzbar die Hochschätzung der biblischen Autorität für die Einheit der Kirche Jesu ist. Wo die Liebe zu Jesus gelebt wird und die gemeinsame Schrift- und Bekenntnisgrundlage feststeht, da können große Differenzen in der Prägung und in theologischen Randfragen ausgehalten werden. Dort gelingt es auch, Menschen gemeinsam zur Nachfolge Jesu einzuladen. Dort wachsen Gemeinden auch gegen den Trend.

Deshalb werbe ich leidenschaftlich dafür, dabei zu bleiben: Christen sind Christusnachfolger. Sie folgen den Worten ihres Meisters, die sie in der Bibel finden. Ja, diese Worte bestehen aus Buchstaben. Die Buchstaben entfalten ihre Kraft nur durch den Heiligen Geist. Aber der Heilige Geist wird sich niemals gegen den Buchstaben stellen. Nur im Einklang mit Gottes Wort hat die Kirche Jesu Zukunft.

Die Artikel, die in diesem Artikel erwähnt werden:

Untergehen oder umkehren

Eine dramatische Analyse – Ein Ruf zur Umkehr – Ein Mutmacher für einen neuen Aufbruch

„Wir stehen auf der Schwelle in eine neue Ära der Kirche. Die Volkskirche, wie wir sie aus der Vergangenheit kennen, gibt es bald nicht mehr.“(S. 149)

Diese Grundthese des Buchs „Untergehen oder Umkehren“ begründet der Autor Alexander Garth mit zwei nicht aufzuhaltenden Megatrends: „Der Niedergang institutioneller Religiosität bzw. geerbter Religion und der Aufschwung individueller Religiosität bzw. gewählter Religion.“ (S. 69) Die Zeiten sind demnach vorbei, in denen es genügte, irgendwie mit der Kirche zu glauben. „Die Menschen brauchen ihren persönlichen Zugang, ihr eigenes Erweckungserlebnis.“ (S. 25)

Bekehrung rückt in den Fokus

Für die großen Kirchen bringt dieser Wandel eine dramatische Konsequenz mit sich: „Eine Kirche, die aus dem volkskirchlichen Betreuungsmodell nicht gewählter Religion hin zu einer Kirche der Zukunft aufbrechen will, wo gewählte Religion zur Normalität wird, muss dem Thema Konversion (früher sagte man »Bekehrung« dazu) höchste Priorität einräumen. Denn die Übermorgenkirche wird aus Menschen bestehen, die Glaube und Kirche gewählt haben.“ (S. 153) Dabei ist diese zentrale Bedeutung von „Bekehrung“ für Garth nichts Neues: „Das Thema Bekehrung zieht sich wie eine Leuchtspur durch die ganze Kirchengeschichte. In den dynamisch wachsenden Kirchen Afrikas, Asiens und Leinamerikas ist Bekehrung ein Massenphänomen. Und bei uns? Es wird wieder ein wichtiges Thema in der Kirche, oder aber es gibt sie nicht mehr.“ (S. 177)

Volkskirche ist von Haus aus antimissionarisch

Der grundlegende Wandel in Richtung gewählter Religiosität stellt die großen Volkskirchen vor eine doppelte Herausforderung. Einerseits ist sie seit der konstantinischen Wende geradezu antimissionarisch aufgestellt, denn: „Wenn alle Bürger schon irgendwie Christen sind, dann ist Mission eigentlich überflüssig, ja sogar schädlich, weil es dann Christen gibt, die etwas Besseres sein wollen, bekehrter, echter, hingegebener. Es genügt dann, dass die Kirchenmitglieder in ihrem (Minimal)-Glauben betreut und gestärkt werden. Sie werden parochialisiert (Gemeinden zugeordnet), sakramentalisiert, aber nicht missioniert.“ (S. 45/46) Den getauften Kirchenmitgliedern wieder zu sagen, dass sie sich bekehren müssen, würde einen grundlegenden Paradigmenwechsel bedeuten, der momentan nicht erkennbar ist. Stattdessen ist Garth‘s Beobachtung: „Mission ist für die liberalen Kirchen des Westens peinlich. Sie gilt als übergriffiger Akt, der das emanzipierte, mündige Gegenüber nicht ernst nimmt. … Es geht nicht mehr um Konversion, sondern um Entwicklungshilfe, um Dialog, um Frieden, Gerechtigkeit und die Bewahrung der Schöpfung. Der Missionsauftrag Jesu, alle Völker zu Jüngern zu machen, wird auf die Ethik reduziert.“ (S. 99/100)

Auch die Kirche selbst hat die Bevölkerung gegen den Glauben immunisiert

Hinzu kommt ein zweites Problem: Während überall in der Welt der christliche Glaube an Dynamik gewinnt, scheint in Deutschland geradezu eine „Herdenimmunität“ gegenüber dem christlichen Glauben zu bestehen. Aber warum ist das eigentlich so, dass die „Menschen bei uns weithin allergisch auf den christlichen Glauben reagieren“ (S. 55)? Garth nennt 5 Faktoren:

  1. Die über sehr lange Zeit währende Verbindung von staatlicher Macht und Kirche hat die Menschen misstrauisch gemacht.
  2. Das volkskirchliche Minimalchristentum macht immun gegen den echten christlichen Glauben.
  3. Der Religionsmonopolismus eines religiösen Anbieters kann nicht genügend Zugänge zum Glauben anbieten, was aber in einer offenen, diversen Gesellschaft erforderlich ist.“
  4. Reduktive Theologien … haben die Volksfrömmigkeit beschädigt“.
  5. DieMoralisierung des Glaubens führt dazu, dass Menschen sich sagen: Glauben brauche ich nicht, denn ich kann auch ohne ein guter Mensch sein.“ (S. 51/52) „Religion, die sich in sozialem Engagement, Klimarettung, Geschlechtergerechtigkeit und Weltverantwortung erschöpft, schafft sich ab.“ (S. 81)

Anpassung ist nicht die Lösung, sondern das Problem

Die gängige Frömmigkeit, die man in den Kirchen antreffen kann, beschreibt Garth in deutlichen Worten: „Statt des Glaubens, wie ihn z.B. die altkirchlichen Bekenntnisse bezeugen, finden wir eine diffuse Religiosität an einen Kuschelgott, der für das persönliche Wohlergehen zuständig ist und die Freiheit nicht einschränken darf.“ (S. 60) „Dass im Zentrum des christlichen Glaubens der Erlösungsgedanke steht, ist komplett außerhalb des Blickfeldes.“ (S. 78)

Aber ist es nicht zwangsläufig notwendig, dass die Kirche sich an die Menschen anpassen muss, wenn sie nicht noch mehr Mitglieder verlieren möchte? Garth schreibt dazu: „Liberale Christen vereint eine Illusion: Sie glauben, dass moderne Zeiten eine moderne Religion erfordern. … Die Religion der Zukunft muss sanft und moderat sein, pluralistisch und nicht exklusiv, spirituell, aber nicht dogmatisch, den Menschen bestätigend, nicht hinterfragend, eine gefällige Religion, die sich an die Erwartungen der Gesellschaft anpasst und keine Forderungen an die Gläubigen stellt. Dean M. Kelleys Studie und auch andere religionssoziologischen Erhebungen kommen zu dem gegenteiligen Schluss, nämlich dass diese Form von Softreligion das sicherste Rezept für Erfolgslosigkeit ist.“ (S. 112/113)

Aber warum ist das so? Garth beschreibt die selbstzerstörerische Dynamik der kirchlichen Anpassung so: Das Resultat der Anpassung ist ein weichgespültes Evangelium und eine profillose Kirche. … Dennoch verstärkt sich der Trend zum Kirchenaustritt. Die Logik geht nicht auf. Der Nivellierungskurs führt zu einer Banalisierung des Glaubens. Kaum einer weiß noch, wofür die evangelische Kirche eigentlich steht – außer natürlich für das, wofür auch der gesellschaftliche Mainstream steht. Aber dafür braucht es keine Kirche. Wer in der Kirche auf Anpassung setzt, schafft sie ab. … Eine an die Allgemeinheit angepasste Kirche produziert Langeweile und Gleichgültigkeit. Und sie trägt bei zur Immunisierung gegenüber dem Evangelium, erworben durch den schleichenden Kontakt mit einem harmlosen, verdünnten Christentum.“ (S. 61/62)

Die Entstehung einer „reduktiven Theologie“

Eine große Rolle spielen für Garth dabei die Entwicklungen an den theologischen Fakultäten in den letzten 200 Jahren: „Unter den Bedingungen einer Staats- und Volkskirche, in der man Mission nicht nötig hatte, weil alle dazu gehörten, konnte sich ein theologisches Denkmodell entwickeln, das … den missionarischen Aufbruch des Glaubens behindert und verhindert: Das liberale Denkraster. Die sogenannte liberale Theologie des Westens – global betrachtet ein Randphänomen – hat mit ihrem Erkenntnisreduktionismus, der einem materialistischen Weltbild verpflichtet ist, das Fundament des christlichen Glaubens in einen Sumpf verwandelt und die missionarische Kraft der Kirchen beschädigt. Das ist das geistliche Drama des Westens mit der Folge einer desaströsen geistlichen Frucht- und Vollmachtslosigkeit.“ (S. 26/27) Diese „reduktive Theologie, die den Zweifel zum normativen Prinzip erhob, hat einen großen Anteil an der Immunisierung vieler Menschen gegen den christlichen Glauben.“ (S. 77) Garth spricht dabei lieber von „reduktiver“ statt von „liberaler“ Theologie, denn: „Das liberale reduktive Denkraster ist das Resultat einer reduktiven Vorannahme, nämlich der wissenschaftlich nicht begründbaren Entscheidung, Wunder, Offenbarungen und göttliches Eingreifen von vornherein auszuschließen. … Dieser Grundsatz dominiert bis heute als methodisches Axiom die exegetischen Wissenschaften und entzieht damit den anderen theologischen Disziplinen ihr biblisches Fundament.“ (S. 84)

Die entscheidende Rolle der Theologie

Heute ist oft der Ruf zu hören: Lasst uns doch nicht um Theologie streiten, sondern gemeinsam evangelisieren! Garth macht hingegen deutlich: Gerade um der Mission willen muss dringend um Theologie gestritten werden, denn: „Es besteht ein Zusammenhang zwischen liberaler westlicher Theologie und dem Niedergang von Gemeinden. Es sind fast ausschließlich liberale Kirchen, die teilweise dramatisch Mitglieder verlieren.“ (S. 108) Umgekehrt ist für Garth ebenso klar: „Wenn man in der Welt aufstrebende Gemeinden und Bewegungen bestimmen möchte, die nicht evangelikal sind, so würde man kaum etwas finden. Zumindest gehört das zu den gesicherten Forschungsergebnissen der Religionssoziologie.“ (S. 174) Diese Aussage ist umso erstaunlicher, da Garth sich selbst gar nicht unbedingt als Evangelikaler sieht. Seine Selbstbeschreibung lautet vielmehr: „Heute bin ich vielleicht so etwas wie ein evangelikal-liberaler Lutheraner mit katholischen und pentekostalen Neigungen.“ (S. 206)

Aber warum führt „reduktive Theologie“ zur Schrumpfung der Kirchen? Garth erklärt: „Dieser fundamentalistische Rationalismus macht aus der großen Geschichte Gottes mit der Menschheit ein armseliges Trauerspiel der Auflösung des Glaubens in lauter harmlose Existenzialismen und Moralismen. Das ist nicht nur eng, das ist langweilig.“ (S. 90) Er ist zudem „ein Commitment-Killer erster Güte. Eine Kirche mit einer beschädigten Christologie vermag nicht das Commitment zu generieren, das für einen missionarischen Aufbruch des Glaubens notwendig ist.“ (S. 147) Warum trotz dieser klaren Fakten ein Teil der freikirchlichen Evangelikalen ernsthaft mit der Theologie der großen Kirchen flirtet, wird mir wohl immer ein Rätsel bleiben.

Was sich ändern muss: Die Bibel hochhalten und eine gesunde Christologie entwickeln

Trotz der harten Diagnose ist Garth keineswegs ein Pessimist in Bezug auf die Zukunft der Kirche, im Gegenteil: Er ist überzeugt, dass der christliche Glaube seine beste Zeit noch vor sich hat. Aber was muss denn nun aus seiner Sicht nun geschehen, damit Kirche Zukunft hat? Sie muss zunächst einen anderen Umgang mit der Bibel finden: „Die Kirche der Zukunft wird auf jeden Fall die Bibel als einzigartiges Dokument der Offenbarung Gottes hochhalten.“ (S. 92) Denn: „Das Christentum ist wesensmäßig eine Offenbarungsreligion.“ (S. 97)

Garths Ausführungen zum Thema Bibelverständnis bleiben allerdings ein wenig vage. Wichtiger scheint ihm zu sein, dass die Kirche wieder eine solide Christologie (Lehre von Christus) entwickelt. Denn im Moment ist seine Wahrnehmung: „In der evangelischen Kirche ist überhaupt nicht mehr klar, wer Jesus Christus ist.“ (S. 152) Wenn aber „der Christus der Verkündigung nicht mehr der Christus der Bibel und der kirchlichen Bekenntnisse ist (vom Apostolischen Glaubensbekenntnis bis zum Bekenntnis von Barmen), dann sind die Folgen leere Kirchen, frustrierte Prediger, gelangweilte Menschen, keine Bekehrungen. Dann wird das ganze Christentum müde und farblos. Der Grund? Gottes Geist macht sich rar. … Der Heilige Geist sagt: »Nicht mein Jesus! Da bleib ich zu Hause.«“ (S. 118/119) Deshalb ist Garth überzeugt: „Die Neuformatierung von einer Volkskirche zu einer missionarischen Kirche benötigt eine gesunde, biblische, und gemäß den altkirchlichen und reformatorischen Bekenntnissen geformte Christologie.“ (S. 26)

Die Jungfrauengeburt ist entscheidend

Eine gesunde Christologie macht Garth ganz besonders auch an der Jungfrauengeburt fest: „Dass Jesus wahrer Mensch und wahrer Gott ist, findet seinen unüberbietbaren Ausdruck in der Jungfrauengeburt. Nur ein paar Theologen des Westens, welche eine unglaublich arrogante Skepsis zur norma normans, zum normierenden Prinzip gemacht haben und in ihrer Gefolgschaft einige von Zweifeln beseelte Abendländler, meinen, dass der Glaube unbeschadet bleibt ohne »Jungfrau.«“ (S. 96) Hier muss die Kirche also zwingend zurück zu ihren Bekenntnisgrundlagen, denn: „Ohne eine von reduktiver Überfremdung gereinigte Christologie gibt es keinen Aufbruch des Glaubens.“ (S. 157) Punkt. Auch seine vielen internationalen Erfahrungen bestärken Garth in dieser Sichtweise: „Ich war öfters in Afrika, Indien und in anderen Teilen der Welt und habe dort studiert, wie Gemeinden sich entwickeln, welche missionarischen Konzept sie vertreten und was ihre Theologie ausmacht. Ich habe von verschiedenen Pastoren und Gemeindegründern mehrfach einen Satz gehört: »Wenn du willst, dass deine Gemeinde stirbt und dass dein Dienst ohne Frucht bleibt, dann übernimm die Theologie Europas!«“ (S. 160) Umso wichtiger ist es Garth, dass das Christentum in Deutschland endlich von den weltweit wachsenden Kirchen lernt.

Konservativ ist auch keine Lösung

Die Lösung besteht für Garth aber keineswegs darin, einfach nur konservativ zu werden. Stattdessen schreibt er: Die globale religionssoziologische Perspektive zeigt: Wachsende Gemeinden sind nicht einfach nur konservativ. Sie haben eine Doppelstrategie. Einerseits haben sie eine konservative Christologie verbunden mit dem Enthusiasmus, Menschen in die Nachfolge Jesu zu rufen. Im Bereich Moral sind diese Gemeinden zumeist sehr konservativ. Besonders in Sachen Sexualmoral vertreten sie Ansichten, die – zumindest aus westlicher Sicht – unerträglich streng und gestrig sind. Andererseits sind diese Gemeinden auffällig progressiv. Sie sind digital gut vernetzt bei Facebook, Youtube, Instagram und Twitter. … Überhaupt ist das ganze Erscheinungsbild aufstrebender Kirchen auffällig zeitgemäß.“ (S. 199) Parallelen dazu sieht Garth auch schon in der frühen Kirche: „In unserer heutigen sexualisierten Kultur fällt auf, dass in der frühen Kirche eine strenge Sexualmoral gelebt wurde, die sich von der Moral der Heiden unterschied. Sex außerhalb der Ehe galt als Unzucht.“ (S. 37) Kulturelle Differenzen sind für Garth aber kein Problem, sondern eine Chance auch für die heutige Kirche: „Ich sehe im Niedergang des Systems Volkskirche, der sicher ein schmerzhafter Prozess ist, die enorme Chance, dass Kirche wieder das werden kann, wozu sie berufen ist: eine Kontrastgesellschaft zur Bürgergesellschaft, ein göttlicher Gegenentwurf zur Welt, eine Einladung Christi, Gottes Alternative zu leben.“ (S. 27/28) Eine Kirche, die sich so auf den Weg macht, wird aus Garth’s Sicht auch keine finanziellen Probleme haben, denn: „Wo der Heilige Geist ist, da ist auch Geld. Finanzielle Großzügigkeit verrät immer, dass da etwas geschieht, was Menschen begeistert.“ (S. 190)

Hat die Umkehr schon begonnen?

Garths Analyse und Ruf zur Umkehr spricht mir insgesamt sehr aus dem Herzen. Sein Optimismus, dass in der evangelischen Kirche nicht nur in einzelnen Gemeinden sondern auf breiter Front eine Umkehr stattfinden wird, kann ich im Moment allerdings noch nicht wirklich teilen. Ich bin eher skeptisch, wenn Garth schreibt: „Auch die universitäre Theologie wird in einen Prozess der Erneuerung eintauchen, wenn nämlich immer mehr Studenten nach der Aneignung missionarischer und kybernetischer Kompetenz verlangen.“ (S. 164) Garth sieht sogar schon erste zarte Pflänzchen wachsen: „Die neue Pfarrergeneration, die viele Ideen für einen Aufbruch der Kirche hat, organisiert sich bereits in dem Netzwerk Churchconvention. Sie wollen eine »Mission-Shaped Church«, eine missionsgeformte Kirche.“ (S. 158) Ich wünschte, er hätte recht. Aber meine Beobachtung ist eher: Die auch von Garth erwähnte „Evangelikalenphobie“ in kirchlichen Fakultäten und Gremien ist ungebrochen und nimmt sogar eher noch zu. Auch der Niedergang der Kirche oder der Pfarrermangel ändert daran bisher überhaupt nichts. Wie strikt die Abwehrhaltung gegenüber evangelikal ausgebildeten Theologen selbst in der als vergleichsweise konservativ geltenden württembergischen Landeskirche noch ist, musste ich jüngst in meiner eigenen Gemeinde schmerzhaft erleben.

Die Kirche wird nicht durch die Konzentration auf Kirchenrettung gerettet

Lange Jahre war ich Teil der Initiative „Network XXL“, die stark inspiriert war von der anglikanischen Gemeindegründungsbewegung „Fresh Expressions of church“, die auch im Garths Buch thematisiert wird. Die Berichte aus England hatten mich begeistert und die Hoffnung geweckt, dass „Fresh X“ auch in Deutschland ein Motor der Erneuerung werden könnte. Inzwischen bin ich tief enttäuscht. Der deutsche Fresh X-Zweig hat sich progressiven und teilweise sogar tief liberalen theologischen Vertretern geöffnet. Die „reduktive Theologie“ führt auch hier dazu, dass theologisches Profil verloren geht.

Wer aber nur die Formen, nicht aber die theologischen Fundamente der Kirche erneuert, bleibt letztlich verhaftet in einem „Ekklesiozentrismus“, denn man daran erkennt, „dass die Kirche zu sich einlädt, statt zu Jesus, von sich schwärmt, aber nicht von Jesus.“ (S. 186) Garth hingegen stellt klar: „Es geht nicht um Mitgliedergewinnung. Es geht darum, dass Menschen sich rufen lassen, Jünger und Jüngerinnen Christi zu werden.“ (S. 170) Damit das gelingt, benötigt die Kirche der Zukunft im Kern ein solides Bibelverständnis, aus dem eine gesunde Christologie und damit auch eine dynamische, geisterfüllte, missionarische Gemeindearbeit in vielfältigen Formen erwachsen kann. Dann wird die Kirche Jesu in der Lage sein, unsere vielfältige Gesellschaft mit dem Evangelium zu erreichen. Eine Abkürzung oder ein alternativer Weg existiert nicht. Die Alternative wäre Untergang. Ich bin Alexander Garth sehr dankbar, dass er das in diesem Buch so eindrücklich deutlich gemacht hat.

Das Buch “Untergehen oder Umkehren – Warum der christliche Glaube seine beste Zeit noch vor sich hat” von Alexander Garth ist hier erhältlich.

Herr, was brauchen wir?

Die letzten Tage war ich in Corona-Quarantäne (keine Sorge, es geht mir gut). Und ich war sehr nachdenklich. Immer wieder hatte ich den Impuls, etwas in den sozialen Medien zu posten. Aber dann dachte ich: Ist DAS jetzt wirklich wichtig? Sollten wir uns wirklich DAMIT beschäftigen? Aber wenn nein, womit sollten wir uns denn dann beschäftigen? Was brauchen wir jetzt wirklich? Worauf sollten wir unsere kleine Kraft konzentrieren?

Heute morgen nun ist dieser kurze Text aus mir herausgeflossen. Mich würde interessieren: Was denkst Du dazu?


Herr, was brauchen wir?

Für den kommenden Aufbruch werden wir ein Netzwerk von Menschen brauchen, die täglich im Gebet eng mit Gott verbunden sind. Menschen, die von der Ehrfurcht vor Gottes heiligem Wort geprägt sind. Menschen, die leiden unter der Zerbrochenheit und Schwäche der Kirche Jesu. Menschen, die nicht aufhören können, an die Verlorenen zu denken, die so dringend das rettende Evangelium brauchen. Menschen mit einer heiligen Sehnsucht nach Erweckung.

In diesem Netzwerk werden wir Beter brauchen, die vor allem anderen jeden Tag Gott suchen. Wir werden Bibellehrer brauchen, die uns helfen, all unser Tun an Gottes heiligem Maßstab auszurichten. Wir werden Praktiker brauchen, die wissen, wie man etwas aufbaut und ins Laufen bringt. Wir werden Propheten brauchen, die uns helfen, Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden und die unser Herz anzünden mit dem, was jetzt auf Gottes Agenda steht. Wir werden Hirten brauchen, die ein feines Gespür haben für die Schwachen, die Verletzten, die Vergessenen. Menschen, die auch diesem einen verlorenen Schaf mit unendlicher Geduld und Liebe nachgehen. Wir werden apostolische Gemeindegründer brauchen, die uns helfen, an allen Orten Tempel aus lebendigen Steinen zu bauen, in denen Menschen dem Vater begegnen können und bei ihm das Leben finden. Wir werden Evangelisten brauchen, die uns helfen, furchtlos und leidenschaftlich das rettende Evangelium zu den Menschen zu bringen.

Dieses Netzwerk kann und wird nur bestehen, wenn jeder Einzelne eng mit Christus verbunden bleibt. Dieses Netzwerk kann und wird nur bestehen, wenn Gottes heiliges Wort unsere gemeinsame Liebe und unser gemeinsamer Maßstab ist. Denn im Reich Gottes kann nichts wachsen, das nicht auf Christus gebaut ist und unter seiner Herrschaft steht.

Wer träumt mit von dieser neuen Armee, die unser Land für Christus gewinnt? Wer betet und arbeitet mit dafür, dass diese Armee sich formiert und ihren Stand einnimmt – für den König und für das Lamm, das sein Leben für uns und für alle Menschen gab? Gehen wir doch heute auf die Knie und lassen wir uns berufen, Teil dieses Leibes zu sein, in dem jedes Glied miteinander verbunden wird durch das Haupt Jesus Christus. Fangen wir an, unseren Gott zu suchen und ihn zu fragen nach seinen Plänen. Fangen wir an, laut zu sprechen über seine Herrschaft und fröhlich davon zu singen, dass er der Sieger ist. Hören wir doch nicht auf zu glauben, dass unser Gott kommt, dass ihn nichts und niemand aufhalten kann. ER ist der Herr der Geschichte. ER allein ist unsere Hoffnung.