Der große Graben

In Matthäus 28, 20 sagt Jesus zu seinen Jüngern: „Lehrt sie, alles zu tun, was ich euch geboten habe.“ In diesem kurzen Satz stecken einige Aussagen, die zum innersten Kern des christlichen Glaubens gehören:

  • Gott hat zu uns Menschen gesprochen und uns Gebote gegeben.
  • Gottes Worte sind so klar und verständlich, dass sie durch Lehre und Predigt weitergegeben werden können.
  • Dadurch werden wir Menschen vor die Entscheidung gestellt, ob wir tun wollen, was Gott sagt.

Soweit, so selbstverständlich – hätte ich bis vor einigen Jahren gedacht. Das ist es aber nicht. Eher im Gegenteil. Es erschüttert mich immer wieder, in welchem Umfang heutige Theologie diese zentrale christlich / jüdische Grundlage eines sich offenbarenden, redenden und sich verständlich machenden Gottes in den Wind schlägt. Das ging mir zuletzt so beim Studium des Buchs „Zwischen Entzauberung und Remythisierung“, das der Theologieprofessor Jörg Lauster im Jahr 2008 verfasst hat. Ich habe dabei nicht den Eindruck, dass Prof. Lauster eine Randposition in der heutigen universitären Theologie einnimmt. Jedenfalls betont er selbst immer wieder, dass viele seiner Annahmen allgemeiner Konsens in der heutigen Theologie seien. Und er spricht selbst davon, dass es zwischen diesem Konsens und dem traditionellen reformatorischen Bibelverständnis einen großen, “garstigen Graben” gibt.

Dieser Diagnose kann ich mich nach der Lektüre des Buchs nur anschließen. Ich musste mich teilweise wirklich fragen: Kann man eine Theologie, die die oben genannten jüdisch/christlichen Grundlagen derart grundlegend verwirft, eigentlich noch als „christlich“ bezeichnen? Jedenfalls ärgert es mich zunehmend, wenn auch Evangelikale immer wieder äußern, konservative Christen würden durch ihre Debatten über theologische Fragen die Einheit zerstören. Tatsache ist: Die Einheit ist längst zerstört. Das liegt aber nicht daran, dass irgendwelche Konservative so dickköpfig und streitsüchtig sind. Das liegt vielmehr an einer Theologie, die nach eigener Selbstbekundung unüberbrückbare Gräben aufgerissen hat und die zugleich gegenüber Konservativen teils äußerst intolerant und herablassend auftritt – wie dieses Buch mir wieder gezeigt hat.

Ich bin mehr denn je überzeugt: Dieser große Graben verschwindet nicht, indem man ihn verharmlost, vernebelt oder totschweigt. Im Gegenteil: Wir Evangelikalen holen uns diesen großen Graben mitten in unsere Gemeinden, Gemeinschaften und Werke, wenn wir ihn nicht offen ansprechen.

Ich empfehle deshalb, das Buch von Jörg Lauster zu lesen, um einen Einblick in die Denkwelt vieler heutiger Theologen zu bekommen. Es hat nur 112 Seiten und ist auch für Laien weitgehend gut lesbar. Für alle, die nicht an das Buch herankommen (es ist aktuell leider nicht erhältlich) oder die sich nicht die Zeit dafür nehmen wollen, habe ich nachfolgend einige Zitate herausgeschrieben. Die farbig dargestellten kommentierenden Zwischenüberschriften stammen von mir.

Zitate aus Jörg Lauster: „Zwischen Entzauberung und Remythisierung“

Es gibt ein durchgängiges biblisches Zeugnis darüber, dass Gott zu den Menschen spricht und dass die biblischen Texte gemäß dem reformatorischen Verständnis das Reden Gottes wiedergeben:

S. 10: „Die gesamte Geschichte Gottes mit den Menschen ist nach alttestamentlicher Vorstellung maßgeblich davon bestimmt, dass Gott zu den Menschen und zu seinem Volk spricht. … Auf der Grundlage dieses biblischen Fundamentes ist in der christlichen Theologie die Vorstellung ausgebildet worden, dass Gott durch die Worte der Bibel zu Menschen spricht. Bei den Reformatoren tritt der Zusammenhang zwischen Wort Gottes und Bibel in besonderer Weise hervor.“

S. 31: „Die Bezeichnung der Bibel als Wort Gottes und als heilige Schrift ist für das Christentum eine essentielle Aussage.“

S. 70: „Die eingangs erörterte Gleichsetzung der Bibel mit dem Wort Gottes und die Bezeichnung ihrer Bücher als heilige Schriften sind Bestandteil dieses protestantischen Bibeldogmas.“

S. 72: „Festzuhalten ist jedenfalls, dass das protestantische Bibeldogma fort lebt und dazu gehört entscheidend die Auffassung, dass die inhaltliche Ausrichtung der christlichen Religion und die begriffliche Ausgestaltung der Lehre in den biblischen Schriften ihren originären Ursprung und ihren gegenwärtigen Maßstab habe. … Die Bibel ist als göttliches Wort die letzte Lehrautorität.“

Nach der “Entzauberung” der Bibel ist es heute eine Selbstverständlichkeit, die Bibel nicht mehr als Gotteswort sondern als Menschenwort anzusehen:

S. 9: „»Wie bitte?« – So lautet die vermeintlich überrascht indignierte Antwort eines Journalisten auf die theologische Feststellung, dass die Bibel nicht das Wort Gottes ist. Zugetragen hat sich dies bei einem Interview des Kirchenpräsidenten der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau, Peter Steinacker, mit der Zeitschrift ‚Zeitzeichen‘. … Die Bestreitung, dass die Bibel nicht das Wort Gottes sei, vermag noch immer für Aufsehen zu sorgen’. Das ist theologisch erstaunlich, denn Steinacker kann sich in seinen Bemerkungen zum Schriftverständnis auf einen großen Konsens innerhalb der akademischen Theologie berufen. Die Bibel ist nicht mit dem Wort Gottes gleichzusetzen.“
(Vgl. dazu das zitierte Interview in: Zeitzeichen 11/2005, 39-42. Das Interview ist überschrieben mit »Die Bibel ist nicht Gottes Wort«.)

S. 13: „Die Bibelkritik macht auf Fehler und innere Widersprüche in der Bibel aufmerksam, welche die Vorstellung, Gott habe den Verfassern die biblischen Texte diktiert, zusammenbrechen lassen. … Es ist aber keineswegs allein das Aufkommen einer historischen Bibelkritik, die über die Erforschung der Entstehungsbedingungen der Bibel die Identität von Bibel und Gotteswort auflöst. Schwerer wiegt, dass in wesentlichen Teilen biblische Auffassungen mit dem modernen Weltbild in Konflikt geraten. … Die Entzauberung der Bibel als Wort Gottes ist ein Faktum der europäischen Religionsgeschichte in der Moderne. … Der Neuprotestantismus bricht mit der altprotestantischen Vorstellung, die Bibel mit dem Wort Gottes gleichzusetzen und versucht, die Bedeutung der Bibel auf dem Boden historischer Einsichten zu begründen. Das Wort Gottes wird so zum Wort von Menschen.“

Auch die Barth’sche Wort-Gottes-Theologie trennt zwischen Bibeltext und Wort Gottes, traut der Bibel aber zu, dass Gott durch sie zum Menschen spricht:

S. 16/17: „Die Bibel ist ein ganz und gar „menschliches Dokument“ und es sei, so hält Barth ausdrücklich fest, nicht nötig, „diese offene Türe […] immer wieder einzurennen“. … Die Schrift ist daher nicht Gottes Wort im Sinne eines Zustands, sie kann jedoch zum Wort Gottes werden. Diese Wortwerdung fasst Barth als das Ereignis einer Inspiration. … Darum ist das Wort Gottes ein Ereignis und nicht eine den biblischen Texten an sich schon zukommende Eigenschaft. … Barths Wort-Gottes-Theologie gründet darum in einem Gottesbegriff, der eine fulminante Remythisierung der Vorstellung vom redenden Gott darstellt. Gott spricht – und die Bibel ist die ‚Fortsetzung‘ dieses göttlichen Sprechens. … Die Wort-Gottes-Theologie bewahrt in diesem Sinne ein wichtiges Moment des biblischen Gottesbildes.“

Aber auch die Wort-Gottes-Theologie wird hart kritisiert als eitler, autoritärer Biblizismus und „infantile“, „abschreckende“, „mythologisch-magische Vorstellung eines redenden Gottes“, die mit modernem Denken nicht kompatibel ist und große Flurschäden hinterlassen hat:

S. 19: „Seit den 6oer Jahren schwindet der Einfluss der Wort-Gottes-Theologie. … Paul Tillich witterte … in Barths Theologie einen „neuorthodoxen Biblizismus“ … Diese argumentative Selbstabschließung trage, so Tillich, fundamentalistische Züge in sich.“

S. 20: „Wort-Gottes-Theologie kann so ein religiöses Herrschaftsinstrument werden, und die im Umgang mit der Bibel bisweilen unerträglich gekünstelten Eingeständnisse, man wolle allein dem Wort des Herrn dienen, gleichen Unterwerfungsgesten, hinter denen sich ein ungeheures Maß an Eitelkeit verbirgt.“

S. 21: „Identifiziert man so das göttliche Offenbarungshandeln mit dem Begriff des Wortes Gottes, so steht dahinter letztlich eine »mythologisch-magische« Vorstellung eines redenden Gottes.“

S. 22: „Die Wort-Gottes-Theologie hat in der theologischen Landschaft Flurschäden hinterlassen. … Die methodische Haltung, im wissenschaftlichen Argumentationsgang mit Gründen zu operieren, über deren Plausibilität dann selbst keine Rechenschaft mehr abgelegt werden darf und kann, ist jedoch wissenschaftlichem Denken ganz und gar fremd. … Die Remythisierung der Gottesvorstellung, das beharrliche Insistieren darauf, dass Gott redet, stellt eine geradezu gewaltsame Infantilisierung des Gottesbegriffs dar, die vielfach abschreckend und ausschließend wirken muss, weil sie keinerlei Anknüpfungspunkte an modernes kritisches Denken bereithält und darüber hinaus theologisch weit hinter das zurückfällt, was die christliche Tradition über Gott lehrt und bekennt.“

Die Bibel ist gemäß dem heutigen „Grundkonsens“ „durch und durch Menschenwerk“ und „Propaganda“ ohne Interesse für die tatsächliche Geschichte:

S. 23: „Überblickt man diese Folgeschäden der Wort-Gottes-Theologie, so gäbe es durchaus gute Gründe, den Begriff des Wortes Gottes theologisch ganz aufzugeben. Denn daraus gehen zahlreiche Missverständnisse hervor. Besonders deutlich wird dies in der Bezeichnung der Bibel als Wort Gottes. Sie im wörtlichen Sinne als Wort Gottes zu bezeichnen, hat von ihren nachweislichen Entstehungsbedingungen und ihrer religionsgeschichtlichen Verankerung her keinen Anhaltspunkt.“

S. 24: „Unabweisbar stellt sich heraus, dass die biblischen Schriften nicht die aufgezeichneten Worte eines redenden Gottes sind, sondern von Menschen erdachte, verfasste, überarbeitete Texte. … Doch von diesen Einzelfragen zu unterscheiden ist das, was sich in den alttestamentlichen und neutestamentlichen Einleitungswissenschaften als Grundkonsens etabliert hat. Demnach sind die biblischen Texte durch und durch Menschenwerk. Sie sind ganz eingebunden in ihre Zeit und werden in einem komplexen Überlieferungsprozess bei ihrer Weitergabe umgestaltet und fortgeschrieben. Die historisch-kritische Exegese … hat … damit unbestreitbar religiöse Gewissheiten und das Vertrauen in die Bibel erschüttert. … Die großen Geschichtswerke des Alten Testaments sind über Jahrhunderte fortgeschrieben worden, hinter den Prophetenbüchern lassen sich kaum noch konkrete Persönlichkeiten ausmachen, die Evangelien sind nicht von Augenzeugen des Lebens Jesu geschrieben, sondern mindestens eine Generation später und obendrein im Dienste einer Missionspropaganda, die an einer ‚historischen‘ Biographie Jesu gar kein Interesse hatte.“

S. 26: „Doch eines lässt die wissenschaftliche Betrachtung der Bibel ganz außer Zweifel: Sie ist nicht übernatürlich auf geheimnisvolle Weise entstanden. … Heilig kann kein Attribut sein, dass ihr als inhärente Eigenschaft anhaftet.“

An die Stelle der biblischen Heilsgeschichte tritt „Mythos“ und „Fiktion“:

S. 41: „Die biblischen Texte – das ist die unaufgebbare Einsicht der modernen Exegese – sind nicht in einem modernen Sinne als historische Quelle zu gebrauchen.“

S. 44: „Ganz offensichtlich handelt es sich bei diesen biblischen Texten nicht um historische Erzählungen, sondern um Mythen. … Der Mythos ‚antwortet‘ durch eine narrative und fiktive Verarbeitungsleistung darauf, wie Menschen die Wirklichkeit erfahren.“

S. 47: „Die Texte bilden daher nicht einfach historische Ereignisse der Vergangenheit fotografisch ab, sie malen vielmehr ein eigenes Bild der Person Jesu, aus dem seine Bedeutung für die Tradenten hervorgeht. … Es sind nicht die Ereignisse selbst, sondern die Bedeutsamkeit dieser Ereignisse, die aus den Texten spricht. Dabei kommen wie schon im Alten Testament der Mythos und die Semiotisierung von Ereignissen zur Anwendung.“

S. 51: „Selbst der Mythos ist keine ‚Erfindung‘ ohne Anhaltspunkt, sondern eine Verarbeitung von Wirklichkeitserfahrungen mit den Mitteln der Fiktion.“

Die biblischen Texte sind vielfältige „Deutungen religiöser Erfahrung“, „Dichtung“, „religiöse Literatur“, „existentiale Selbstauslegungen“, die das Lebensgefühl von Menschen widerspiegeln:

S. 38: „Die biblischen Texte sind ihrem Wesen nach Deutungen religiöser Erfahrung. In produktiver Anknüpfung an die kulturell vorgegebenen Deutungsmöglichkeiten ihrer Zeit interpretieren sie den Einbruch der Transzendenz in die Lebenswelt der Menschen konkret als Gottesbegegnungen.“

S. 54: „Der als Gottesbegegnung gedeutete Einbruch von Transzendenz setzt eine Vielzahl von menschlichen Reaktionsmöglichkeiten frei. … Daraus ergibt sich notwendigerweise ihre Vielfalt. Es ist zudem damit zu rechnen, dass sich in der menschlichen Ausdrucksbildung Verzerrungen, Verfälschungen und Fehlinterpretationen einstellen.“

S. 40/41: „Die biblischen Texte räsonieren nicht über die Gottesbegegnung, sie erzählen sie. … Die Art der Erlebnisdeutung ist in den biblischen Texten eher mit der Dichtung als etwa mit einem philosophischen Zugang zu vergleichen. Mit gutem Recht lässt sich daher die deutende Wirklichkeitsverarbeitung der Bibel in ihrem ganzen Facettenreichtum als religiöse Literatur beschreiben.“

S. 41: „Die biblischen Schriften sind – um es fundamentaltheologisch zu formulieren – nicht Offenbarung an sich, sondern Deutungen von Ereignissen als Offenbarung.“

S. 87: „Die biblischen Sprachbilder symbolisieren Transzendenzerfahrungen, genauer, sie symbolisieren Gottesbegegnungen.“

S. 89: „Die biblischen Schriften artikulieren … sprachliche Deutungsmuster der Erfahrung von Transzendenz. Dabei interpretieren sie Transzendenz präziser als Gottesbegegnung. … In den biblischen Schriften spiegelt sich das Lebensgefühl von Menschen wider, die ihr Leben im Lichte der Begegnung mit Gott deuten und interpretieren. In diesem Sinne ist die Bibel als literarisches Aus- drucksuniversum religiöser Erfahrung zu verstehen, das religiöse Deutungsmuster für den Umgang mit Transzendenz bereitstellt.“

S. 105/106: „In diesem Sinne sind die biblischen Deutungen immer auch – darin Iiegt die bleibende Bedeutung Rudolf Bultmanns – existentiale Selbstauslegungen. In ihnen artikuliert sich, wie sich Menschen vor dem Einbruch und der Wirksamkeit göttlicher Präsenz verstehen.“

Die Gestalt des Kanons ist bis heute fraglich:

S. 56: „In diesem Prozess nehmen allerdings zeit- und kontextabhängige Erinnerungsinteressen Einfluss, deren Plausibilität schon damals fraglich war und vor allem dann späteren Generationen nicht immer als zwingend erscheinen muss. Die Grenzen zwischen den kanonischen und den apokryphen Schriften, die nicht in den Kanon gelangten, sind daher fließend.“

Die biblischen Texte sind als widersprüchliche „literarische Darstellung religiöser Gestimmtheiten“ gar nicht geeignet, um aus ihnen theologische Lehren zu begründen:

S. 76/77: „Die biblischen Schriften erfüllen … von ihrem Wesen her nicht die Funktion, theologische Lehrbildungen zu begründen. … Als literarische Darstellung religiöser Gestimmtheiten sind die neutestamentlichen Texte im Grunde nicht geeignet, aus ihnen Lehrgehalte zu erheben. … Die biblischen Texte geben das spezifische ‚Lebensgefühl‘ der ersten Christen in seinem ganzen Facettenreichtum wieder, sie fangen religiöse Stimmungen ein und bringen diese literarisch zum Ausdruck.“

S. 79/80/81: „Die Bibel ist in der Breite ihrer Aussagen und Ausdrucksformen nicht auf Lehren zu reduzieren, und schon gar nicht auf eine Lehraussage, sie thematisiert und artikuliert vielmehr ein Universum religiöser Gestimmtheiten. … Der Versuch, eine der Bibel gemäße Theologie zu konstruieren, wirft ein gravierendes Problem auf. Welche Theologie soll dies sein? Es ist ein theologisch sattsam bekanntes Faktum, dass der neutestamentliche Kanon eine Vielfalt von Theologien enthält. … Dieser plurale Charakter der biblischen Schriften ist in der Exegese weitgehend unstrittig: »Die Vorstellung einer Einheit im Sinn einer sich durchhaltenden einheitlichen Dogmatik im Neuen Testament ist eine Fiktion«.“*

*: Seltsam nur, dass auch Lauster selbst von einem durchgängigen “biblischen Gottesbild” eines redenden Gottes spricht (siehe oben), während er hier meint, so etwas wie ein biblisches Gottesbild gäbe es gar nicht.

S. 104: „Von der Exegese führt kein unmittelbarer Weg zum Dogma und auch nicht zur Predigt. Sie zielt vielmehr auf die historische Rekonstruktion vergangener religiöser Sinnbildungs- und Deutungsprozesse im Kontext der Erfahrungszusammenhänge, aus denen sie entstehen.“

Strohmänner und Diffamierung: “Fundamentalismus” ist Bibelvergötzung und vernunftfeindliche „Propaganda“:

S. 15: „Der gesamte vormoderne Vorstellungskomplex vom redenden Gott, der die Bibel diktiert und so zu den Menschen spricht … ist gegenwärtig ein erfolgreiches Modell protestantischer Missionspropaganda.“

S. 30: „Entscheidend daran ist, dass es nach christlichem Verständnis um die Vergegenwärtigung einer Person, Jesus Christus, geht und nicht um die Anbetung eines Buches. … Der Fundamentalismus ignoriert die Unterscheidung zwischen Buch und Person ganz und vergöttert so die Schrift an sich.“*

*: Zum verbreiteten Strohmannargument der Bibelvergötzung siehe der Artikel “Die 5 häufigsten Strohmannargumente gegen ein konservatives Bibelverständnis”

S. 31: „Die Verleugnung oder Ignorierung einer historischen Betrachtung* der Bibel erhöht deren Glaubwürdigkeit keineswegs, sondern untergräbt sie in tragischen Ausmaßen. … Man muss an dieser Stelle Kant bemühen dürfen: »Eine Religion, die der Vernunft unbedenklich den Krieg ankündigt, wird es auf die Dauer gegen sie nicht aushalten“. … Eine tragende Bedeutung der Bibel ist in der Gegenwart nicht an der modernen Entzauberung vorbei oder gar gegen sie, sondern nur durch sie hindurch zu entfalten.“

*: Zum verbreiteten Strohmannargument, konservative Theologie würde das historische Umfeld und den historischen Abstand der biblischen Texte “verleugnen oder ignorieren” siehe der Artikel: “Streit um das biblische Geschichtsverständnis”

Zwischen der „neuprotestantischen“ Theologie und dem “Fundamentalismus” bzw. der Wort-Gottes-Theologie „klafft ein garstiger Graben“:

S. 72/73: „Für das ‚Dogma‘ der Bibel, oder anders formuliert, für eine systematisch-theologische Schriftlehre ergibt sich daraus gegenwärtig eine eigenwillige, ja eine fast skurrile Ausgangssituation. Einerseits finden sich vornehmlich im Fundamentalismus und in der Wort-Gottes-Theologie moderne Restaurierungs- und Reparaturversuche des altprotestantischen Schriftverständnisses. … Dagegen richtet sich andererseits das Verständnis der Bibel in dem weiten Feld des liberalen Neuprotestantismus. … Zwischen dem historischen Verständnis der biblischen Schriften in den exegetischen Disziplinen und dem Bibeldogma klafft ein garstiger Graben.“

S. 96: „Historische und dogmatische Methode sind vielmehr zwei grundverschiedene Stile, Theologie zu treiben, die sich durch alle theologischen Disziplinen ziehen. Die dogmatische Methode erhebt die eigene religiöse Überzeugung zur unhintergehbaren Voraussetzung, während die historische Methode die eigene Religion einer methodisch ausweisbaren, Wissenschaftlichen Überprüfung unterzieht.* … unaufgebbar entscheidend bleibt folgender Grundgedanke: Eine auf Plausibilität zielende Beschreibung des Christentums kann im Kontext der Neuzeit nur eine Beschreibung in rationaler, wissenschaftlicher Durchführung sein. Die historisch-kritische Methode der Exegese ist daher eine konkrete Erscheinungsform dessen, was Troeltsch historische Methode nennt. Sie ist der den neuzeitlichen Rationalitätsstandards sich verdankende Umgang mit den biblischen Texten.“

* Zum verbreiteten Strohmannargument der Vernunftfeindlichkeit konservativer Theologie und der angeblichen Unvoreingenommenheit der universitären Theologie siehe der Artikel „Das wunderkritische Paradigma“: Die traditionelle protestantische Theologie erhebt ja gerade nicht die „eigene religiöse Überzeugung“ zum Dogma, sondern sie nimmt im Gegensatz zur modernen universitären Theologie den Forschungsgegenstand Bibel samt dem bibeleigenen Selbstanspruch zum Wesen der Texte und zu ihrem Offenbarungscharakter ernst gemäß dem Prinzip: Die Schrift muss sich selbst auslegen. Gerade dadurch wird die Bibel vor menschlichen Übergriffen und „Eisegese“ (also das Hineininterpretieren bibelfremder Annahmen in die Texte) geschützt. Die neue Theologie ist hingegen keineswegs methodisch neutral, sondern sie basiert mit ihrem Wissenschaftsbegriff auf einem philosophischen Unterbau, der vom Rationalismus (hier als „neuzeitliche Rationalitätsstandards“ bezeichnet), Naturalismus und Wunderkritik geprägt ist.

Bibelkritik ist heute institutionalisierter Mainstream:

S. 103: „Historische Kritik, die einstmals Rebellion war, ist zur Institution geworden.“

Zwei abschließende Bemerkungen:

  • Es wirkt auf mich angesichts der Dominanz dieser theologischen Sichtweisen seltsam, wenn manche Postevangelikale sich immer noch als Rebellen inszenieren. Sie sind einfach nur auf den Weg des großen Mainstreams volkskirchlicher Theologie abgebogen.
  • Ganz wichtig: Auch in diesem Artikel geht es natürlich in keiner Weise um persönliche Kritik an Prof. Lauster. Es geht schlicht darum, nüchtern die grundlegenden Differenzen im Bibelverständnis transparent zu machen, die Prof. Lauster ja selbst offen anspricht.

Alle Zitate stammen aus Jörg Lauster: Zwischen Entzauberung und Remythisierung, Forum theologische Literaturzeitung, Evangelische Verlagsanstalt Leipzig, 2008

Rachel Held Evans – Ein neuer Zugang zur Inspiration der Bibel?

Eine Gastrezension von Pfarrer Martin Till

In diesem Buch geht es um die die Inspiration der Bibel. Die Autorin ist nicht eine Hermeneutik-Professorin sondern eine begnadete Geschichtenerzählerin und Literaturliebhaberin, die es versteht, den Leser durch ihre lebendigen und authentischen Erzählungen von biblischen Geschichten und Erfahrungen aus ihrem Leben auf eine ganz andere und – wie sie zeigen möchte – angemessenere Weise an die biblischen Berichte heranzuführen. Rachel Held Evans, die leider vor zwei Jahren auf tragische Weise und viel zu früh im Alter von 37 Jahren verstorben ist, kommt ursprünglich aus konservativ evangelikalem Gemeindehintergrund in den Südstaaten der USA. Dort wurde sie gelehrt, die biblischen Texte theologisch und ethisch im Verhältnis 1:1 auf das gegenwärtige Weltbild anzuwenden. Was sie zuerst aktiv verteidigt und vertritt wird ihr im Lauf der Zeit immer fraglicher. Nach ihrem Literaturstudium, ebenfalls an einer evangelikal fundamentalen Hochschule, bricht sie schließlich radikal mit diesem Schriftverständnis und wendet sich der historisch-kritischen Bibelauslegung zu. Sie arbeitet als Kolumnistin und Bloggerin und setzt sich für Minderheiten und Frauenrechte ein. Sie schreibt Bücher, in denen sie sich auf der einen Seite entschieden von ihrer Vergangenheit distanziert aber auf der anderen Seite auch versucht, einen neuen, positiven Zugang zur Bibel zu finden. Die Beobachtung, dass das Narrativ (Erzählen von Geschichten) die wohl am häufigsten in der Bibel verwendete Literaturgattung ist, wird zur Grundlage ihres hermeneutischen Ansatzes. Sie versucht in diesem Buch in acht Kapiteln über acht Hauptgruppen biblischer Literatur zu zeigen, dass es immer wieder erzählte und erlebte Geschichten waren, die die biblischen Autoren bewegt haben und durch die sie ihre Botschaft vermitteln wollten. Für Held Evans ist die Bibel insgesamt „die größte Geschichte die wir uns vorstellen können“ (218). Historische Hintergründe will sie nicht abstreiten, sie sind aber für ihren Ansatz letztlich nicht wichtig.  In Inspired schlägt Held Evans deshalb einen Mittelweg vor, der sowohl „strikten Literalismus“ als auch „selbstsicheren, desinteressierten Liberalismus“ vermeidet (xxii). Ihr Hauptanliegen dabei ist, dass die inspirierte Schrift immer zur aktiven Tat, zum Einsatz für verfolgte und unterdrückte Minderheiten führt.

Parallelen zu meiner Biografie

Von meiner eigenen Biografie her kann ich Rachel Held Evans Anliegen gut verstehen. Zwar verlief  die Entwicklung in meinem Leben genau gegensätzlich zu der ihrigen, aber die Parallelen sind doch auffallend. Aus liberalem landeskirchlichem Hintergrund kommend wurden mir im Religionsunterricht und in der Gemeinde als junger Mann faszinierende und aufrüttelnde sozialpolitische Ziele und Aktionen vor Augen geführt. Alle Bibelauslegung gipfelte damals für mich in der Bergpredigt und entsprechend wurde ich aktiv in der Altenarbeit und im Einsatz für Gefangene. Mein Problem war allerdings, dass unter der Decke all dieser Aktivitäten meine persönlichen Fragen und Probleme weitgehend ungelöst blieben und mir auch eine ausgedünnte und überalterte Ortsgemeinde dabei nicht wirklich weiterhelfen konnte.  Das wurde erst anders als ich durch eine Sommerfreizeit zum ersten Mal mit begeisterten jungen evangelikalen Christen in Kontakt kam, die mir nicht nur Freundschaft, Liebe und Respekt entgegenbrachten, sondern die mir Nachfolge Jesu authentisch vorlebten und mir die Bibel als feste Orientierung und geistliche Kraftquelle attraktiv machen konnten. Erst jetzt erfuhr ich mein Christsein als persönliche und befreiende Beziehung zu Jesus. Eine ganz neue Dimension der Bibel öffnete sich mir nun – vor allem auch im Studium des Johannesevangeliums, der Psalmen und des Römerbriefs. Ich wurde Mitarbeiter in der Jugendarbeit, später Pfarrer und schließlich Missionar.

Lange hatte ich auf diesem neuen Glaubensweg eine absolut negative Einstellung zu meiner christlich-sozialen Vergangenheit bis ich in meiner Arbeit als Missionar in Guinea-Bissau, West Afrika, zum ersten Mal „live“ die Armut und Ungerechtigkeit als Folge kolonialer Unterdrückung verstärkt durch Jahre kommunistischer Misswirtschaft erlebt habe. Bis heute leidet das guineische Volk noch unter korrupten Politikern und einer Drogenmafia, die jede Entwicklung des Landes systematisch zu verhindern sucht. Dringend braucht es da neben der biblischen Botschaft auch praktische Hilfe und Einsatz für die benachteiligten Randgruppen der Gesellschaft. Da war also offenbar doch ein wichtiges Element in der sozialen Praxis der Gemeinde, die ich als junger Mann erlebt hatte! Das Evangelium, so habe ich es seither in auch in vielen anderen weltmissionarischen Zusammenhängen erfahren, muss zwar in der Verkündigung von Kreuz und Auferstehung Jesu ihren Mittelpunkt haben, aber es muss sich auch um die ganzheitlichen Nöte der Menschen kümmern, sonst bleibt es unglaubwürdig. In der Sprache der Hermeneutik ausgedrückt: eine Kombination von Römerbrief und Bergpredigt! Wäre das ein Mittelweg zwischen „liberal und literal“, wie Held Evans ihn vorschlägt? Wäre das ein denkbarer Kompromiss?

Gute Einsichten und ein Spitzensatz

Dafür spricht in diesem Buch, dass Held Evans zurecht immer wieder auf die praktischen Konsequenzen im Leben hinweist, die die Auslegung jede der biblischen Literaturgattungen haben muss, auf die sie in ihrer Argumentation eingeht. Hermeneutik muss unser Leben praktisch beeinflussen, muss das Evangelium für die Welt sichtbar machen! Auch hat Held Evans meine Zustimmung darin, wenn sie sich dagegen wehrt, biblische Aussagen einfach 1:1 auf unser modernes Weltbild zu übertragen. Wer die Bibel einfach als Patentantwort für alle unsere Lebensfragen verwenden will, steht in der Gefahr, die Bibel von unserem gegenwärtigen Weltverständnis her „in den Griff“ zu nehmen, sich über sie zu stellen. Und er bewegt sich damit gefährlich nahe an einem  „Wohlstandsevangelium“, das Menschen am Ende immer enttäuscht und zerbrochen zurücklässt.  Einer der Spitzensätze von Held Evans ist, dass die Bibel sich so selten „benimmt“ wie wir es wollen (13). Wie wahr ist das! Wie viele haben schon gedacht, sie hätten den Generalschlüssel zu ihrer richtigen Auslegung in der Tasche und haben am Ende doch nur ihre eigenen Dogmen verstärkt und wichtige andere Aspekte der biblischen Botschaft vernachlässigt.

Ein halbherziger Kompromiss zur HKM

Leider ist da aber doch ein entscheidender Punkt in Held Evans Gedankenführung, der mich zurückschrecken lässt, auf den von ihr vorgeschlagenen Kompromissweg einzugehen. Denn so entschieden und leidenschaftlich – manchmal fast sarkastisch – sie sich von der „literalen“ bibelgläubigen Seite distanziert, so halbherzig und knapp tut sie das auf der anderen Seite gegenüber der „liberalen“ historisch-kritischen Exegese, der sie sich nach ihrer Abkehr von ihrer konservativen Vergangenheit zugewendet hatte.  Außer einer wiederholt zum Ausdruck gebrachten Sympathie für die biblischen Geschichten so wie sie dastehen, und außer der ehrlichen Schilderung ihrer intellektuellen Schwierigkeiten mit dem Inhalt mancher biblischer Berichte (vor allem der Kriegs- und Wundergeschichten!) gibt es keine Aussagen im Buch, die auch nur andeutungsweise ein Resultat der historisch-kritischen Exegese in Frage stellen würden. Im Gegenteil, die Schöpfungsberichte werden von ihr als historisch irrelevant und erst von der Exilgemeinde in Babylon entwickelte theologische Antwort an die Religion und Weltanschauung der Babylonier bewertet. Sie charakterisiert die Urgeschichte zwar als „Narrativ“, vergisst aber, dass es sich literarisch hier im Gegensatz zu den babylonischen Schöpfungsmythen eindeutig um „historisches Narrativ“ handelt (wie auch im ganzen Rest des 1.Buch Mose!), das eben nicht nur von Mythen und Symbolen, sondern von realen geschichtlichen Ereignissen reden will. Von den Wunderberichten des Neuen Testaments räumt Held Evans ein dass sie durchaus „farbenfrohe Übertreibungen von Ereignissen“ sind, die „geschehen oder nicht geschehen bzw. erzählt“ (worden) sind (179). Dabei ist sie sich wohl bewusst, dass in Analogie zur Fleischwerdung Jesu die biblischen Berichte eigentlich auch „leibhaftig“ verstanden und ausgelegt werden müssten. Im Blick auf die Faktizität der Auferstehung zum Beispiel räumt sie ein, dass ein farbiger Pastor ihr gegenüber einmal die leibliche Auferstehung mit den Worten begründet hat: „Wenn es bei der Auferstehung nur um Auferstehung in der Erinnerung und in den Herzen geht, ist das keine sehr gute Nachricht für meine Leute“ (178). Aber trotzdem kann sich Held Evans nie dazu durchringen, kritische Ergebnisse der historisch-kritischen Methode auch nur andeutungsweise in Frage zu stellen. So muss ihr Kompromiss zwischen „literal“ und „liberal“ letztlich halbherzig und unglaubwürdig bleiben.

Inspiriert oder kulturbedingt?

Unter Inspiration versteht Rachel Held Evans letztlich die Tatsache, dass Gott durch Menschen in menschlichen Umständen und trotz aller Fehler und Irrtümer dennoch seine „große Geschichte“ schreibt. Die Hauptaufgabe moderner Hermeneutik sieht sie darin „kulturell bedingte Annahmen von allgemeingültigen Wahrheiten zu trennen“ (203). Es muss an dieser Stelle die Frage erlaubt sein, wie sie im Einzelnen das Kulturbedingte von der allgemeiner Wahrheit unterschieden will ohne dabei „inspirierte“ Gedanken mit dem eigenen theologischen und ethischen Vorverständnis zu vermischen. Dass das schon automatisch durch die wissenschaftliche Auslegung im historischen Kontext mit Hilfe historisch-kritischer Arbeitsschritte garantiert wäre, kann aber nur der ernsthaft glauben, der nie mit solchen Werkzeugen gearbeitet hat.

Leider hat man beim Lesen von Held Evans Buch je länger je mehr dann genau diesen Eindruck: dass ihr sozial-aktivistisches Vorverständnis die Auslegung der biblischen Geschichten immer wieder entscheidend beeinflusst. Dabei muss ihr zugutegehalten werden, dass sie im Verlauf des Buchs nicht nur befreiungstheologische Standardtexte wie Exodus (Befreiung aus Ägypten), Deutero-Jesaja (Befreiung aus dem Exil) und die kleinen Propheten (Kritik an der Unterdrückung durch die Israelitischen Führer) in den Blick nimmt. Bewusst geht sie gerade auf die für sie schwierigsten Kapitel im Alten Testament ein: die „Kriegsgeschichten“ (61ff) bei Josua, den Richtern und den Königen. In ihnen erkennt sie Gewaltanwendung als biblische Realität an, will aber diese Texte trotzdem nicht per se von der biblischen Inspiration ausschließen. Am Ende will sie ihnen göttliche Eingebung wenigstens im Sinne einer Wahrnehmungshilfe für die Grausamkeit gegenwärtiger militärischer Konflikte zugestehen. Trotz aller Ehrlichkeit wird aber gerade hier deutlich, wie wenig offen Held Evans für die Gesamtbotschaft der Bibel ist. Ohne biblische Begründung kann sie schreiben: „Gott würde eher durch Gewalt umkommen als sie auszuüben“(77). Und per Zitat einen Autor sagen lassen: „Am Kreuz wurde der teuflische und gewaltsame „Krieger-Gott“, dem wir uns viel zu oft verschrieben haben, für immer verworfen“ (77). Die Frage bleibt, warum dann solche Berichte trotzdem so häufig in der Bibel stehen. Wieso wird Gott in Stellen wie Exodus 15,3 ausdrücklich als „Streiter“ (warrior) bezeichnet? Oder wie kommt es, dass in Offbg. 19,11ff der wiederkommende Christus eben nicht mehr arm auf einem Esel, sondern siegreich mit Schwert und Streitroß einreitet. Natürlich macht das Neue Testament klar, dass uns als Jünger Jesu Gewalt grundsätzlich verwehrt ist, aber Gott, der sich in Jesus im Fleisch offenbart, bleibt dennoch der Heilige! Sein Zorn bleibt eine biblische Wirklichkeit, und zwar von Genesis bis Offenbarung!

Kein biblischer Blick in die Zukunft?

Ähnliche Fragen an die Autorin stellen sich auch nach der Lektüre ihres 2. und 5.Kapitels über die prophetische und apokalyptische Literatur der Bibel. Kategorisch lehnt Held Evans hier die Zukunftsrelevanz aller prophetischen Schriften im AT und NT ab. Propheten reden grundsätzlich nur in ihre Gegenwart hinein. Apokalyptische Schriften sind nichts anderes als in die Zukunft verpackte Gegenwartsanalysen und lediglich dazu da, der gegenwärtigen Gemeinde Hoffnung und Kraft im Widerstand gegen die „Bestien“ der antichristlichen Königreiche (Babylon, Persien, Rom) zu geben. Das ist zwar nicht falsch, nimmt aber in seiner Einseitigkeit der Schrift nicht nur die Glaubwürdigkeit der messianischen Erfüllung alttestamentlicher Voraussagen, sondern auch die Aktualität und Stoßkraft ihrer Botschaft für die Zeitperiode, die der Wiederkunft Jesu unmittelbar vorausgeht. Natürlich warnt Jesus die Gemeinde vor Endzeit-Spekulationen und Berechnungen seiner Wiederkunft, aber er gibt der Gemeinde doch auch in allen drei synoptischen Evangelien sehr konkrete Zeichen und Anweisungen für diese Zeit, die sie auf die Kämpfe vor seinem sichtbaren Kommen vorbereiten sollen.

Was schützt uns vor unseren Vorurteilen?

Bleibt die Frage, was denn tragfähige(re!) Kriterien sein können, die Ausleger vor vorgefertigten Linsen und Vorurteilen in der Bibelauslegung schützen können. Held Evans schlägt vor, statt vorgefertigten Dogmen und Schlagworten lieber die biblischen Geschichten selbst sprechen zu lassen. Sie spricht von der „magischen Anziehungskraft“ (xi, xii, xxi, u.a.), die dieses Buch auf sie hatte und noch stets hat – trotz des Traumas, das sie durch ihren gesetzlich-engen Gemeindehintergrund in ihrer Kindheit und Jugend erfahren hat. Sie erwähnt das Vorbild ihrer eigenen Eltern, deren Bibelglauben sie trotz allem annehmen konnte, weil sie „auf ihre Fragen mit Einfühlungsvermögen geantwortet haben“ (xvii). Könnte die Antwort auf die Frage einer vorurteilsfreieren Bibelauslegung von hier her ihre Lösung finden? Martin Luther und die Reformatoren haben mit dem Schriftprinzip („Die Schrift legt sich selbst aus“) dazu ja schon lange einen entscheidenden Beitrag geleistet. Natürlich kann jeder Ausleger auch in den Prozess der Auslegung der Schrift mit der Schrift seine eigenen Meinungen und Vorurteile eintragen. Wenn aber in den Prozess die ganze Gemeinde einbezogen wird und dabei die Bekenntnisse als Maßstab zugezogen werden erweist sich meines Erachtens jedoch die Schrift selbst immer wieder als die tragfähigste und gegen Vorverständnisse am besten geschützte hermeneutische Grundlage.

Woher kommt die Kraft zur Umkehr?

Was schließlich bis zuletzt unklar bleibt in Held Evans Buch ist die Frage, woher denn die innere Kraft kommen soll, um den Kampf gegen die Unterdrückung und Ausgrenzung, die – wie sie schreibt – „harte Arbeit von Buße und Wiederherstellung“ (127) leisten zu können. Damit komme ich zurück zum Beginn dieses Artikels. Das war ja genau das Problem in meiner frühen Nachfolge: Ich hatte gute biblische Ziele, hatte das hohe Vorbild Jesu in der Bergpredigt. Aber ich hatte keine Hilfe zur inneren Veränderung, keine Hinführung zu einem neuen Leben aus dem Geist Gottes. Und vor allem keine lebendige Gemeinschaft, in der das alles sichtbar geworden wäre. Wären da nicht doch die Themen Sündenvergebung, Wiedergeburt und Heiligung von entscheidender Bedeutung, die Held Evans im ganzen Buch so vehement als gesetzlich und eng zurückzuweisen versucht? Themen, die ja nicht erst die Südlichen Baptisten in den USA erfunden haben, sondern die für die Kirche aller Zeiten wichtige Bestandteile der Lehre waren – neben allem daraus entstehenden sozialen und diakonischen Engagement? Bezogen auf das Buch: Müsste die Möglichkeit glaubwürdigen und tatkräftigen Christseins, die Held Evans bei ihren eigenen bibelgläubigen Eltern gesehen hat, prinzipiell dann nicht auch konservativen evangelikalen Gemeinschaften als Ganzes zugestanden werden können, wenn sie sich um das eben beschriebene Gleichgewicht zwischen innerer Erneuerung und daraus folgender Tat bemühen?

Eine demütige Haltung zur Schrift

In ihrem ganzen Buch schätze ich am meisten Rachel Held Evans Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit. Immer wieder gesteht sie ihre eigenen Grenzen ein, immer wieder ist sie bereit zuzugeben, dass sie auf manche Fragen schlicht keine Antwort hat. Diese Einstellung ehrt Gott in seiner Souveränität und Freiheit. Diese Haltung ehrt letztlich auch die Schrift, die immer über unseren Bemühungen zur Auslegung steht. Bei allen Fragen, die ich an Rachel  Held Evans gestellt habe, will ich mich ihr an diesem Punkt doch gerne anschließen. Bei mehr Bibeltexten und bei mehr christlichen Lebensentwürfen als uns lieb ist werden wir wahrscheinlich erst in der Ewigkeit erkennen, was Gott wirklich darüber gedacht hat.


Evans, Rachel Held. Inspired: Slaying giants, walking on water, and loving the Bible again. 2018. Nashville (TE): Nelson Books. 236 Seiten in englischer Sprache. Zitate wurden vom Autor aus dem Englischen übersetzt.

 

Rachel Held Evans – Eine postevangelikale Hoffnung für die Kirche?

In den letzten Wochen war der Worthaus-Podcast „Das Wort und das Fleisch“ mein stetiger Begleiter auf dem Weg zur Arbeit und wieder zurück. Die Einsichten über die Entwicklung der verschiedenen christlichen Strömungen seit den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts sind ohne Frage sehr unterhaltsam und hochinteressant. Am Ende lassen sie mich aber doch ein wenig ratlos zurück. Denn den vielen Verfallserscheinungen allerorten werden kaum hoffnungsvolle Perspektiven gegenübergestellt. Immerhin: Am Ende der Folge 10 über die „neuen Evangelikalen“ wird die (leider inzwischen verstorbene) US-Amerikanerin Rachel Held Evans als wegweisende Impulsgeberin vorgestellt. Ihr Bild ziert auch die Internetseite zu dieser Podcastfolge. Das hat mein Interesse geweckt. Ist da vielleicht wirklich ein Schatz zu finden, der wegweisend sein könnte für eine hoffnungsvolle Zukunft der Kirche Jesu?

Es ist kompliziert

Rachel Held Evans hat mehrere Bücher verfasst. Gelesen habe ich das Buch „Searching for Sunday“, das auf Deutsch unter dem Titel „Es ist kompliziert“ erschienen ist. Darin erzählt Evans auch ihre eigene Glaubensgeschichte. Aufgewachsen in einem traditionell evangelikalen Umfeld war sie lange Zeit eine engagierte Verfechterin typisch evangelikaler Standpunkte. Jedoch bekam ihr Glaubenssystem zunehmend Risse. Schließlich verließ sie ihre evangelikale Heimatgemeinde, weil sie „nicht so tun konnte, als würde ich Dinge glauben, an die ich nicht mehr glaubte.“ (S. 110) Anstoß nahm sie an weit verbreiteten evangelikalen Positionen wie der Unfehlbarkeit der Bibel, der Infragestellung der Evolutionstheorie oder dem Umgang mit dem Thema „Gericht und ewige Strafe“. Große Probleme bereiteten ihr zudem die oft fehlende Offenheit für Frauen in Leitungsämtern, der ablehnende Umgang mit LGBT (lesbisch, schwul, bisexuell, transgender)-Menschen, die weitgehend republikanisch geprägte politische Ausrichtung sowie die allgemein empfundene Unehrlichkeit im Umgang mit schwierigen Glaubensfragen. Nach einer gemeindelosen Zeit nahm Evans an einem Gemeindegründungsprojekt teil, das aber scheiterte. Schließlich schloss sie sich mit ihrem Mann einer episkopalen Gemeinde an.

Hin- und hergerissen

Immer wieder spürt man Rachel Held Evans ihre Zerrissenheit in Bezug auf die Evangelikalen ab. Als präzise Zusammenfassung ihres Zustands zitiert sie den Satz: „Also für mich sieht es so aus, als wäre der Evangelikalismus so was wie der Freund, mit dem du vor zwei Jahren schlussgemacht hast, auf dessen Facebookseite du aber immer noch regelmäßig zwanghaft vorbeischaust.“ (S. 297) Tatsächlich war sie trotz ihrer Abkehr vom Evangelikalismus durch ihren äußert erfolgreichen Blog jahrelang eine vielgefragte Referentin auf christlichen Konferenzen. Und auch wenn sie mit vielen Dingen in der evangelikalen Welt hadert, so verliert sie in ihrem Buch doch nie ihre Sehnsucht, in ihrem „Glauben zu Hause zu sein“ und darin „festen Grund unter den Füßen zu haben.“ (S. 245) Allerdings will sie sich dabei auf keinen Fall entscheiden müssen „zwischen Glaube und Wissenschaft, Christentum und Feminismus, der Bibel und der historisch-kritischen Methode, Lehre und Mitgefühl … Natürlich wollte ich glauben, aber ich wollte so glauben, dass meine intellektuelle Integrität und meine Intuition dabei keinen Schaden nahmen, so, dass sowohl Herz als auch Verstand voll beteiligt waren.“ (S. 91) Es ist ohne Zweifel kompliziert, einen fest gegründeten, heimatgebenden Glauben auf der Basis von historisch-kritischer Theologie zu entwickeln. Warum für Evans die Akzeptanz der historisch-kritischen Methode als Voraussetzung gilt, um intellektuell integer glauben zu können, wird im Buch leider nicht begründet.

Grenzen sind böse – ich muss mich abgrenzen!

Wie so oft in der postevangelikalen Welt begegnet uns auch bei Rachel Held Evans dieser typische Widerspruch zwischen einer leidenschaftlichen Ablehnung von Grenzen bei gleichzeitiger Abgrenzung vom Evangelikalismus. In den Worten von Evans hört sich das so an:

„Besonders der Evangelikalismus hat in den letzten Jahren ein Wiederaufleben der Grenzkontrollen erlebt. Dabei haben Allianzen und Koalitionen, die sich um gemeinsame theologische Themen gebildet haben, zweitrangige Angelegenheiten zu solchen von höchster Priorität erhoben. Alle, die nicht ihrem strengen Reglement bezüglich Glaubenssätzen und Verhaltensweisen gerecht werden, erklären sie als ungeeignet für die Gemeinschaft der Christen. Stets dazu verpflichtet, die Kirche von jedem fehlgeleiteten Gedanken, von jeder Meinungsverschiedenheit oder abweichenden Verhalten zu säubern, schnüren diese selbst ernannten Wächter schwere Pakete legalistischer Regeln und laden sie auf die Schultern matter Menschen. Sie sieben die Schmeißfliegen aus der Theologie aller anderen heraus, während sie ihre eigenen Ungereimtheiten von der Größe eines Kamels herunterschlucken. Sie schlagen den Leuten die Tür zum Reich Gottes vor der Nase zu und sagen ihnen, sie sollen wiederkommen, wenn sie nüchtern seien, wieder auf eigenen Füßen stehen können, Republikaner, geläutert, ohne Zweifel, ergeben, hetero. Aber das Evangelium braucht keinen Bund mit dem Ziel, die falschen Leute draußen zu halten.“ (S. 216) „Es gibt Denominationen, von denen ich nicht guten Gewissens ein Teil sein könnte, weil sie Frauen von der Kanzel und Schwule und Lesben vom Tisch des Herrn verbannen. … Dispute über die Glaubenslehre mögen in manchen Fragen vernachlässigbar sein, manche sind es aber auch wert, dass man sie ficht. Immerhin sind wir eine Familie, also streiten wir auch wie eine.“ (S. 257)

Evangelikalen wirft man ja häufig vor, die Sexualethik zum Hauptstreitpunkt zu machen, obwohl sie doch ein biblisches Randthema sei. Hier wird wieder deutlich: Es sind eben auch die Postevangelikalen selbst, die genau diese sexualethischen Fragen zum zentralen Streitthema machen, während sie das evangelikale Ringen um die Bewahrung zentraler Glaubensinhalte eher zur ausgrenzenden Rechthaberei erklären.

Sehnsucht nach Authentizität, Identität und Gemeinschaft ohne Grenzen

Wer glaubt, man könne Menschen wie Rachel Held Evans durch kulturell modernere Gemeinden oder durch mehr kluge Apologetik für den Evangelikalismus zurückgewinnen, täuscht sich. Evans schreibt: „Wir wollen kein moderneres oder hipperes sondern wahrhaftiges und authentisches Christentum.“ (S. 17) „Das letzte, das wir brauchen, ist mehr Information über Gott. Wir brauchen die Praxis der Auferstehung. … Sie wollen um jeden Preis mehr Gott erfahren. Nicht mehr über Gott. Mehr Gott.“ (S. 21) Am meisten bewegt hat mich dabei der Schrei nach Identität: „Wir alle sehnen uns danach, dass uns jemand sagt, wer wir sind. Der größte Kampf im Leben eines Christen ist es, den Namen, den Gott für uns hat, anzunehmen, zu glauben, dass wir geliebt sind, und zu glauben, dass das genug ist.“ (S. 49) Dazu sehnt sich Held nach einer Gemeinschaft, die alle gesellschaftlichen und kulturellen Grenzen überwindet und die Liebe Gottes durch uneingeschränkte gegenseitige Annahme sichtbar macht: „Eine Mahlzeit ist sakramental, wenn die Reichen und die Armen, die Mächtigen und die Randfiguren, Sünder und Heilige gleichberechtigt am Tisch sitzen. Eine Ortsgemeinde ist sakramental, wenn sie ein Ort ist, an dem die Letzten die Ersten sind und die Ersten die Letzten sind, und wenn diejenigen, die hungrig und durstig sind, zu essen und zu trinken bekommen. Und die Weltkirche ist sakramental, wenn sie keine geografischen Grenzen kennt, keine politischen Parteien, nicht eine vorherrschende Sprache oder Kultur und wenn sie sich nicht durch Macht und Gewalt vergrößert, sondern durch Handlungen der Liebe, der Freude und des Friedens, durch Missionen der Barmherzigkeit, der Freundlichkeit und der Demut.“ (S. 324)

Ich kann all das so gut verstehen. Mehr noch: Die Träume von Rachel Held Evans sind auch meine Träume! Die Sehnsucht nach Identität steht sogar im Mittelpunkt des Glaubenskurses Aufatmen in Gottes Gegenwart. Die Frage, wie Informationen über Gott in eine existenzielle Gottesbegegnung münden können, treibt mich ebenso um. Und selbstverständlich sehne auch ich mich nach christlichen Gemeinschaften, denen es gelingt, kulturelle und gesellschaftliche Barrieren zu überwinden und das zu leben, was in unserer Gesellschaft zwar dauernd lautstark gefordert aber doch nur selten gelebt wird: Liebevolle Gemeinschaft in vielfältiger Diversität, weil wir vor Gott alle gleich sind und das Evangelium alle kulturellen Grenzen sprengt. Ohne Zweifel versagen wir Evangelikalen oft bei diesen Themen. Ich frage mich jedoch: Können das die Progressiven, die Postevangelikalen und die Liberalen wirklich besser als die Evangelikalen?

Live it out!?

Scheinbar ja! Diesen Eindruck vermittelt zumindest Rachel Held Evans bewegender Bericht von der „Live it out“-Jahreskonferenz des Netzwerks homosexueller Christen. In hochemotionalen Treffen wird da der Schmerz von homosexuellen Christen verarbeitet, die in ihrem evangelikalen Umfeld viel Ablehnung erlebt haben. Wen könnte es kalt lassen, wenn homosexuelle Menschen endlich Verständnis und Annahme finden und wenn Ex-Evangelikale um Vergebung für frühere Ablehnung und Ausgrenzung bitten? Zumal es ja ohne Zweifel stimmt, dass viele Evangelikale im Umgang mit homoerotisch empfindenden Mitchristen viel Schuld auf sich geladen haben.

Und doch wurde mir gerade bei diesem Kapitel die Schwäche dieses Buchs deutlich: „Live it out“ funktioniert ja nur, solange man ausblendet, wie abgründig unsere menschliche Sexualität sein kann. Das geht auf Events und Konferenzen, aber nicht in Gemeinden, die Menschen dauerhaft begleiten müssen. Und auf Dauer kommt auch eine sexualethisch liberal geprägte Gemeinschaft nicht an der Frage vorbei, wie man mit Menschen umgeht, denen man insgesamt eben doch nicht unbedingt nach dem Mund reden kann. Denn selbst wenn ich heute zur praktizierten Homosexualität ja sage, stellt sich ja morgen die Frage: Wie gehe ich mit denen um, die in häufig wechselnden Partnerschaften oder polyamor leben (wollen)? Wie gehe ich mit denen um, die ein Kind abtreiben wollen, weil es der Karriere im Weg steht? Oder um ein aktuelles Beispiel aus meiner evangelischen Kirche aufzugreifen: Wie gehe ich mit denen um, die aktive Sterbehilfe praktizieren wollen? Sage ich da auch: „Live it out“?

Die menschliche Begierde nach Sex hat schon unzählige Menschen tief verletzt, Familien zerbrochen, Kindern ihre Heimat geraubt sowie unzähligen Prostituierten und Pornodarstellern ihre Würde und ihr Leben zerstört. Ich will deshalb in einer Gemeinde leben, die einem Mann mit einer kranken Frau nicht sagt: „Live it out“ sondern: Bleib treu, auch wenn es für Dich bedeutet, dass Du Deine Sexualität nicht ausleben kannst. Die eigentliche Herausforderung beginnt für alle Gemeinden da, wo wir sagen müssen: Lass es sein! Lebe heilig! Und halte Dich an den Gott, der besser weiß als wir, wie das Leben funktioniert und was wirklich ein Ausdruck von Liebe ist!

Deshalb beeindrucken mich Sprüche wie „Live it out“ oder „Bei uns sind alle willkommen“ wenig, solange man die Spannung zwischen Anspruch und Wirklichkeit christlicher Lebensführung einfach dadurch auflöst, dass man sich auf einen engen Ausschnitt fokussiert und behauptet, der biblische Anspruch existiere gar nicht. Auf Dauer kann sich keine christliche Gemeinschaft drücken vor dem anspruchsvollen Spannungsfeld zwischen Liebe und Wahrheit, zwischen menschlicher Annahme und notwendiger Konfrontation mit biblischer Ethik.

Wo ist das Tor zum Paradies?

Was mir generell fehlt in diesem Buch sind fundierte Antworten auf die Frage, wie wir denn die paradiesischen, alle Grenzen überwindenden Gemeinschaften bauen sollen, von denen ich ebenso träume wie Rachel Held Evans? Sätze wie diese hören sich ja wundervoll an: „Stellt euch vor, die Kirche würde zu einem Ort, an dem alle sicher sind, es aber niemand bequem hat. Stellt euch vor, die Kirche würde zu einem Ort, an dem wir einander die Wahrheit sagen. Es könnte tatsächlich passieren, dass wir ein Heiligtum schaffen.“ (S. 120) Tja, warum tun wir es dann nicht einfach? Warum sprießen nicht längst schon massenhaft neue progressiv/postevangelikale Gemeinden aus dem Boden, die die evangelikale Enge und Oberflächlichkeit hinter sich lassen und die Träume von offener, authentischer und ehrlicher Gemeinschaft in die Praxis umsetzen? Warum ist es ganz im Gegenteil so, dass der Liberalismus nach wie vor nur eine kleine Minderheit in der US-amerikanischen Kirchenlandschaft repräsentiert?

Ich glaube, das hat einen einfachen Grund: Es ist eben leicht, von grenzenlosen Gemeinschaften zu träumen. Es ist aber enorm schwer, sie tatsächlich zu bauen. Solche Träume funktionieren immer nur so lange, bis wir ganz konkret damit anfangen, mit echten Menschen echte Gemeinschaften aufzubauen. Jeder, der das schon versucht hat, weiß: Wenn unsere kitschigen Träume von grenzüberwindender Gemeinschaft von der harten Realität unserer Ecken und Kanten, unserer oft schwer erträglichen Verbiegungen, unseres Misstrauens, unseres Neids, unserer Vorurteile, unseres Hangs zur Manipulation, unserer Ichbezogenheit, unserer Arroganz, unserer Konsumhaltung und Faulheit eingeholt wird, dann erst zeigt sich, ob unser Evangelium die Kraft hat, das Wunder dauerhafter, liebevoller und heilsamer Gemeinschaften hervorzubringen. Und ich bin überzeugt: Erlöste Gemeinschaft wächst eben doch nur dort, wo Menschen durch das Kreuz erlöst worden sind.

Wasch mich, aber mach mich nicht nass

Manchmal scheint Rachel Held Evans dieses Problem zu spüren, wenn sie zum Beispiel schreibt: „Dieser Tage haben alle so ihre Meinung, warum Menschen die Kirche verlassen. Manche wollen das Problem lösen, indem sie das Christentum gefälliger machen – du weißt schon, den ganzen seltsamen mystischen Kram von wegen Sünde, Dämonen und Tod und Auferstehung weglassen und durch Selbsthilfebücher, Politik, theologische Systeme oder hippe Kaffeebars ersetzen. Aber manchmal glaube ich, was die Kirche am meisten braucht, ist die Wiederentdeckung ihrer seltsamen Seiten.“ (S. 52) Wie wahr. Genau darunter leide ich ja so sehr in meiner evangelischen Kirche. Der alte Versuch der liberalen Theologie, das Christentum durch Entmythologisierung intellektuell hoffähig zu machen, raubt ihm zugleich seine Kraft. Rachel Held Evans spürt also selbst, dass ein geschichtsloser, zeitgeistiger Glaube keine Wurzeln verleihen kann. Und doch scheint mir: Mit Sätzen wie dem folgenden zerstört sie wieder selbst genau diese Wurzeln:

„Im schlimmsten Fall hält die Kirche die Sakramente zurück in dem Versuch, Gott in einer Theologie, einem Regelverzeichnis, einem Glaubensbekenntnis, einem Gebäude einzuschließen.“ (S. 225)

Meine evangelische Kirche müsste demnach ein leuchtendes Hoffnungsmodell sein. Sie hat schon längst aufgehört, irgendjemand die Sakramente vorzuenthalten. Theologische Häresien kennt sie praktisch nicht. Regeln kennt sie eigentlich nur noch im Kirchenrecht, aber nicht mehr im Leben der Gläubigen. Und es gibt längst keinen Satz im apostolischen Glaubensbekenntnis mehr, der nicht von Theologen an den evangelischen Fakultäten bestritten worden wäre. Trotzdem ist sie weit davon entfernt, dass unter ihrem Dach viele hoffnungsvolle Gemeinschaften mit liebevoller Diversität heranwachsen.

Mich wundert das nicht. Denn ein Glaube, der Halt und Wurzeln verleiht, lebt davon, dass er aus etwas gespeist wird, das größer ist als wir selbst. Glaube lebt auch von der Ehrfurcht vor dem Heiligen, von einer mir übergeordneten Autorität, vor der ich mich beuge und an der ich mich zugleich festhalten kann. Anders ausgedrückt: Glaube, der Halt und Wurzeln verleiht, lebt von Theologie, Regeln und Bekenntnissen, die letztlich nicht menschengemacht sind, sondern die uns geschenkt und offenbart werden. Wer Gottes Königreich ohne die Gebote des Königs, wer die Wurzeln ohne die Regeln haben möchte, der lebt nach dem Motto: Wasch mich, aber mach mich nicht nass.

Die Kirche wird natürlich niemals vollkommen sein in ihrem Versuch, die Theologie, die uns in der Bibel von Jesus, von den Aposteln und den Propheten überliefert wurde, genau zu erfassen und zu vermitteln. Aber wenn sie aufhört, der biblischen Theologie in einer demütigen, sich unterordnenden Haltung nachzuspüren, sich unter das Erkannte zu beugen und daraus Regeln für das Leben und Bekenntnisse für unseren Glauben abzuleiten und daran auch den Segen und das Heil zu knüpfen, dann ist sie keine Kirche mehr. Dann verteilt sie nur noch das, was Bonhoeffer einst als billige Gnade und als Todfeind der Kirche bezeichnet hat. Denn was nichts kostet, ist auch nichts wert. Dafür bringt auch niemand Opfer. Dafür steht niemand morgens auf. Dafür spendet niemand Geld. Der katholische Priester Dwight Longenecker schrieb dazu treffend: „Die Modernisten sehen Religion nicht als Infragestellung, sondern als Erfüllung ihrer Bedürfnisse. Hedonisten werden bald begreifen, dass Religion – selbst in ihrer verwässerten modernen Form – den Stress nicht wert ist. … Das Dogma der Progressiven ist, dass „alle willkommen sind.“ Sie verstehen nicht, dass eine Religion nur dann eine Religion sein kann, wenn es Grenzen gibt. Kein Club ohne Regeln für die Mitlieder und keine Kirche ohne Dogma und moralische Erwartungen. Die Türen der progressiven Kirchen mögen weit offen sein… aber das führt letztlich dazu, dass die Menschen die Kirchen so schnell wie möglich verlassen werden.“

Keine Identität ohne Gottes Wort – Keine Gnade ohne das Kreuz

Rachel Held Evans sehnt sich zurecht nach einer Kirche, die Menschen Identität verleiht. Identität finden wir aber nur durch die Begegnung mit einem „Du“, einem Gegenüber, das uns Identität zusprechen kann. Wir finden deshalb nur dann eine neue Identität in Gott, wenn wir von Gott als Gegenüber angesprochen werden. Die Bibel ist das einzig verbindliche Zeugnis von Gottes Wort, das die Kirche hat. Eine kritische Theologie, die der Bibel immer mehr die Qualität abspricht, Gottes heiliges Wort an uns zu sein, sägt deshalb immer auch an der identitätsstiftenden Kraft der Kirche.

Rachel Held Evans sehnt sich zurecht nach einer Kirche voller Gnade. Aber Gnade fließt nur unter dem Kreuz, wo Christus an unserer Stelle für unsere Sünden stirbt und wir Menschen begreifen, wie verloren und wie sehr wir auf unverdiente Gnade angewiesen sind. Eine Theologie, die sich immer schwerer damit tut, von unserer Sündhaftigkeit, Verlorenheit und Erlösungsbedürftigkeit sowie vom stellvertretenden Sühneopfer Jesu zu sprechen, ersetzt die Gnade immer mehr durch Moralismus.

Wo sind die Modelle der Hoffnung?

Rachel Held Evans hat recht: Wir Evangelikalen haben allzu oft versagt darin, die identität- und gnadenbringenden Schätze der Bibel zu leben. Zu oft haben wir den Buchstaben bewahrt, aber die Kraft verloren. Zu oft sind wir abgerutscht in Gesetzlichkeit, die zwangsläufig in Heuchelei enden muss. Und doch glaube ich: Niemand hat es so oft wie wir Evangelikalen geschafft, genau das zu leben, wonach Rachel Held Evans sich sehnt: Identitätsstiftender, gnadenvoller, heilsamer Glaube in Gemeinschaften, die viele kulturelle und gesellschaftliche Schranken überwinden. Ich habe das selbst erlebt. Und ich sehe heute mit Staunen, wie auf der ganzen Welt evangelikal geprägte Gemeinschaften wachsen und dabei auch den widrigsten Umständen trotzen: In den Untergrundkirchen Chinas. In den südamerikanischen Favelas. Unter der menschenverachtenden Diktatur der iranischen Ajatollahs. Unter der Bedrohung grausamer Islamisten wie dem IS oder Boko Haram. In diesen Regionen zeigt sich heute, welche Form des Christentums tatsächlich in der Lage ist, ein authentischer, grenzüberwindender Hoffnungsbringer zu sein. Soweit ich es sehen kann, ist das Christentum dort überall evangelikal geprägt. Zu diesen bewundernswerten Leuten werde ich mich deshalb auch zukünftig gerne zählen.

Zugleich hoffe ich, dass wir uns von solchen ehrlichen und authentischen Stimmen wie die von Rachel Held Evans herausfordern lassen, immer wieder zurückzukehren zur ersten Liebe, zu Christus, seinem kraftvollen Wort und seinem Geist, damit Gesetzlichkeit, Heuchelei, Oberflächlichkeit und Gnadenlosigkeit unser Zeugnis nicht verdunkeln.


Das Buch “Es ist kompliziert” von Rachel Held Evans ist im Brendow-Verlag erschienen und hier erhältlich.

Siehe dazu auch:

2021 – Woher wird unsere Hilfe kommen?

2020 habe nicht nur ich als Krisenjahr wahrgenommen. Ich denke dabei aber nicht nur an Corona. Mir haben auch viele Entwicklungen in der Gesellschaft sowie im christlichen und kirchlichen Bereich Sorgen bereitet. Umso mehr hat mich 2020 diese eine Frage immer wieder beschäftigt: Woher wird Hilfe kommen für unser Land und für unsere Kirchen und Gemeinden, die so oft nur stagnieren oder gar schrumpfen und sterben? Wo finden vielleicht heute schon die kleinen Anfänge statt, die letztlich in die so dringend benötigten neuen Aufbrüche münden werden? Wo sind die Menschen, die Gott für nachhaltig wirkende Erneuerungs- und Erweckungsbewegungen gebrauchen wird? Wo sind die Hoffnungssignale, die uns begründet Mut machen können für das neue Jahrzehnt?

Noch habe ich keine Antwort auf diese Frage. Aber ganz offenkundig bin ich nicht der Einzige auf dieser Suche. Letzte Woche landeten gleich zwei neue Produkte des SCM-Verlags in meinem Briefkasten, die sich mit der Suche nach neuen Wegen in die Zukunft beschäftigen. In der ersten Publikation ging es vor allem um die Zukunft der lokalen Ortsgemeinden:

Reinhard Spincke: Gemeinde der Zukunft

Reinhard Spincke ist seit 28 Jahren Pastor und seit 2004 Bundessekretär im Bund der Feien evangelischen Gemeinden (FeG). Er ist also ein Gemeindepraktiker durch und durch, der die Herausforderungen im Gemeindebau sehr genau kennt. Umso mehr hat mich die Frage interessiert:  Wie muss aus seiner Sicht die „Gemeinde der Zukunft“ gestrickt sein, um diese wachsenden Herausforderungen meistern zu können?

Und was soll ich sagen: Dieses Buch hat mich begeistert! Es ist biblisch fundiert und doch praxisnah, realistisch und doch begründet hoffnungsvoll. Sowohl die Situationsanalysen als auch die Vorschläge für notwendige Schwerpunktsetzungen haben mir aus dem Herzen gesprochen. Für Reinhard Spincke ist die Gemeinde der Zukunft „kreativ“ in ihren Formen und Lebensäußerungen, aber „konservativ“ in ihrem Umgang mit der Bibel. Sie ist „kundenorientiert“ für die Umsetzung ihres missionarischen Auftrags, aber zugleich „kommunitär“, indem sie verbindende Gemeinschaft pflegt. Sie ist „kämpferisch“ in dem Bewusstsein, dass die Verbreitung des Evangeliums enorm herausfordernd sein kann, dabei aber auch „klug“, rational und weise in ihren Äußerungen und in ihrer Vorgehensweise. All ihr Handeln gründet in einer „kontemplativen“, innig gelebten Gebets- und Herzensbeziehung zu Jesus, zugleich ist ihr der „karitative“, praktische Dienst am Nächsten ein Herzensanliegen. Aus den zahlreichen wichtigen Anregungen möchte ich nur zwei Aussagen zum Umgang mit der Bibel herausgreifen:

„Wo geistliche Bewegungen und Kirchen sich von biblischen Grundlagen entfernt haben, hat dies ihrem missionarischen Eifer und ihr geistliches Leben regelmäßig schwer geschadet.“ (S. 40) „Die Kirchengeschichte zeigte immer wieder, dass eine bibeltreue Theologie verbunden mit authentischer Jesus-Liebe notwendige Voraussetzung für eine Erweckung ist.“ (S. 34)

Reinhard Spincke träumt deshalb John Stotts Traum von einer „Gemeinde, die wirklich nach der Bibel lebt, die Gott anbetet, in der jeder gleich geachtet wird, die fähig ist zu dienen und mit Erwartung lebt.“ (S. 69/70). Ich habe mit Bleistift darunter geschrieben: Ja, ich träume mit!!!!!! (tatsächlich mit genau so vielen Ausrufezeichen). Das gilt auch für diese Aussage:

„Wir müssen alle positiven, gemeindebauenden, konservativen Kräfte zusammenbringen und bündeln. Wir müssen in der Mitte klar sein, dürfen uns aber in Fragen, die die Bibel größtenteils offen lässt … nicht zerstreiten.“ (S. 92)

Das zeigt mir: Auf der Suche nach Hoffnungssignalen für die Zukunft hält Reinhard Spincke genau wie ich Ausschau nach einer neuen Einheit in Vielfalt mit christusgemäßer Weite aber auch mit Übereinstimmung in den zentralen Glaubensfragen. Das macht Hoffnung! Die Frage wird sein: Wie finden wir praktische Wege, die eine solche Bündelung in Zukunft praktisch möglich macht?

Auch die zweite Publikation will schon auf der Titelseite „Wege suchen in eine andere Zukunft“:

anders LEBEN

So heißt die neue, sehr schön gestaltete Zeitschrift des Bundes-Verlags, deren Erstausgabe jetzt kostenlos erhältlich ist und die unter den Schlagworten „Zukunft suchen, Wurzeln finden, nachhaltig handeln“ eine bunte Mischung von Artikeln und Autoren präsentiert. Sehr spannend fand ich gleich zu Beginn den Artikel über Tony Rinaudo, der für sein Aufforstungsprogramm den alternativen Nobelpreis bekam. Sehr interessant sind auch die Einblicke über den Einsatz der Micha-Initiative für das Lieferkettengesetz. Beides erinnert mich an große christliche Vorbilder, die durch die Entwicklung von technischen und wissenschaftlichen Innovationen oder durch gezielte Einflussnahme in der Politik (z.B. für die Abschaffung der Sklaverei) die Gesellschaft vorangebracht haben. Das begeistert mich auch deshalb, weil ich überzeugt bin, dass globale Probleme wie die Klimaerwärmung, das Artensterben oder prekäre Arbeitsbedingungen in Schwellenländern letztlich nur durch Innovationen und weltweit wirksame Gesetzesinitiativen gelöst werden können.

Wenig angesprochen haben mich hingegen eine Reihe von weiteren Artikeln, die auf eine „Ökologisierung“ des persönlichen Lebensstils zielen, indem man sich z.B. von der „Konsumindustrie so unabhängig wie möglich“ macht, Fleischkonsum reduziert, im Unverpacktladen oder Secondhandshop einkauft, selbst Gemüse anbaut und insgesamt einfach „grüner lebt“. Klar, auch ich finde es gut, z.B. beim Einkaufen auf Fair Trade zu achten. Aber es darf daraus kein neuer Moralismus erwachsen. Vor allem darf es nicht dazu führen, dass die Gesellschaft weiter in „Gutwillige“ und nicht Gutwillige gespalten wird und dass Menschen zu „Umweltsündern“ abgestempelt werden, nur weil sie solche Ansätze auch nach gründlichem Nachdenken für wenig überzeugend halten.

Etwas fragwürdig fand ich im Heft auch den Hang zur Vergeistigung der Natur in Formulierungen wie diesen:

„Nicht nur eine Fridays-for-Future-Bewegung schreit: „Wie könnt ihr es wagen, so weiterzuleben?!“ Täglich höre ich diese Schreie der Schöpfung. Das Seufzen der in Massenhaltung gezüchteten Tiere, der männlichen Küken, die gleich nach dem Schlüpfen in einen Schredder gezogen werden. Ich höre die Stimme der weinenden Gletscher.“ (S.54)

Ja, natürlich ist Massentierhaltung oder auch das Artensterben hochproblematisch. Aber bringt es uns wirklich weiter, die verbreitete apokalyptische „How-Dare-You-Rhetorik“ jetzt auch noch göttlich aufzuladen? Und auch wenn die Bibel manchmal in blumiger Bildsprache davon spricht, dass die Schöpfung Gott lobt und sogar die Steine schreien, so legt sie doch im Gegensatz zu außerbiblischen Schöpfungsmythen und östlichen oder animistischen Religionen von Beginn an größten Wert auf eine strikte Trennung zwischen Schöpfer und Schöpfung.[1] Deshalb bin ich auch skeptisch über romantisierende Formulierungen wie diese:

„Viele Menschen entdecken heute die Weisheit der Natur.“ (S. 83)

Manchmal denke ich bei solchen Aussagen: Auf die Idee, dass die Natur weise sei, können wohl nur Menschen kommen, die durch Wohlstand und die Segnungen moderner Medizin und Technik weitgehend geschützt sind vor den seit jeher wahl- und erbarmungslos zuschlagenden Launen der Naturgewalten. Ich plädiere deshalb dafür, dass wir daran festhalten sollten: Weise ist allein der Schöpfer. Ihm allein gehört unsere Bewunderung und unsere Aufmerksamkeit.

Aber was ist nun mit den versprochenen Wurzeln, die uns helfen können, positiv mit den ökologischen Herausforderungen umzugehen, statt in Angst und in einen bedrückenden Moralismus zu verfallen? Tatsächlich habe ich beim Lesen mehrfach gedacht: Früher hatten Christen ein schlechtes Gewissen, weil sie keine stille Zeit gemacht haben. Heute haben sie ein schlechtes Gewissen, weil sie „nicht bei jedem Einkauf so konsequent“ sind, wie sie sein könnten. (S. 23) Aber mit Moralisieren kann man damals wie heute nichts positives bewirken, wie Anselm Grün auf S. 86 richtig anmerkt. Umso mehr vermisse ich fundierte biblische Quellen in diesem Heft – zumal ich mich mit Autoren wie Anselm Grün[2] aus den in den Fußnoten genannten Gründen ohnehin schwer tue.

Woher wird unsere Hilfe kommen?

Natürlich sind sowohl Impulse für den Gemeindebau als auch für ein sinnvolles Engagement zur Bewahrung der Schöpfung wichtig für die Gestaltung unserer Zukunft. Persönlich hätte ich es aber besser gefunden, wenn SCM solche wertvolle Artikel wie den Bericht über Toni Rinaudo in andere Zeitschriften eingestreut hätte, statt sie in eine eigene „Öko-Zeitschrift“ auszulagern. Dann würden sich Impulse zur Bewahrung der Schöpfung mischen mit Beiträgen zu den zentralen christlichen Zukunftsfragen, die Reinhard Spincke in „Gemeinde der Zukunft“ dargelegt hat. So aber fürchte ich, dass die Polarisierung zwischen den missionarisch orientierten Gemeindebauern und ökologisch bewegten Anhängern transformationstheologischer Ansätze nur weiter zunehmen wird. Dabei fände ich die Mischung beider Themen auch deshalb so wichtig, weil ich überzeugt bin: Die Kernthese der Willow-Bewegung („Die Ortsgemeinde ist die Hoffnung der Welt“) gilt letztlich auch für die ökologischen Herausforderungen unserer Zeit. Denn auch in der Umweltfrage gilt letztlich: Das Herz des Problems ist das Problem des Herzens (wie Johannes Hartl es in seinem Vortrag „Ökologie des Herzens“ so eindrücklich dargelegt hat). Und dieses Herzensproblem kann letztlich nur die erneuernde Kraft des Evangeliums lösen, das in gesunden Gemeinden gelebt und weitergegeben wird.

Die Quelle aller echten Hoffnungsquellen

Auch in Psalm 121 wird die Frage gestellt, von wo wir in schwierigen Zeiten Hoffnung beziehen können. Im Psalm heißt es dazu:

„Ich schaue hinauf zu den Bergen – woher wird meine Hilfe kommen? Meine Hilfe kommt vom Herrn, der Himmel und Erde gemacht hat. Er wird nicht zulassen, dass du stolperst und fällst; der dich behütet, schläft nicht. Siehe, der Israel behütet, wird nicht müde und schläft nicht. Der Herr selbst behütet dich!“

Mit diesen Sätzen kann ich getrost ins neue Jahr gehen. Vergessen wir es nie: In Gott allein ist unsere Rettung – für uns persönlich, für unsere Familien, für unsere Gemeinden und Kirchen, für unsere Gesellschaft und auch für unseren Planeten. Meine Suche nach Hoffnungssignalen für neue Aufbrüche in eine gute Zukunft wird sich auch weiterhin auf die Menschen richten, die zuerst nach Gott suchen, indem sie Gebet und Gottes Wort die oberste Priorität einräumen.


Die beiden Produkte sind hier erhältlich:

Fußnoten:

[1] Ganz anders als andere Schöpfungsmythen kennt der biblische Schöpfungsbericht keine Götter und keine übernatürlichen Kräfte hinter den Sternen, sondern er sagt: Das sind ganz einfach „Lampen“, die den Menschen zur Orientierung dienen sollen. Auch sonst wird die Natur gänzlich entgöttlicht. Folgerichtig ist das ganze Alte Testament voll von Anweisungen, auf keinen Fall die Schöpfung anzubeten sondern Gott allein, von dem wir uns kein geschöpfliches Bild machen sollen. Die Brüder Hansjörg und Wolfgang Hemminger haben deshalb zurecht geschrieben: „Die Schöpfungsgeschichte bringt eine vollständige Entgöttlichung und Entzauberung der Welt, so vollständig, wie sie außerhalb des Judentums auch nicht annähernd erreicht wurde … Jeder Zeitgenosse, der an sein Horoskop glaubt, fällt in ein Denken zurück, das in 1. Mose 1 bereits überwunden ist.“ In: Hans-Jörg und Wolfgang Hemminger: Jenseits der Weltbilder. Naturwissenschaft, Evolution, Schöpfung. Quell-Verlag Stuttgart 1991, S. 145f.

[2] In seinem Text „Krumme Wurzeln – Die Theologie von Anselm Grün“ zeigt der Theologe Eugen Schmid verschiedene Elemente in der Theologie Grüns auf, die von zentralen Kernaussagen des biblischen Evangeliums grundlegend abweichen.

Vision 2020

Liebe Leser des AiGG-Blogs,

herzlichen Dank für all die ermutigenden und konstruktiv kritischen Rückmeldungen im vergangenen Jahr! 2019 ist einiges geschehen, was ich bis dahin für vollkommen unmöglich gehalten hatte: Ein eigenes Buch ist erschienen, Auszüge daraus waren im August die Titelstory in idea-Spektrum, der AiGG-Worthaus-Artikel wurde in einem weiteren Buch abgedruckt und ich durfte in einen spannenden Vortragsdienst einsteigen, der in diesem Umfang neu für mich war. Und mein Eindruck ist: Gott hat noch viel mehr vor! Nicht speziell mit mir oder diesem Blog. Aber es sind an einigen Stellen Dinge sichtbar und spürbar in Bewegung gekommen, die – so glaube ich ganz fest – weiter wachsen und an Dynamik gewinnen werden.

Die ersten AiGG-Artikel für 2020 sind bereits in der Pipeline. Einsteigen möchte ich heute aber mit der Übersetzung eines brandaktuellen Facebookposts von John L. Cooper, dem Sänger der bekannten christlichen Band Skillet. Der Text von John Cooper gibt vieles von dem wieder, was auch diesen Blog im letzten Jahr beschäftigt hat und sicher weiter beschäftigen wird. Damit wünsche ich Ihnen und euch allen ein starkes, gesundes und vor allem reich gesegnetes Jahr 2020 und ganz viele Momente des Aufatmens in SEINER wunderbaren Gegenwart!

Vision 2020
öffentlich gepostet von John L. Cooper auf Facebook am 31. Dezember 2019

(Das englische Original siehe unten)

Wow, was für ein Wirbelwind war das Jahr 2019! Ich kann mich an kein arbeitsreicheres Jahr erinnern als dieses. Doch wenn ich das Jahr 2020 so betrachte, dann wird mir klar, dass ich noch viel zu tun habe und der Wirbelsturm gerade erst beginnt.

Das war ein schmerzhaftes Jahr, sowohl auf globaler als auch auf persönlicher Ebene. Die großen Probleme in der Welt haben mich auch ziemlich hautnah betroffen. Sprechen wir zuerst über das umfassendere Thema: Wir haben in diesem Jahr viel Herzensleid in Gottes Kirche gesehen. Wir haben gesehen, wie christliche Leiter und Menschen mit Einfluss vom Glauben abfielen, den Glauben verurteilten und in einen Lebensstil der Sünde verfielen. Außerhalb des christlichen Glaubens hat unsere Gesellschaft und Kultur im Allgemeinen das Ausfransen der letzten Säulen der Wahrheit gesehen, die uns relativ fest verankert gehalten haben. Die Kultur hat mit voller Wucht den Postmodernismus und seine verschiedenen Abkömmlinge des Relativismus aufgenommen. Das hat uns in eine Welt manövriert, die an nichts Absolutes glaubt und in der nichts objektiv wahr ist. Wir als Gesellschaft werden von wilden Strömungen hin und her geworfen, während die Wahrheit jeden Tag durch die öffentliche Meinung neu definiert wird. Ich hätte nie gedacht, dass so viele Menschen so verzweifelt verwirrt sein könnten.

Ich persönlich habe Freunde, die den Glauben in diesem Jahr verlassen haben. Freunde, die ihren Ehepartnern gegenüber untreu waren. Freunde, die ein Kind durch Sucht oder Selbstmord verloren haben. Freunde, die wissentlich oder unwissentlich zu falschen Lehrern wurden, indem sie eine “neue Lehre” lehrten, die Aspekte des Christentums mit den Überzeugungen der New-Age-Bewegung vermischt. Ja, ich habe es gesagt. Das ist eine falsche Lehre. Ziemlich brutales Zeug. So sehr ich persönlich von all dem betroffen bin, bin ich sicher, dass jeder von euch, der dies liest, auch in irgendeiner Weise davon betroffen sein wird.

Die Leute haben mich gefragt, warum ich im letzten Jahr angefangen habe, klarer zu sprechen. Zunächst einmal war ich der Meinung, dass das Internet zu voll von Menschen ist, die sich gegenseitig anschreien. Und wenn es eine Sache gibt, von der wir weniger brauchen, dann sind es Prominente, die meinen, sie müssten alle anderen zu Gleichgesinnten machen. Der Aufbau unserer Gesellschaft wird nun vom Einfluss der Jüngsten, der Selbstbewusstesten, aber auch der am wenigsten Geschichtskundigen und Erfahrenen unter uns geprägt. Ich habe dies seit mehreren Jahren beobachtet und wollte nicht noch eine Stimme in dieser Mischung sein. Im Idealfall würde ich es vorziehen, wenn die Leute auf diejenigen hören, die viel weiser sind als ich. Bitte, wenn Sie die Zeit haben, hören Sie sich eine Predigt von John Piper oder Tim Keller an, anstatt meinen Blog zu lesen 🙂

Das Problem war jedoch, dass je mehr ich versuchte, mich aus dem öffentlichen Gespräch herauszuhalten, um den Klügeren Raum zu geben, desto weniger wurde die Leere von den “Pipers” oder “Kellers” dieser Welt gefüllt. Stattdessen wurde sie mit absolutem Unsinn und häretischen Grübeleien derjenigen gefüllt, denen Kenntnis über Gott fehlt, und schlimmer noch, denen eine richtige Gottesfurcht fehlt.

Ich habe untätig gesessen und beobachtet, wie die Menschen in völliger Verwirrung leben. Christen sind so verunsichert über ihren eigenen Glauben, dass sie aus falschen Lehren schöpfen oder sich in diese hineinbewegen, ohne es überhaupt zu wissen. Ich beschloss schließlich, nicht mehr zu schweigen, als einige unserer früheren christlichen Leiter ihren Glaubensabfall verkündeten und damit begannen, Gottes heiligen Namen öffentlich zu entehren. Ich konnte es einfach nicht mehr ertragen. Ich fühlte mich wie ein junger Mann namens David, der schockiert und wütend war, als er dem riesigen Goliath zuhörte, der die Größe Gottes verspottete und herausforderte. Noch als Junge, unfähig, auch nur die Last einer Rüstung zu tragen, fragte David: “Wer ist das, der es wagt, den Armeen des lebendigen Gottes zu trotzen?”

Was bedeutet das für das Jahr 2020? Im kommenden Jahr werde ich mich von der Leine lassen. Es ist mir egal, was es mich kostet. Ich muss das Wort ergreifen, weil zu viele Menschen verletzt sind und die Antworten normalerweise nicht so schwer zu finden sind. Die Menschen brauchen Hilfe. Ja, wir leben in verwirrenden Zeiten. Aber es ist nicht so verwirrend, wie es scheint, wenn man bereit ist, sich der Herrschaft Jesu Christi und seinem Wort hinzugeben. Der Grund, warum so viele Christen verwirrt sind, ist, dass sie nicht an das Fundament der Bibel glauben (ob sie es zugeben oder nicht). Gottes Wort ist unveränderlich und es ist die Grundlage der Wahrheit. Ohne dieses Fundament ist es kein Wunder, dass das Leben der Menschen auseinander fällt. Es ist unmöglich, ein unerschütterliches Fundament zu haben, wenn es aufgebaut ist auf einer Mischung aus Bibel, sozialem Aktivismus, der New-Age-Bewegung, Pop-Psychologie, Promi-Tweets und der ständigen Moralisierung von wachen Ideologen, die glauben, dass sie tugendhafter sind als alle anderen… sogar tugendhafter als Gott.

Wenn es einen Entschluss gibt, den ich für 2020 habe, dann ist es der, dass ich mich deutlicher ausdrücken möchte mit meinen Worten. Wie ich eingangs dieses Posts sagte, sind die letzten Säulen der Wahrheit in unserer Kultur zerbrochen. Traurigerweise sind diese Säulen auch innerhalb der Kirche zerbrochen. Wie bete ich für christliche Leiter, die am Wort Gottes festhalten, auch wenn es immer unpopulärer wird, dies zu tun! Wie bete ich, dass Männer Gottes das Rückgrat finden, um in der Frage der Autorität der Schrift fest zu stehen, anstatt sich wie Kinder zu verstecken und die Zustimmung anderer zu suchen! Diese Männer hätten Krieger sein sollen – sie waren dazu bestimmt, den feurigen Pfeilen des Feindes zu widerstehen -, aber sie können sich nicht einmal gegen eine Beleidigung aus einer Welt wehren, von der Gott uns doch angekündigt hat, dass sie uns hassen würde!

Liebe Mitgläubige, mögen wir aufwachen und erkennen, dass wir uns im Zentrum eines Krieges gegen die Wahrheit befinden. Wenn unser Fundament auf Christus allein beruht, dann können wir nicht erschüttert werden. Andererseits: Wenn unser Fundament sowohl auf Christus als auch auf der Philosophie unserer Zeit gebaut ist, wird unser Leben zerschlagen und zu Boden gerissen werden.

“Denn niemand kann ein anderes Fundament legen als das, das gelegt ist, das ist Jesus Christus.” (1. Korinther 3:11)

Übersetzt mit Unterstützung von www.DeepL.com/Translator (kostenlose Version)


Der Text im Original:

-2020 Vision-

Wow what a whirlwind 2019 was! I cannot recall a busier year than this one. However, as I consider 2020, I realize that I have much to do and the whirlwind is just beginning.

This has been a painful year on both a global and personal scale. The larger issues of the world have hit very close to home. Speaking first on the larger issue, we have seen a great deal of heartache in God’s Church this year. We have seen Christian leaders and people of influence falling away from the faith; denouncing the faith; falling into lifestyles of sin. Outside of Christian faith, our society and culture in general have seen the fraying of the final strands of truth that have kept us relatively anchored down. Culture has, with full force, embraced post modernism and its various offsprings of relative truth. This has left us to live in a world that disbelieves in absolutes, and where nothing is objectively true. We as a society are being thrown around to and fro on the crashing waves as truth is being redefined each day by popular opinion. I never imagined that so many people could be so desperately confused.

I personally have friends who left the faith this year. Friends who were unfaithful to their spouses. Friends who lost a child to addiction or suicide. Friends who knowingly or unknowingly became false teachers by teaching a “new doctrine” that blends aspects of Christianity with the beliefs of the New Age Movement. Yes I said it. That is false teaching. Pretty brutal stuff. As much as I have been personally impacted by all of this, I’m sure that every one of you reading this will have been affected in some way too.

People have asked me why I started speaking out more clearly this past year. First of all, I have been of the mind that the internet is too full of people yelling at each other. And if there is one thing that we need less of, it’s celebrities who think they need to bully everyone else into like- mindedness. Our society is now being built upon the influence of the youngest, most confident yet least knowledgeable of history, and most inexperienced among us. I have watched this for several years and I did not want to be another voice in the mix. Ideally I would prefer for people to listen to those who are much wiser than me. Please, if you have the time, listen to a John Piper or Tim Keller sermon instead of reading my blog:)

However, the problem was that the more I tried to stay out of the public conversation in order to promote those wiser than myself, the void didn’t get filled by the “Pipers or Kellers” of the world. Instead, it has been filled with absolute nonsense and heretical musings of those who lack the knowledge of God, and worse still, lack a proper fear of God.

I have been sitting idly, and watching people live in utter confusion. Christians are so vexed by their own faith that they flow in and out of heresy without even knowing it. I finally decided to stop being silent when some of our former Christian leaders announced their apostasy and began publicly dishonoring God’s holy name. I could just stomach it no longer. I felt like a young man named David who was shocked and angry to be listening to the giant Goliath mock and challenge the greatness of God. Still a boy, and unable to even bear the weight of armor, David asks, “Who is this that dares to defy the armies of the living God?”

What does this mean for 2020? This coming year, I am coming off the leash. I don’t care what it costs me. I have to speak up because too many people are hurting and usually the answers aren’t really that difficult to find. People need help. Yes, we live in confusing times. But it’s not as confusing as it seems if one is willing to surrender to the Lordship of Jesus Christ and His Word. The reason so many Christians are confused is because they don’t believe in the foundation of the Bible (whether they admit it or not). God’s Word is unchanging and it is the foundation of truth. Without that foundation, no wonder people’s lives are falling apart. It is impossible to have an unshakable foundation if it is built on a mixture of the Bible, social activism, the new age movement, pop psychology, celebrity tweets, and the constant moralizing of Woke ideologues who believe they are more virtuous than everyone else…even more virtuous than God.

If there is any resolution I have for 2020, I want to be clearer in my words. As I said at the top of this post, the final strands of truth in our culture are torn apart. Sadly, those strands are also fraying within the Church. How I pray for Christian leaders who will hold firm to the Word of God even though it is becoming increasingly unpopular to do so! How I pray that men of God will find the backbone to ‘hold the line’ on the issue of the authority of Scripture, instead of cowering like children seeking the approval of others! These men should have been warriors-they were meant to withstand the fiery arrows of the enemy-yet they cannot even stand against an insult from a world that God promised would hate us!

Fellow believers, may we wake up and realize that we are in the very center of a war against truth. If our foundation is on Christ alone then we can not be shaken. On the contrary, if our foundation is built upon both Christ AND the philosophy of our time, our lives will be shattered and torn to the ground.

“For no one can lay a foundation other than that which is laid, which is Jesus Christ.” (1 Corinthians 3:11)

Mission – Viel mehr als “Zeigen, was wir lieben”

Mit „Mission Zukunft“ haben Ulrich Eggers und Michael Diener einen Sammelband vorgelegt, der es in sich hat. Man muss schon hoch vernetzt sein, um so viele bekannte christliche Leiter unterschiedlichster Couleur zwischen zwei Buchdeckeln zu versammeln. Aber gerade diese Zusammenschau ist es, die dieses Buch besonders spannungsvoll und spannend macht.

Bei mir hat das Buch sowohl Begeisterung als auch Verzweiflung ausgelöst. Begeisterung, weil man hier ermutigende Belege dafür findet, dass ein missionarischer Aufbruch möglich ist – auch mitten im säkularisierten Europa des 21. Jahrhunderts. Verzweiflung, weil zugleich transparent wird, wie weit Teile der Kirche von diesem Aufbruch entfernt zu sein scheinen.

Die Perspektive der Praktiker

Besonders deutlich wird das, wenn man das Buch aus Sicht der Praktiker liest. Das können Leute sein, die aktuell einen missionarischen Aufbruch erleben. Genauso interessant ist die Perspektive derer, die zahlreiche Initiativen überblicken und gut beobachten können, was „funktioniert“ und was nicht. Auffällig ist, was alle diese Leute gleichermaßen betonen: Entscheidend und grundlegend für einen missionarischen Aufbruch sind nicht Methoden. Entscheidend sind die geistlichen Grundlagen. Entscheidend ist vor allem die praktisch gelebte, vom Heiligen Geist gewirkte Jesusnachfolge, die sich gründet im Gebet und in Gottes Wort:

„Missionarischer Aufbruch … braucht Jesus-Zentriertheit und die Liebe zu Gott in allem.“ (Ansgar Hörsting, S.50)

„Die Vitalität meiner eigenen Jesusbeziehung ist zentral für die missionarische Bewegung in meinem Umfeld. … Auf diesem Weg werden Gebet, Wort Gottes und intensive Gemeinschaft mit anderen Christen eine große Rolle spielen.“ (Ekkehart Vetter, S.80)

„Missionarische Aufbrüche in der Kirche kommen durch christuszentrierte und geisterfüllte Bewegungen zustande.“ (Andreas „Boppi“ Boppart, S.211)

„Ich träume davon, dass Gemeinden Orte werden, die Menschen helfen, zu einer persönlichen intimen Gottesbeziehung zu kommen, denn ich bin überzeugt, dass aus Intimität (mit Gott) Identität (in Gott) und aus Identität schließlich geistliche Autorität (aus Gott) erwächst.“ (Patrick Knittelfelder, S.300)

Besonders bemerkenswert war für mich der Text von Bernhard Meuser, der das katholische „Mission Manifest“ mit vorangetrieben hat. Er zählt auf, was er als Katholik gerne von evangelikalen Christen lernen möchte: „Sie leben, denken, beten aus der Heiligen Schrift. Sie stellen Jesus in die Mitte, … nehmen ihn wirklich als Herrn in ihr Leben. Sie beten laut, gemeinsam und konkret. Sie lassen sich vom Heiligen Geist führen. Sie sind missionarisch, … sie haben echtes Interesse daran, dass jeder Jesus kennenlernt. Sie entscheiden sich für Jesus.“ (S.179) Da geht mir das Herz auf. Und doch hat mich das auch ein wenig peinlich berührt. Denn ich habe mich gefragt: Sind wir da wirklich noch Vorbild? Leben wir das tatsächlich noch voller selbstverständlicher Überzeugung? Oder gehen uns nicht gerade diese klassischen evangelikalen „Kernkompetenzen“ zunehmend verloren?

Gibt es absichtslose Mission?

Dass es Ulrich Eggers und Michael Diener gelungen ist, auch einige führende Persönlichkeiten der evangelischen Kirche für ein Statement zum Thema Mission zu gewinnen, ist erfreulich. Allerdings fällt schon Michael Diener auf: Es ist „wohl nicht ganz zufällig, dass sich alle Beiträge aus der Leitung der EKD mit … ethischen Haltungen der Mission beschäftigen.“ (S.17) Entsprechend sind diese Beiträge stark mit der Abwehr eines aus ihrer Sicht übergriffigen Missionsverständnisses beschäftigt. So schreibt zum Beispiel Heinrich Bedford-Strohm: „Mission, wie ich sie verstehe, ist nicht der strategische Versuch, Menschen zu einem bestimmten Bekenntnis zu veranlassen.“ (S.72) Gleich mehrfach wird ein Satz des Theologen Fulbert Steffensky zitiert: „Mission ist die gewaltlose, ressentimentlose und absichtslose Werbung für die Schönheit eines Lebenskonzeptes. Mission heißt zeigen, was man liebt.“ (S.18) Die letzten Worte dieses Zitats haben es sogar in leicht abgewandelter Form in den Untertitel des Buchs geschafft.

Ich musste bei diesem Zitat an die Missionsreisen von Paulus denken. War Paulus denn „absichtslos“ unterwegs? Wollte er in erster Linie einfach mal die Welt bereisen? Sicher nicht. Absichtslose Mission gibt es nicht. Mission ist auch bei weitem nicht nur „Zeigen, was man liebt“, wie man es bei einem guten Wein oder einem spannenden Kinofilm macht. Selbstverständlich wünschen sich Missionare, dass in den Herzen der Zuhörer ein christliches Bekenntnis wächst, schließlich gilt: Wenn du mit deinem Mund bekennst, dass Jesus der Herr ist, und wenn du in deinem Herzen glaubst, dass Gott ihn von den Toten auferweckt hat, wirst du gerettet werden.“ (Römer 10,9) Johannes Reimer schreibt deshalb zurecht: „Gemeindeaufbau setzt intentionale Verkündigung des Evangeliums und damit die Hinführung des Menschen zur Entscheidung für den Glauben voraus.“ (S.192) Auch Michael Herbst setzt auf „Veranstaltungen, die absichtsvoll evangelisieren“. (S.136) Und Bernhard Meuser hält fest: „Die Kirche muss wieder wollen, dass Menschen ihr Leben durch eine klare Entscheidung Jesus Christus übergeben.“ (S. 176)

Was bedeutet eigentlich „Mission“?

Gleich zu Beginn des Buchs stellt Michael Diener eine wichtige Frage: „Wie belastbar ist das gemeinsame Fundament in Sachen Mission und Evangelisation? Füllen wir zentrale Begriffe mit gleichen oder zumindest ähnlichen Inhalten oder handelt es sich nur um eine „Äquivokation“, werden dieselben Wörter für letztlich nicht Vereinbares verwendet? Ist das immer noch zu beobachtende und zu spürende „Fremdeln“ vieler Menschen in den Volkskirchen, wenn Worte wie „Mission“ oder „Evangelisation“ fallen, wirklich nur dem nicht zu leugnenden Missbrauch auf diesem Gebiet zu verdanken oder verbirgt sich dahinter eine gänzlich andere theologische Einschätzung?“ (S.13) Leider wird diese Frage im Buch nie direkt beantwortet. Aber wer die verschiedenen Texte nebeneinander stellt kommt zwangsläufig zu einem eindeutigen Ergebnis: Leider werden zentrale Begriffe tatsächlich immer wieder unterschiedlich gefüllt. Und oft sind nicht einmal mehr die Begriffe dieselben.

Das merkt man schon daran, dass in einigen Beiträgen Begriffe wie Sünde, Umkehr, Rettung oder Verlorenheit schlicht nicht vorkommen. Auch die Lehre vom stellvertretenden Sühneopfer vermisse ich, wenn Heinrich Bedford-Strohm zum Beispiel schreibt: Der gekreuzigte Gott mache „zutiefst gewiss, dass Gott gerade im Leiden nicht fern, sondern ganz nah ist.“ (S.74) Und ich habe mich gefragt: Würde zu den Bildern von Mission, die da gezeichnet werden, die weltweit verbreiteten „4 geistlichen Gesetze“ (neuerdings auch unter „The Four“ bekannt) zur Erklärung des Kerns des Evangeliums noch passen? In deren Mittelpunkt steht ja die Lehre, dass die Sünde uns Menschen von Gott trennt und dass nur der stellvertretende Kreuzestod Jesu diese Trennung überwinden kann. Diese Mitte des Evangeliums konnte ich in einigen Texten leider nicht entdecken. Ansgar Hörsting sieht genau darin eine Hauptursache für mangelnde missionarische Dynamik: Es ist „ein Hemmnis für Mission, wenn diese zentrale Botschaft vergessen, verändert oder aus der Mitte verdrängt wird. Die mangelnde Klarheit in der Verkündigung zum Sühnopfer Jesu ist ein trauriges Beispiel dafür. Menschen, die die Liebe Gottes nur allgemein und nicht in dieser zugespitzten Form verstehen, werden nicht im Namen Jesu missionarisch sein.“ (S.49)[1]

Warum missionieren wir überhaupt?

Eine weitere wichtige Frage ist: Warum missionieren wir eigentlich? Geht es darum, unsere Mitgliederzahlen zu verbessern? Oder wollen wir die Gesellschaft und die Lebensumstände unserer Mitmenschen ein wenig besser machen? Wenn Gott ohnehin bei allen Menschen ist, wenn er am Ende alle rettet und wenn er uns auch durch andere Religionen begegnet, wie es z.B. die rheinische Kirche in Ihrem Beschluss zum Verzicht auf Mission unter Muslimen meint, dann ist die Frage nach dem Antrieb für missionarische Aktivitäten gar nicht so leicht zu beantworten. Das hat Folgen. Ansgar Hörsting sagt deutlich: „Ich kenne keine (!) missionarisch wirksame Gemeinde, in der es nicht Leute gibt, die klar auf dem Schirm haben: Ohne Jesus Christus sind Menschen verloren. … Wo keine Dringlichkeit empfunden wird, wird missionarisches Wirken schwach.“ (S.52, das Ausrufezeichen habe ich eingefügt). Noch deutlicher wird Steffen Beck: „Es reicht nicht, wenn wir hören, dass „Menschen ohne Jesus verloren“ sind. … Unser Herz muss betroffen sein. Wenn dies nicht der Fall ist, werden wir auch das Herz der anderen nicht erreichen.“ (S.259) Wenn das stimmt, dann muss uns nicht verwundern, warum im Umfeld der von liberaler Theologie geprägten Großkirchen die missionarische Dynamik weitgehend eingeschlafen ist, wie Alexander Garth in seiner Analyse der zahlreichen missionarischen Initiativen in Berlin feststellt: „Es fällt auf, dass die wenigsten innovativen missionarischen Projekte aus dem Bereich der Großkirchen kommen … obgleich sie über immense Ressourcen an Finanzen und Manpower verfügt.“ (S.292)

Die Frage nach der missionarischen Dynamik einer Gemeinschaft hat somit ganz eindeutig viel mit ihrer Theologie und ihrem Umgang mit der Bibel zu tun. Das bestätigt auch Lothar Krauss in seinem äußerst ermutigenden Bericht über den missionarischen Aufbruch in Gifhorn: „Mit der Bibel intensiv zu leben entfacht in uns eine missionarische Dynamik und einen kraftvollen Glauben! Wenn wir unser Vertrauen in Gottes Wort schwächen lassen oder sogar verlieren, verlieren wir auch die missionarische Dynamik!“ (S.319) Alexander Garth sagt es noch grundsätzlicher: „Erfolgreiche missionarische Arbeit braucht eine konservative Theologie, weil nur diese das hohe Commitment ihrer Gemeindemitglieder zu generieren vermag, das nötig ist, damit die Dynamik für eine wachsende Gemeinde entsteht.“ (S.292)

Leerstelle theologische Ausbildung: Der große Elefant im Raum?

Das führt mich zu einer Frage, die mir beim Lesen immer dringender wurde: Wenn die geistlichen und theologischen Grundlagen so entscheidend sind, warum hat sich dann kein einziger Autor mit der Rolle der theologischen Ausbildung für die missionarische Dynamik der Kirche beschäftigt? Schließlich werden dort die geistlichen Grundlagen gelegt und die theologischen Weichen der zukünftigen Gemeindeleiter gestellt. Manchmal war ich mir aber auch bei evangelikalen Autoren nicht ganz sicher, inwieweit sie die Bedeutung dieser theologischen Weichenstellungen auf dem Schirm haben. So schreibt zum Beispiel Andreas Boppart: Es geht … nicht um das Ausdiskutieren von theologischen Unterschieden, um dann ein Konsens-Papier zu unterschreiben, sondern um eine tiefe ehrliche Herzensverbindung von geisterfüllten und christuszentrierten Nachfolgerinnen und Nachfolgern – eine Einheit der Herzen, des Geistes.“ (S.215) Bis vor etwa 2 Jahren hätte ich diesen Satz begeistert unterschrieben. Aber inzwischen habe ich zu viel gesehen, das mir zeigt: Theology matters – Theologie macht einen Unterschied. Ich habe zu oft erlebt, wie schnell die theologische Pluralisierung von den Randfragen zu den Kernfragen vordringt und wie das am Ende dazu führt, dass sich der missionarische Eifer in Sprachlosigkeit verwandelt, wie Steffen Kern bemerkt: „Selbst in den zentralsten Glaubens- und Lebensfragen werden viele unsicher. Was früher manchmal so klar schien, scheint auf einmal zwischen den Fingern zu zerrinnen. Die Kirchen und Gemeinden, die Haltungen und Positionen werden pluraler, Orientierung zu finden immer schwieriger. Darum verfallen wir über Frömmigkeitsgrenzen hinweg ins Schweigen.“ (S.225)

Ja, Andreas Boppart hat recht: Einheit ist viel mehr als theologischer Konsens. Wir brauchen eine geistgewirkte Herzenseinheit in Christus. Aber wer ist dieser Christus? Und was ist seine Botschaft? Das sind theologische Fragen, die wir klären müssen. Deshalb funktioniert Einheit auf Dauer nicht ohne theologischen Konsens zumindest in den zentralen Knackpunktthemen des Glaubens, wie ich sie z.B. in Kapitel 5 von „Zeit des Umbruchs“ beschrieben habe. Es gibt gute Gründe dafür, dass wir von geistlichen Leitern eine gründliche theologische Ausbildung erwarten. Aber diese Ausbildung muss einem Bibelverständnis folgen, in der das Sola Scriptura gilt, in der also nicht die menschliche Vernunft zum Richter über richtig und falsch in der Bibel gemacht wird und in der die Schrift nicht ins sachkritische Zwielicht gerät. Denn sonst wird weiterhin gelten, was Alexander Garth beklagt: „Westliche Theologien sind klug, aber sie paralysieren Gemeindewachstum und Mission, wie unzählige Studien der globalen Gemeindewachstumsbewegung zeigen.“ (S.286)

Warum wird diese wichtige Frage nach der Rolle der theologischen Ausbildung an keiner Stelle in „Mission Zukunft“ aufgegriffen? Ist sie vielleicht der große Elefant im Raum, den zwar alle sehen, den aber niemand anspricht, um niemand zu provozieren? Beim Nachdenken über diese Frage fiel mir auf, dass ein großer Name in diesem Buch fehlt: Ulrich Parzany. Seit Jahrzehnten war und ist er eine zentrale und prägende Figur im Bereich Mission und Evangelisation im deutschsprachigen Raum. Warum wird seine Stimme hier nicht gehört? Hat das womöglich auch damit zu tun, dass er einer der wenigen ist, der diesen Elefant offen anspricht?[2] Das wäre traurig. Denn das Buch „Mission Zukunft“ bestärkt mich einmal mehr darin: Ohne eine theologische Erneuerung werden auch alle sonstigen Reformbemühungen der Kirche unter Sand im Getriebe leiden.

Mission is possible!

Trotz dieser Leerstelle kann ich „Mission Zukunft“ nur herzlich weiter empfehlen. Allein schon die äußerst ermutigenden und inspirierenden Kapitel von Ekkehart Vetter, Alexander Garth, Patrick Knittelfelder und Lothar Krauss sind die Anschaffung des Buchs mehr als wert. Hier wird deutlich: Mission is possible! Unser Problem ist nicht die Säkularisierung oder Pluralisierung. Unser Problem ist auch nicht der „harte Boden“ in unserem Land sondern – wenn schon – der harte Boden in unserem eigenen Herzen. Wo wir uns von Gottes Geist und Gottes Wort zu Jesus ziehen lassen, da kann ein missionarischer Aufbruch gar nicht ausbleiben. Denn es liegt Jesus nun einmal sehr auf dem Herzen, dass jeder gerettet wird und die Wahrheit erkennt“ (1.Tim.2,4) – in unseren Familien, in unseren Gemeinden, in unseren Städten und Dörfern, in unserem Land, überall auf der Welt. Klaus Douglass schreibt: Mission ist nicht eine Funktion der Kirche, sondern Kirche ist eine Funktion der Mission Jesu.“ (S.194) Genauso ist es. Ohne Mission hört Kirche auf, Kirche zu sein.


Das Buch „Mission Zukunft – Zeigen was wir lieben: Impulse für eine Kirche mit Vision“ (Herausgeber Michael Diener und Ulrich Eggers) ist im Dezember 2018 bei SCM R. Brockhaus erschienen und kann zum Preis von 19,99 € hier bestellt werden.

Weitere inspirierende Zitate aus „Mission Zukunft“:

Über die zentrale Bedeutung der grundlegenden geistlichen Disziplinen Gebet und Lesen in Gottes Wort:

„Ich sehe keinen anderen Weg zur Freude als den alten und immer neuen des Hörens auf die Schrift, der wechselseitigen Ermutigung und des erwartungsoffenen Gebets.“ (Hans-Herrmann Pompe, S. 34)

„In unseren Erklärungen sagen wir viel Richtiges: … „Darum ist es für jeden Christen und jede Christin unverzichtbar, Gottes Wort zu verkünden und seinen/ihren Glauben in der Welt zu bezeugen.“ Gut gebrüllt Löwe, aber die Rechnung wurde ohne den Wirt erstellt, nämlich ohne uns, die Christen, deren Innenleben, deren Herz einer dringenden geistlichen Erneuerung bedarf. … Auf diesem Weg werden Gebet, Wort Gottes und intensive Gemeinschaft mit anderen Christen eine große Rolle spielen.“ (Ekkehart Vetter, S.82/83)

„Natürlich sind die Fragen nach dem Musikstil, der Sprache, der Kleidung auf der Bühne und so weiter nicht unwichtig. Aber es ist ein Fehler, zu denken, dass Veränderung in diesen Punkten eine Gemeinde verwandelt. Diese Themen ändern sich als Folge von Überzeugungen! Unsere Überzeugungen gewannen wir aus dem Studium der Bibel und wir bewegten sie im Gebet. Ohne Überzeugungen bleiben wir zu sehr an den Äußerlichkeiten hängen, die nicht unwichtig sind, aber eben auch nicht entscheidend.“ (Lothar Krauss, S.315)

Jesus muss unbedingt die Mitte sein:

„Menschen werden spüren, ob wir Gott lieben, ob wir begeistert sind von ihm und ob wir etwas mit ihm zu tun haben. Mir sagte mal ein Pastor einer sehr missionarischen Gemeinde, sie würden zuerst Jesus zentrierte Gottesdienste und nur in zweiter Linie besucherfreundliche Gottesdienste feiern. …  Missionarischer Aufbruch … braucht Jesus-Zentriertheit und die Liebe zu Gott in allem. …  Gerade der deutsche missionarische Aufbruch braucht diese Dimension, weil wir (wie in der gesamten westlichen Welt) sehr menschenzentriert denken, leben und oft auch glauben.“ (Ansgar Hörsting; S. 50)

„Wenn die evangelische Landeskirche nicht den Mut hat, Christus wieder stärker ins Zentrum zu rücken und Profil zu zeigen, wird sie aufgrund ihrer Farblosigkeit in die Unbedeutsamkeit weggleiten.“ (Andreas „Boppi“ Boppart, S. 214)

„Mission braucht … Mut zur Konzentration auf das Wesentliche. Wir reden von Jesus. … Von seinen Wundern. Von seinen Worten. Von seinem Kreuz und seiner Auferstehung.“ (S. 226 Steffen Kern)

 „Die Kirche ist ein Jesus-zu-den-Leuten-Bringen. Jesus ist ihr Lebensinhalt, sie hat keinen anderen. Wo sie doch um andere Inhalt kreist -etwa um sich selbst -, da wird sie zur abgeschmackten Travestie.“ (Bernhard Meuser, S. 175)

Über die Bedeutung von Gemeinschaft und Kleingruppen:

„Ich würde allen, die sich nach einem missionarischen Aufbruch sehnen, dringend raten, einen Kern zu sammeln, der brennt, ohne die weitere Gemeinde aus dem Blick zu verlieren.“ (Lothar Krauss, S.321)

 „Ohne die Bildung kleiner, tragfähiger Gemeinschaften läuft ein Großteil unserer missionarischen Bemühungen ins Leere.“ (Klaus Douglass, S. 207)

Über den Segen von Vielfalt:

„Es muss in der Gesellschaft um Gottes willen eine größere Vielzahl unterschiedlicher christlicher Kirchen, Gemeinden, missionarischer Projekte, diakonischer Initiativen geben, die nebeneinander und miteinander den Ruf von Christus „Lasst euch versöhnen mit Gott!“ verbreiten.“ (S. 289 Alexander Garth)

Über die Notwendigkeit von Fleiß und Hingabe:

„Kein missionarischer Aufbruch geschieht ohne engagierte, fleißige und dienende Menschen. Gottes Methode sind Leute, die sich selbst verleugnen und hingeben.“ (Lothar Krauss, S.321)

Über die Bedeutung von Bibel und Bekenntnis:

„Bei aller konfessionellen und missionarischen Offenheit ist es zugleich wichtig, einen Maßstab zu haben, der für alle verbindlich ist. Das sind für uns die Bibel und ihre sinnstiftenden und Orientierung gebenden Anweisungen für ein gelingendes und von Gott gesegnetes Leben. Darüber hinaus sind für uns neben den altkirchlichen und reformatorischen Bekenntnissen die Basis der Evangelischen Allianz und die Lausanner Verpflichtung von 1974 richtungsweisend. … Wir vertrauen der Bibel als Gottes Wort, als Quelle aller Erkenntnis, wie Gott ist, was er für uns getan hat und was er von uns erwartet.“ (Elke Werner, S.340)


[1] Der Streit um die „Absichtslosigkeit“ von Mission war auch ein zentrales Thema bei der Tagung „Welche Zukunft hat Mission?“ im November 2019 in Berlin, bei der viele Autoren dieses Buchs ihre Thesen mündlich vortragen durften. Dabei wurde deutlich, dass die „theologischen Überzeugungen ein Streitfall bleiben“, wie Karsten Huhn in seiner Reportage in idea-Spektrum berichtet.

[2] Bekannt wurde besonders sein Satz: „Die Bibelkritik ist der Krebsschaden der Kirche.“ In Ulrich Parzany : Was nun, Kirche? Ein großes Schiff in Gefahr, Holzgerlingen 2017, S. 49.

Wohin mit dem Sex?

„Kein Sex vor der Ehe!“ wird von „konservativen“ Christen vertreten. Außerhalb dieser Kreise empfindet man solch eine Haltung als fundamentalistisch und weltfremd.“ Dieser Zustandsdiagnose von Marcel Locher ist ohne Frage zuzustimmen. Umso erfreulicher ist es, dass der Bund freikirchlicher Pfingstgemeinden (BFP) seinen 1. Theologischen Studientag im März 2019 der spannenden Frage gewidmet hat: „Wohin mit dem Sex? – Schriftverständnis und die Folgen für die Lebensführung“. Die Tagungsbeiträge gibt es inzwischen in Buchform zu kaufen. In der Einführung schreibt der Leiter des theologischen Ausschusses des BFP, Dr. Bernhard Olpen: Der „Studientag stellt die theologische Standortbestimmung zur Schrift vor, wie sie das Präsidium des Bundes Freikirchlicher Pfingstgemeinden (BFP) vertritt.“ Das Buch hat also Gewicht für den gesamten BFP. Umso spannender ist die Frage, welche Ansichten hier zu diesem so umstrittenen Thema vertreten werden.

Die Positionen zur Sexualethik hängen vom Schriftverständnis ab

„Wie wir in Fragen der Sexualethik entscheiden, hängt maßgeblich von unserem Schriftverständnis und von unserer Hermeneutik[1] ab,“ schreibt Matthias C. Wolf zurecht. Deshalb ist es nur konsequent, dass sich der erste Beitrag von Dr. Bernhard Olpen zunächst der Frage nach dem Schriftverständnis in seiner geschichtlichen Entwicklung und seinen Konsequenzen für die Sexualethik widmet. Dazu gibt Olpen einen hochinteressanten Überblick von den ersten Kirchenvätern bis heute. Er zeigt dabei auf: Trotz Unterschieden im Detail war bis zur Aufklärung die Sichtweise dominant, dass die ganze Bibel inspiriert und von Gottes Geist eingehaucht ist. Luther ging zudem „das Wagnis ein, den literarischen Sinn der Schrift für ausreichend klar und aussagekräftig zu halten. Eine Grundannahme, die fortan für den Protestantismus grundlegend geworden ist“.

Erst mit der Aufklärung begann eine Sichtweise, in der der Bibeltext selbst nicht mehr unmittelbar als Wort Gottes betrachtet wurde. Die Trennung von Schriftwort und Offenbarung hatte auch für die Sexualethik gravierende Konsequenzen. Von den Kirchenvätern bis zu den Reformatoren war zuallermeist noch die Ehe als der einzig legitime Ort für Geschlechtsverkehr angesehen worden. Auch Mitte des 19. Jahrhunderts prägten noch „evangelikale Ideen über Moral und Sex die Kultur der Mittelklasse in England“, u.a. getrieben durch den Einfluss bekannter Erweckungsprediger wie John Wesley. Ebenso ging der deutsche Pietismus noch weitgehend von einer Klarheit und „Vollkommenheit der Schrift“ (J. A. Bengel) aus und „hielt in Anlehnung an Luthers Schriftverständnis an der Ehe als einzig legitimem Ort gelebter Sexualität fest.“ Erst in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts setzte sich in Bezug auf die Sexualethik eine Sichtweise durch, die nicht nur den Bibeltext sondern auch „zeitbedingte Anschauungen zur Grundlage macht“. Beispielhaft verweist Olpen auf die vieldiskutierte EKD-Orientierungshilfe „Zwischen Autonomie und Angewiesenheit“ sowie auf die Arbeit von „Worthaus“:

„Siegfried Zimmer, einer der Initiatoren, versucht in der Darlegung seines Bibelverständnisses zwar eine vermittelnde Rolle einzunehmen, folgt in der Praxis jedoch dem Argument der veränderten gesellschaftlichen Wirklichkeit, die zu einer Neubewertung biblischer Texte führen müsse. Schriftstellen mit einem sexualethischen Bezug versteht er als zeitgebundene Dokumente einer vergangenen Zeit, die heute keine Gültigkeit mehr beanspruchen können. Er geht dabei so weit, einer Mutter, die von ihrem Sohn erwartet, mit Sex bis zur Ehe zu warten, eine „perverse Ethik“ zu unterstellen. Ähnlich wie die Verfasser der EKD-Orientierungshilfe stellt er normative und deskriptive Aussagen auf die gleiche Ebene und kommt zu dem Schluss, wer aus der Schrift herauslesen wolle, dass Sex vor der Ehe keine biblische Option sei, müsse sich auch für Polygamie, möglichst frühe und möglichst durch die Eltern arrangierte Ehen, Kinderreichtum und das Patriarchat aussprechen. Dass die Schrift selbst eine Bewertung der hier undifferenziert nebeneinandergestellten Texte und Modelle vornimmt, gerät ihm dabei völlig aus dem Blick. Unter dem Label „postevangelikal“ hält diese Form der Hermeneutik auch Eingang in das gemeindliche Leben freikirchlicher Strukturen…“

Marcel Locher geht noch genauer auf Zimmers Worthaus-Vortrag über christliche Sexualethik ein. Dort führt Zimmer „unterschiedliche historische Argumente an, welche die „konservative“ Sichtweise theologisch und ethisch infrage stellt. Auf diese historischen Argumente gründet Siegfried Zimmer seine Sexualethik. Armin Baum greift Zimmers historisch begründete Kritik an der „konservativen“ Sexualethik auf.[2] Baum entkräftet Zimmers Position mit überzeugenden wissenschaftlich-historischen Argumenten. Er verdeutlicht durch seine sachliche wissenschaftliche Herangehensweise, dass Zimmers Argumentation historisch nicht haltbar ist, und belegt damit, dass die daraus resultierenden sexualethischen Positionen nicht überzeugen können. Somit sind wir in dieser Fragestellung auf die ethische Norm der Schrift verwiesen und können diese nicht als kulturbedingt relativieren. Daher ist die ethische Weisung der Schrift bezüglich des Geschlechtsverkehrs vor der Ehe auch in unserer Zeit von Bedeutung.“

Olpen beschließt seinen Beitrag zum Thema Schriftverständnis und Sexualethik mit einem Fazit: „Eine biblische Hermeneutik, die den eigenen Verstehenshorizont zum Maßstab des Verstehens Gottes und der Schrift macht und die Maßstäbe einer weitgehend säkularisierten Mehrheitsgesellschaft mehr oder weniger unkritisch oder wertneutral als gesetzt ansieht, kann der Zeit, in der wir leben, nichts Wesentliches und Normschöpfendes bieten. Sie steht immer in der Gefahr, in der sie umgebenden Gesellschaft aufzugehen, statt ihr ein Gegenüber zu sein.“

Von der Wichtigkeit gründlicher theologischer Arbeit

Ganz ähnlich wie Olpen baut auch Matthias C. Wolff seine Ausführungen auf der soliden Grundlage des reformatorischen „Sola Scriptura“ und der sich selbst auslegenden Bibel auf. Er macht aber auch deutlich: Bibelstellen können nicht ohne weiteres wörtlich 1:1 auf heutige Situationen übertragen werden. Der biblische Gesamtkontext, die innerbiblische Gewichtung, die Textgattung und der historische Kontext müssen beachten werden, um klären zu können, welche konkreten ethischen Normen in unserem heutigen gesellschaftlichen Umfeld aus der Bibel abzuleiten sind: „Die Bibel ist Gottes Wort, aber sie ist nicht an uns geschrieben worden; sie ist stets Gottes Wort für uns, aber nicht immer Gottes Gebot an uns.“ Trotzdem spricht die Bibel nicht nur in ihre Zeit, denn „sie ist auch Gottes Reden für uns und vermittelt allgemeingültige Prinzipien für das Heil und das Zusammenleben der Menschen. Eine oberflächliche und meist willkürliche Eingrenzung von biblischen Anweisungen auf die damalige Zeit wird ihrem Selbstzeugnis und dem Anspruch der biblischen Theologie nicht gerecht.“

Und was lehrt die Bibel nun?

Als zeitlos gültige biblische Botschaft arbeitet Matthias Wolff zum einen heraus, dass Sexualität in der Bibel durchweg bejaht wird. „Erst durch die Begegnung mit Strömungen der griechisch-hellenistischen Philosophie und dem damit verbundenen Zug zur Verachtung des Leibes wie der irdischen Welt überhaupt fand eine Malefizierung der Sexualität über neuplatonisch geprägte Theologen (wie Augustinus) Eingang in das christliche Denken.“

Zugleich macht er klar: „An prominentester Stelle der biblischen Sexualethik steht der unbedingte Schutz der Ehe.“ Das bedeutet auch, „dass dem israelitischen Mann keine legitimen vor- oder außerehelichen Betätigungsräume offenstanden. Sex als folgenloses Privatvergnügen ohne Verantwortung und Konsequenzen ist dem Glauben des AT fremd.“ Und im Neuen Testament erfährt diese Linie sogar „eine ausdrückliche Verschärfung.“ So antwortete Paulus auf die Frage, wie denn mit sexuellem Verlangen umzugehen sei: „Wenn sie [gemeint sind Ledige oder Witwen] sich nicht enthalten können, sollen sie heiraten …“ (1Kor 7,9), und nicht etwa: „Habt Sex!“ oder Ähnliches.“ Wolff zitiert dazu Prof. Armin Baum: „Das ethische Prinzip, dass all diesen biblischen Texten gemeinsam ist, lautet: Je weniger Verbindlichkeit, desto weniger Intimität. Je mehr Verbindlichkeit, desto mehr Intimität. Und maximale Intimität verlangt maximale Verbindlichkeit.“ Das wird auch unterstrichen durch die Bedeutung des Begriffs „Unzucht“ (porneia, z.B. in Gal. 5,19) im Neuen Testament: „Es meint zum einen Prostitution, zum anderen aber auch jeglichen vor- und außerehelichen Geschlechtsverkehr, sowohl bei Verheiraten als auch bei Unverheirateten.“ Locher ergänzt: „Somit wird deutlich, dass für das Zeugnis der Schrift auch Geschlechtsverkehr vor und außerhalb der Ehe mit Unzucht bezeichnet wird.“

Rauen Gegenwind gab es schon immer!

Bemerkenswert ist, dass sich die christliche Gemeinde nicht erst ab dem 20. Jahrhundert, sondern auch schon in der Antike mit dieser Lehre in einem scharfen Gegensatz zu ihrem Umfeld befand:

„Der entschlossene Rückgriff auf die in der Schöpfungsordnung angelegte Unauflöslichkeit der Ehe brachte die junge Gemeinde in deutlichen Kontrast zu der sexuellen Verkommenheit der griechisch-römischen Gesellschaft. … Wer behauptet, früher sei alles einfacher gewesen, etwa weil jeder mit dem Eintritt der Geschlechtsreife geheiratet habe, oder in unserer Welt könne man mit solchen Werten nicht mehr ankommen, dem fehlt das Verständnis für die antike Umwelt der Urkirche, die das Evangelium und seine Ethik in scharfem Kontrast zum Zeitgeist unerschrocken und unter hohen Risiken verkündigt hat. „Die Menschen der Bibel standen vor denselben Herausforderungen wie wir.“

Erst Recht vor dem Hintergrund dieses wachsenden Gegenwinds stellt sich nun aber die Frage:

„Wie sollen wir dies denn leben?“

Marcel Locher zeigt auf, wie wichtig es ist, nicht nur „eine starre Prinzipienethik“ zu lehren, „welche blutleer die Lebensrealität übergeht“ und die „nicht selten die Tendenz zur Gesetzlichkeit hat. Es geht um eine Jüngerschaftsethik, die im Geist Christi geführt wird und nur aus dem Geist Gottes heraus gelebt werden kann.“ Wichtig ist auch, die hohe Sinnhaftigkeit von Gottes Geboten zu verdeutlichen. Dabei ist insbesondere darauf hinzuweisen, wie wichtig die biblischen Prinzipien für den Schutz von Kindern sind, schließlich „birgt Geschlechtsverkehr immer auch die Möglichkeit der Zeugung eines Kindes in sich. Wer diese Möglichkeit ausschließt, setzt die individuelle sexuelle Selbstverwirklichung über den verantwortungsvollen Umgang mit der eigenen Sexualität. … Schon die Aussage, dass eine Frau ungewollt schwanger geworden ist und sich nun gezwungen sieht, dass Kind abzutreiben, zeigt die dahinterstehende Tragik.“ Nur die Ehe gibt Kindern den Schutzraum, den sie brauchen, um in einem gesunden, stabilen Umfeld aufwachsen zu können.

Und wie funktioniert das in der gemeindlichen Praxis?

Dazu liefert das Buch 2 anregende Praxisbeispiele. Christian Knorr aus der Christus Gemeinde Wuppertal schreibt: „Unserer Ansicht nach kommt keine Gemeinde umhin, sich hinsichtlich biblisch-theologischer Richtlinien zum Thema „Sexualität“ zu positionieren. … Es sollte beispielsweise nicht verborgen bleiben, wenn die Gemeinde den Wert „Kein Sex vor bzw. außerhalb der Ehe“ als von der Bibel her verbindlich ansieht.“ Neben dieser Verbindlichkeit im Kern sind ihm aber offene Ränder wichtig: „Jeder Mensch soll die Möglichkeit haben, so niederschwellig wie möglich die Gemeinde kennenzulernen. So ist auch Mitarbeit in vielen Teams möglich, auch wenn jemand noch nicht gläubig ist oder die ethischen Maßstäbe der Gemeinde nicht teilt.“ Wichtig ist ihm auch: „Kein Richtlinienpapier kann für jeden Fall und für jede Lebenssituation eine klare Antwort geben. … Aus unserer Sicht wären allzu detaillierte Listen, die jeden Fall erfassen, eine Praxis gelebter Gesetzlichkeit. Ein Wert bzw. Prinzip Gottes sollte „im Herzen“ eines Christen leben und von innen nach außen gelebt werden.“ „Klar in der Sache, aber offen und wertschätzend im Umgang mit Menschen“ ist für ihn eine zentrale Handlungsdevise. Dabei ist ihm wichtig, dass „wir nur durch eine gute Beziehung und aus Liebe heraus das Recht erwerben, in das Leben von Menschen zu sprechen.“ „Beziehung kommt immer vor Erziehung.“

Auch Mark Schröder von der Elim-Gemeinde Leipzig schreibt: „Wir sind der Überzeugung, dass Gott für die Sexualität den Rahmen der Ehe gegeben hat. Sex vor der Ehe ist nicht im Sinne des Erfinders. Wer das nicht beachtet, tut sich selbst nichts Gutes. Das kommunizieren wir deutlich.“ Er ergänzt aber auch: „Wir wollen keinen mit Regeln zwingen, sondern erreichen, dass aus eigener Überzeugung gehandelt wird.“ „Unser Ziel ist nicht, dass Menschen uns etwas beweisen, sondern dass sie selbst zum reifen Handeln befähigt werden. Nur dann schafft man ein Klima, in dem auch mit Versagen ehrlich umgegangen werden kann.“ In allen Gesprächen „geht es nicht um eine Be- oder Verurteilung eines Verhaltens, sondern darum, Ermutiger zu sein, damit die Lebensführung auf den richtigen Weg kommt.“

Man kann diesem wichtigen Buch nur eine möglichst weite Verbreitung wünschen. Denn auch unter Evangelikalen ist heute leider nicht mehr klar, was in der Bibel vermittelt und in diesem Buch vielfältig erläutert und unterstrichen wird:

„Wohin mit dem Sex? – in die Ehe!“


Das Buch “Schriftverständnis und die Folgen für die Lebensführung” ist beim Forum Theologie & Gemeinde als Paperback und als E-Book erhältlich.


[1] Wolff definiert dabei den Begriff „Hermeneutik“ wie folgt: „Hermeneutik (gr. hermeneia) = Wissenschaft/Kunst der Auslegung (altgr. hermeneúein: erklären, auslegen, übersetzen). Die Hermeneutik ist die Wissenschaft der Auslegung (biblischer) Texte. Es sind die Regeln, die bei der Bibelauslegung zur Anwendung kommen. Was darf man mit biblischen Texten machen und was nicht?

[2] Armin Baum: „Vorehelicher Geschlechtsverkehr in der Antike und in der Bibel“ https://www.weisses-kreuz.de/dynamo/files/user_uploads/mediathek/Weitere/WKExtra_Zimmer_Ehe.pdf

Wie Vorannahmen die (Bibel-)Wissenschaft beeinflussen

– und warum sie von jedem Menschen auf Augenhöhe beurteilt werden können

In seinem Buch „Glaube, Wissenschaft und die Bibel“ befasst sich der finnische Professor Tapio Puolimatka mit der Frage: Wie beeinflussen die Grundüberzeugungen eines Menschen seine Denkergebnisse? Puolimatka zeigt, dass Forscher unumgänglich zu ganz anderen Ergebnissen kommen, wenn man die Existenz Gottes außer Acht lässt, wie auch manche moderne Bibelforscher dies tun. Wie C. S. Lewis kommt er zu dem ernüchternden Ergebnis, dass Gelehrtheit kein Garant ist für Urteilsvermögen.

Puolimatka unterscheidet drei unterschiedliche Grundüberzeugungen:

(Der nachfolgende Rest dieses Artikels setzt sich aus Auszügen aus dem Buch von T. Puolimatka zusammen, die Überschriften sind nachträglich eingefügt, die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlags.)

Nach der naturalistischen Herangehensweise kann man nur natürliche Gründe als Erklärung historischer Ereignisse anbringen. Übernatürliches gibt es nicht. Zumindest kann es den Gang der Geschichte nicht beeinflussen. Gott kann sich nicht selber den Menschen durch historische Ereignisse offenbaren. Die übernatürlichen Wundererzählungen der Bibel kann man als solche nicht als wahre Beschreibungen wirklicher geschichtlicher Ereignisse akzeptieren, sondern man muss eine natürliche Erklärung für sie finden. Nach der naturalistischen Auffassung müssen die Methoden, die Wissenschaft anwendet, „atheistisch“ sein. „Sie schließen Gott von Anfang an aus allen wissenschaftlichen Erklärungsmodellen aus.“ (Laato (1994), S. 7)

Neben dem weltanschaulich bindenden starken Naturalismus wird die Forschung beeinflusst durch den schwachen bzw. methodischen Naturalismus, der die Fragen nach Gottes Existenz und der Möglichkeit von Wundern offen lässt. Bei dieser Herangehensweise werden die Existenz Gottes, Jesu Göttlichkeit oder die Möglichkeit von Gottes Offenbarung weder bejaht noch verneint. In Kreisen wissenschaftlicher Forschung sind nur solche Annahmen statthaft, die alle Forscher akzeptieren können.

Nach dem Supernaturalismus kann man einen Ausgangspunkt , der sich auf die Offenbarung Gottes gründet, nicht mit guten Gründen aus dem Bereich der Wissenschaft ausschließen, da die beste Erklärung für alles Existierende aus Gott und seiner Offenbarung kommt. Nach der Auffassung des Supernaturalismus ist wissenschaftliche Forschung niemals neutral – im Hintergrund stehen immer Annahmen, die man weltanschaulich oder religiös klassifizieren kann.

Grundlegende Überzeugungen sind nicht immer bewusst, da sie häufig unter Wissenschaftlern einen Status der Selbstverständlichkeit haben. Vorweg-Annahmen sind wie Brillengläser, durch die man die Wirklichkeit betrachtet. Dem Menschen fällt es schwer, selbstkritisch auf seine eigenen vorgefassten Annahmen zu blicken, da er diese Annahmen durch dieselben Brillengläser betrachtet.

Forscher haben kein Sonderwissen im Hinblick auf diese Grundannahmen. Vergleicht man die Grundannahmen, so hat jeder beliebige Mensch die Voraussetzungen, die Überzeugungskraft von humanwissenschaftlichen und theologischen Forschungsergebnissen zu beurteilen.

Der Naturalismus beeinflusst die Bibelwissenschaft

Der Streit zwischen Naturalismus und Supernaturalismus nimmt in der Bibelkritik eine feste Form an in der Frage, ob Gott sich im Wort offenbart hat. Konnte Gott beispielsweise auf übernatürliche Weise die Entstehung der Texte der Bibel so steuern, dass man sie „Gottes Wort“ nennen kann? So mancher Forscher, der auf die wissenschaftliche Erforschung der Bibel spezialisiert ist, hat als Basis seiner Forschung die naturalistische Grundannahme verinnerlicht. Gott könne sich nicht auf übernatürliche Weise in historischen Ereignissen und im biblischen Wort offenbaren, oder zumindest könne man eine solche Offenbarung nicht als Ausgangspunkt der Forschung heranziehen. „Er erforscht die Bibel als menschliches Dokument, als würde Gott nicht existieren.“ (Laato 1994) Der Naturalismus (in seiner starken und schwachen Form) der die Kultur unserer Zeit und die Wissenschaft prägt, lässt den Gedanken an einen Gott hinter sich, der sich in den Ereignissen der Geschichte und im Wort der Bibel kundtut. Auch dann, wenn man die Möglichkeit eines solchen Gottes grundsätzlich bejaht (schwacher Naturalismus), gehört er doch nach dieser Anschauung nicht in den Bereich der Wissenschaft.

Theologen akzeptieren diese Herangehensweise, da der Naturalismus in der breiten wissenschaftlichen Öffentlichkeit eine Vormachtstellung einnimmt, und sie rechtfertigen sie damit, dass eine Auseinandersetzung zwischen Menschen mit verschiedenen Sichtweisen erst dadurch ermöglicht würde, dass man sich in der Wissenschaft auf solche Grundannahmen beschränke, die alle akzeptieren können. Wenn Theologen zum Ausgangspunkt ihrer Forschung nehmen würden, dass Gott gesprochen habe und dass man Gottes Sprechen erkennen und verstehen könne, dann würden sie in einen Konflikt mit der breiten wissenschaftlichen Öffentlichkeit geraten.

Es mag zu vereinfachend erscheinen, die Bibelkritik hauptsächlich aus der Perspektive zweier Herangehensweisen zu behandeln, des Supernaturalismus und des Naturalismus. Dies ist dennoch nicht so vereinfachend, wie man es anfangs meinen könnte. Nach Edward Craig (Craig, 2004) existieren nämlich nur zwei grundlegende Weltanschauungen oder Wirklichkeitsbegriffe, und alle anderen Auffassungen, Philosophien und Theorien bilden sich in Abhängigkeit von ihnen oder als ihre Variation heraus. Einerseits gibt es die supernaturalistische Vorstellung, nach der Gott der Ursprung der Wirklichkeit ist und der Mensch ein nach Gottes Bild geschaffenes Wesen, das in der von Gott geschaffenen Welt lebt. Andererseits gibt es die naturalistische Vorstellung, nach der die gesamte Wirklichkeit aus natürlichen Faktoren zu erklären ist. Für Craig ist es Selbstbetrug zu denken, dass es irgendeine neutrale Herangehensweise gebe, mithilfe derer es möglich sei, diese beiden Vorstellungen neutral zu untersuchen, ohne bei den Untersuchungen zu einer der beiden angebotenen Grundannahmen zu tendieren.

Warum in Bezug auf die Grundannahmen jeder Laie auf Augenhöhe mitreden kann

Die Frage, ob Gottes Offenbarung im Wort möglich ist, ist nach C.S. Lewis keine Sache, in der ein Forscher mehr Sachkenntnis oder Ansehen hätte als irgendein beliebiger Mensch. Es gibt keine eindeutige wissenschaftliche Antwort auf die Frage, ob Gott sich offenbaren kann. Hierzu nimmt man, bevor man zu forschen beginnt, eine Position ein, die auf Glauben beruht, und die eigene Position beeinflusst die Art und Weise, wie geforscht wird und die erzielten Ergebnisse. Nicht ein einziger Forscher ist Experte in grundlegenden Fragen der Existenz. „Hier (in der Frage nach der Möglichkeit des Übernatürlichen – Anm. des Übers.) reden sie einfach als Menschen; als Menschen, die vom Geist des Zeitalters, in dem sie aufwuchsen, offensichtlich beeinflusst und ihm gegenüber vielleicht zu unkritisch sind.“ (Lewis 1986)

Das besondere Können eines Forschers konzentriert sich auf ein sehr enges Sondergebiet. Was seine in die Forschungstätigkeit einfließenden Grundannahmen betrifft, ist er gezwungen, in gleicher Weise in Abhängigkeit von menschlichen Grunderfahrungen und Selbsterkenntnis zu handeln wie jeder beliebige Mensch. Daher kann jeder Mensch auch mit guten Gründen die in der wissenschaftlichen Öffentlichkeit dominierenden Denkvoraussetzungen beurteilen und seiner Kritik unterwerfen.

In vielen hervorragenden exegetischen Kommentaren kristallisiert sich eine große Menge an für den Bibelforscher nützlichem Wissen heraus. Das bedeutet aber nicht, dass man blind den Ergebnissen der exegetischen Forschung glauben kann. Denn die Forschung ist so stark an die vorausgehenden Annahmen und grundlegenden Grundüberzeugungen des Forschers gebunden; aus welchem Blickwinkel der Forscher die Dinge betrachtet und welche Fakten er von seinem Standpunkt der Interpretation aus für bedeutungsvoll erachtet und auswählt, bestimmt die Auslegung.

Daher kann ein gewöhnlicher Bibelleser, der das Alte Testament gut kennt, dem Text mehr gerecht werden als ein auf Auslegung spezialisierter Exeget, der den Schlüssel zur Interpretation in der griechisch-römischen Kultur zu finden glaubt.


Das Buch „Glaube, Wissenschaft und die Bibel“ von Prof. Tapio Puolimatka in der Übersetzung von Beile Ratut ist 2018 im Ruhland-Verlag erschienen. Es ist hochaktuell und grundlegend, indem es den Einfluss von Grundüberzeugungen auf das Leben, die Wissenschaften und insbesondere die Theologie untersucht. In Finnland mit seinen nur 5 Mio. Einwohnern gingen 6.000 Exemplare dieses Buchs über den Ladentisch.

Der Kampf ums Bibelverständnis

Wegweisende Erkenntnisse aus dem Buch „Biblische Hermeneutik“ von Prof. Gerhard Maier

„Biblische Hermeneutik“: Dieses Buch von Prof. Gerhard Maier hätte ich am liebsten jedem Theologen zu Weihnachten unter den Baum gelegt. Der Autor ist mir schon lange ein Begriff, schließlich war er 4 Jahre lang Landesbischof meiner württembergischen Landeskirche. Dass er zugleich ein herausragender Theologe ist, war mir auch schon zu Ohren gekommen. Tatsächlich ist sein Buch „Biblische Hermeneutik“ nichts weniger als ein grundlegender Ruf zur Umkehr in der Theologie. Maier setzt sich intensiv mit der sogenannten „historisch kritischen Methode“ (HKM) auseinander, die aktuell eine fast uneingeschränkte Dominanz besitzt:

„Die Meinung, „dahinter können wir nicht mehr zurück“, ist eine der am weitesten verbreiteten, auch im Kreise sog. „evangelikaler“ Theologen. … Noch 1971 konnte Richter schreiben: „Das Recht, die historisch-kritische Methode anzuwenden, ist heute … in der Theologie unbestritten“. Dabei ist allen klar, dass die „Kritik“ nicht nur die (selbstverständliche!) Aufgabe des Unterscheidens wahrnimmt, sondern ein „kritisches“ Beurteilen der biblischen Aussagen, ihre Bejahung oder Verwerfung, kurz: die Sachkritik an der Bibel, einschließt.“ (S. 214)

Eben diese Sachkritik ist für Maier das entscheidende Problem bei der HKM, denn: „Jede Sachkritik an der Bibel gibt … Teile ihres Inhalts preis. … Die zahllosen Schwankungen, denen innerhalb der letzten 300 Jahre die Sachkritik unterworfen war, widerlegen eindrucksvoll die Behauptung, die Schrift ermögliche aus sich selbst heraus eine solche Sachkritik.“ (S. 266)

Sachkritik bedingt immer, dass es einen menschlichen Kritiker geben muss: „Was sich … durch die ganze Geschichte der historischen Kritik hindurchzieht, das ist die Anschauung, dass der Mensch über den Wahrheitsgehalt der Offenbarung zu entscheiden habe.“ (S. 259) Der Bibel wird damit eine zweite Autoritätsinstanz beigestellt: „Das katholische Lehramt ist evangelischerseits im Laufe der Zeit durch Vernunft und Wissenschaftlichkeit, deren Inhalte umstritten blieben, ersetzt worden. … Wahrhaftigkeit und modernes Weltverständnis sind hier ethische und intellektuelle Verstehensvoraussetzungen, die in ihrer Kombination zu einer zweiten Instanz neben der Schrift führen.“ (S. 142) Somit ist die reformatorische Formel „Sola scriptura“ preisgegeben, die bis zum Pietismus noch galt. (S. 302)

Die zentrale Weichenstellung: Trennung von Text und Offenbarung

Grundsätzlich möglich wird die Bibelkritik der HKM durch folgende zentrale Weichenstellung: „Grundlegend für die historisch-kritische Arbeitsweise ist die Trennung von Schrift und Offenbarung bzw. von Bibel und Wort Gottes. Keinesfalls besteht hier eine Identität.“ (S. 262) Beispielhaft zeigt Maier das an der „dreifachen Gestalt des Wortes Gottes“ von Karl Barth, in der u.a. zwischen dem schriftlichen und dem offenbarten Wort Gottes unterschieden wird, wobei das schriftliche Wort (die Bibel) nicht die eigentliche Offenbarung ist. Die Bibel bezeugt sie nur. Maier begründet, warum er sich mit dieser Lehre nicht befreunden kann: „Sie zerbricht die Theopneustie („göttliche Eingebung“, „Durchhauchtsein mit dem Geist“, 2. Tim. 3, 16) an der entscheidenden Stelle, nämlich dort, wo gerade die Schrift als das final gemeinte Wort des Heiligen Geistes Gestalt gewinnen soll … indem sie uns letztlich an ein unkonkretes, zeitloses „Dahinter“ bindet. Und sie widerspricht auch der Position Luthers und der Reformatoren, für die das biblische Wort der eigentliche Wille Gottes war.“ (S. 104)

Erst durch diese Trennung zwischen biblischem Wort und Offenbarung ist es möglich, kritisch an das biblische Wort mit dem Prinzip des wissenschaftlichen Zweifels heranzutreten. Das ist für ihn die eigentliche „Innovation“ der historisch kritischen Methode: „Nicht die Entdeckung neuer, bisher unbekannter Arbeitsschritte oder methodischer Einzelverfahren war das Entscheidende. Sondern der prinzipiell vom Zweifel geprägte Umgang mit der Heiligen Schrift.“ (S. 221)

Deutlich wird dieser Zweifel zum Beispiel im Umgang mit den geschichtlichen Aussagen der Bibel. Das ist aus seiner Sicht besonders tragisch, denn: „Der biblische Glaube hängt tatsächlich aufs engste mit der wirklichen Geschichte zusammen. … Entzieht man ihm die geschichtliche Basis, auf die er aufgebaut ist, dann hat man ihn prinzipiell widerlegt. … Der Glaube hängt an seiner Geschichtlichkeit.“ (S. 181)

Hinzu kommt in der HKM die bis heute nicht überwundene allgemeine Skepsis gegen Wunder und Prophetie: „Im Grunde teilt das ganze 19. Jh., soweit es die historisch-kritische Forschung in Deutschland betrifft, das Urteil, dass wir heute an Wunder nicht mehr glauben können. … Ja selbst in unserem Jahrhundert noch wird die historische Kritik von dem Gedanken beherrscht, dass Wunder ungeschichtlich seien.“ (S. 196)

Daran zeigt sich, wie wenig die historisch kritische Methode ihren eigenen Anspruch einlöst, „wissenschaftlich“ und „objektiv“ zu sein: „Es besteht … unter den Anhängern der historischen Kritik eine erstaunliche Übereinstimmung darüber, dass sie „ein Kind der Aufklärung“ darstellt. … Damit ist die dominierende Rolle der Vernunft ausgesagt. … Hier erhält also … der Mensch einen absoluten Vorrang. … Auf der anderen Seite wird deutlich, dass diese „Vernunft“ keine weltanschauliche Neutralität besitzt. Im Gegenteil, sie ist eine religiös determinierte Größe. Um noch einmal Picht zu zitieren: „Die Vernunft des europäischen Denkens ist als Projektion des Gottes der griechischen Philosophie bis in ihre innersten Elemente vom Mythos durchtränkt. Es ist ein Zeichen mangelnder Aufklärung, wenn wir das nicht wissen. Von hier aus fällt ein neues Licht auf die Spannung zwischen Glauben und Vernunft, aber auch auf die unglückliche Liebe der Theologen zu dieser selben Vernunft.“ Das heißt, die Berührung der Theologie mit der Philosophie der Aufklärung und die Entwicklung einer vernunftverantwortlichen Bibelwissenschaft war eben kein Methodenproblem im neutralen Sinne, sondern eine religiöse Kontamination. … Die neue Situation, die durch eine solche Anwendung von Kritik entstand, muss eindeutig als ein Bruch mit der vorangehenden christlichen Geschichte bezeichnet werden.“ (S. 236/237)

Das Bibelverständnis muss aus der Bibel kommen!

Angesichts dieser grundsätzlichen Dramatik stellt sich nun umso drängender die Frage: Wie begegnet Gerhard Maier nun der HKM? Im ganzen Buch findet sich dazu immer das gleiche Prinzip: Maier setzt den Sichtweisen der HKM nicht einfach seinen eigenen Ansatz gegenüber. Zwar ist er sich zwar bewusst, dass „eine voraussetzungslose Auslegung ein Phantom, eine Selbsttäuschung darstellt. Doch gerade unsere Voraussetzungen will die Bibel in Frage stellen, korrigieren und teilweise zerstören.“ (S. 15) Prof. Maier betont also: Wir können unsere Denkvoraussetzungen beim Auslegen der Bibel nicht beliebig wählen. Die Bibel hat eine Meinung dazu, wie sie korrekt gelesen und ausgelegt werden will! Deshalb befragt Maier immer wieder den biblischen Text, den er durchweg als „Offenbarung“ bezeichnet. Er will sich sein Schriftverständnis von der Bibel selbst vorgeben lassen, denn: „Wahrscheinlich ist die wichtigste hermeneutische Entscheidung diejenige, ob wir den Ausgangspunkt bei der Offenbarung selbst oder beim Menschen nehmen.“ (S. 19) Er wendet damit vorbildlich das reformatorische Prinzip an, dass die Schrift sich selbst auslegen muss. Im Zentrum steht für Prof. Maier deshalb die Frage:

Welches Bibelverständnis gibt uns die Bibel vor?

Maier stellt zum einen fest, dass die Bibel die menschliche Vernunft als oberste Autoritätsinstanz für vollkommen ungeeignet hält: „Die Offenbarung kennt den „autonomen“ Menschen nur als den „verlorenen“ Menschen. … Seine Autonomie war von Anfang an eine Utopie und ein Weg in die Sklaverei, ja zum Rande des Untergangs.“ (S. 242/243)

Das biblische Bibelverständnis stellt sich für Maier nach ausführlicher Analyse der biblischen Aussagen wie folgt dar: „Diese Offenbarung beansprucht, aus Gottes Geist hervorgegangen zu sein. Sie ist … Anrede Gottes an uns. Wer sie hört, hört in erster Linie nicht die menschlichen Verfasser und Glaubenszeugen, sondern den dreieinigen ewigen Gott. … Als einzigartiges Reden Gottes hat sie eine einzigartige, unvergleichliche Autorität. An dieses Wort hat sich Gott gebunden. Er hat es zum Ort der Begegnung mit uns bestimmt. Er wird dieses Wort bis ins letzte hinein wahr machen und erfüllen. Die Schriftautorität ist im Grunde die Personenautorität des hier begegnenden Gottes.“ (S. 151)

Wichtig ist Prof. Maier dabei der Begriff der „Inspiration“. Nicht nur die biblischen Autoren waren von Gottes Geist inspiriert („Personalinspiration“), nein: Der Text selbst ist von Gottes Geist inspiriert („Verbalinspiration“), und zwar der vollständige Bibeltext aller kanonischer Bücher im endgültig vorliegenden Urtext („Ganzinspiration“). Genau das nimmt laut Maier auch der biblische Text für sich selbst in Anspruch: „Die weitaus meisten Schriften des Neuen Testaments sind nach der Selbstaussage des NT inspiriert … oder lassen den indirekten Anspruch erkennen, inspirierte Schrift zu sein. … Wenn später die Kirche … die Inspiration aller neutestamentlichen Schriften anerkannte, dann stand sie auf einem guten historischen Boden und darüber hinaus im Einklang mit der Offenbarung selbst.“ (S. 88)

Darüber hinaus beansprucht der Bibeltext noch folgende Eigenschaften für sich: „Die Offenbarung schreibt dem Worte Gottes vor allem vier Eigenschaften zu: Erstens: Es ist verlässlich. … Zweitens: Es ist wirksam. … Drittens: Es zeigt den Willen Gottes auf und damit den Weg zum Heil. … Viertens: Es ist verbindlich. … Man kann also beobachten, dass Begriffe wie „Irrtumslosigkeit“, „Fehlerlosigkeit“ oder „Unfehlbarkeit“ in der Bibel nicht gebraucht werden. Aber noch weniger spricht die Bibel von „Fehlern“ oder dergleichen.“ Ein bibelnaher Begriff für den Selbstanspruch der Bibel ist aus der Sicht von Maier: „Vollkommene Verlässlichkeit.“ (S. 122). Dazu erläutert er: „Das zur Schrift gewordene Wort Gottes ist vollkommen verlässlich und fehlerlos im Sinne seiner göttlichen Zwecke, also von Gott her betrachtet.“ (S. 125)

Mit Jesus die Bibel kritisieren? Die Einheit und Klarheit der Schrift

Aus der Urheberschaft Gottes folgt für Maier auch die Einheit der Schrift: „Die Einheit der Schrift wird am stärksten begründet durch den einen Urheber, den sie hat, Gott. … In der Tat ist die Behauptung einer Widersprüchlichkeit davon abhängig, dass man die menschlichen Glaubenszeugen zu den maßgeblichen Autoren der Schrift ernennt und den göttlichen Autor verdrängt.“ (S. 164) „Erst seit der Aufklärung ging die Überzeugung von der Einheit der Schrift in weiten christlichen Kreisen verloren.“ (S. 160) Das ist dramatisch, denn: „Wo man die Einheit der Schrift verliert, verliert man auch das Mittel, gegen die Häresie zu kämpfen. … Bezeichnenderweise gab es seit der Aufklärung zwar noch eine Kirchenzucht, aber im Grunde keine Lehrzucht mehr. … Damit wird jedoch das NT auf den Kopf gestellt.“ (S. 165)

Aber widerspricht sich die Bibel nicht selbst? Können bzw. müssen wir nicht mit Jesus andere Teile der Bibel kritisieren? Diesen Ansatz verwirft Maier aufs Schärfste: „Die Schrift war für Jesus wie für seine jüdischen Gesprächspartner die letzte Entscheidungsinstanz. … Es kann überhaupt kein Zweifel daran sein, dass den heiligen Schriften in den Augen Jesu eine unvergleichliche Autorität zukommt. Wer bei ihm „Kritik“ am AT finden will, muss alles auf den Kopf stellen.“ (S. 149) „Eine Anleitung aus der Schrift, Schrift mit Schrift abzulehnen (was ja der Begriff der „Sachkritik“ impliziert), gibt es nirgends.“ (S. 265)

Kritisch sieht Maier deshalb auch den Versuch, eine „Mitte der Schrift“ zu konstruieren: „Die „Mitte der Schrift“ wurde praktisch zum Ersatz für die verlorengegangene „Einheit der Schrift“. … Wird aus der Christusmitte ein Christusprinzip, dann wird die Schrift entleert und ihrer Fülle beraubt. … Es kann sich nur um eine personale Mitte handeln. … Jeder Versuch, diese Mitte als ein isolierbares Etwas herauszulösen oder in Form eines Lehrgesetzes zu formulieren, zersprengt die Kontinuität der heilsgeschichtlichen Offenbarung.“ (S. 174-176).

Dazu verteidigt Maier die „Klarheit der Schrift“: „Die Autorität der Schrift kann sich praktisch nur durchsetzen, wenn jeder schlichte Christ in der Lage ist, einen klaren Begriff vom Inhalt der Schrift zu gewinnen. … Jesus konnte die wiederholte Frage: „Habt ihr nicht gelesen?“ nur stellen, wenn er von der Klarheit der Heiligen Schrift überzeugt war. … Die schriftgewordene Offenbarung behauptet, für jedermann zugänglich und eindeutig genug zu sein.“ (S. 155/156)

Konsequenzen der HKM: Ethisierung, Subjektivierung, Individualisierung, Erfahrungstheologie

Gerhard Maier ist als ehemaliger Landesbischof nicht nur Theologe sondern auch Gemeindepraktiker. Vor diesem Hintergrund sollte man umso aufmerksamer hinhören, wenn er die negativen Folgen der historisch kritischen Methode wie folgt beschreibt: „Der Inhalt, von dem die Neologie (d.h. die aus der Aufklärung resultierende Lehre) den Offenbarungsbegriff entleert, ist der historische; der Inhalt, den sie neu einfüllt, ein rationaler. Sobald aber die Geschichte durch das Rationale ersetzt wird, wird die Bibel zum Lehrgesetz. Deshalb ist es überhaupt nicht erstaunlich, dass in der Aufklärung die sittliche Vernunft zum dogmatischen Kriterium wird, … und eine „Ethisierung des Christentums“ eintritt.“ (S. 170) Außerdem wächst für Maier „den subjektiven Faktoren eine beherrschende Rolle zu.“ (S. 9)  Und: „Mit dem Vernunftglauben ist der Individualismus einer der stärksten Motive der historischen Kritik.“ (S. 240) „Wir entdecken, dass die Trennung von Schrift und Offenbarung … einen ganz andersartigen Raum schaffen kann: dem Empfinden … Wie will die gemäßigte Kritik, gefangen im Zwei-Instanzen- und im Widersprüchlichkeits-Denken, den Umschlag in eine solche Erfahrungstheologie verhindern?“ (S. 331)

Ist „gemäßigte Kritik“ die Lösung?

Mit „gemäßigter Kritik“ meint Maier den theologischen Versuch, die historisch-kritische Herangehensweise mit konservativen theologischen Positionen zu verbinden. Diesem Versuch erteilt Maier eine Absage, denn: „Sie begnügt sich als Vermittlungstheologie … wo ein grundsätzlicher Neuanfang erforderlich wäre. Statt die Schrift als inspiriert zu betrachten lässt sie nur eine Inspiration der biblischen Schriftsteller gelten. Sie bleibt darin der Aufklärung verhaftet, dass sie neben die Schrift eine zweite Instanz stellen muss, vor der sich der Ausleger zu verantworten hat. Sie kann infolgedessen die reformatorische Sicht von der Bibel als der einzigen norma normans nicht durchhalten. Sie fordert die Sachkritik an der Bibel. Ohne Sachkritik gibt es für sie keine Theologie als Wissenschaft. Die Einheit der Schrift wird von ihr preisgegeben. Schrift und Offenbarung bleiben bei ihr verschiedene, sich nur teilweise deckende Größen. Deshalb folgt sie dem Trend, das Eigentliche jenseits der Schrift zu suchen. Indem sie Schrift und Offenbarung voneinander trennt und nur bestimmte Aussagedimensionen als Gottes Wort anerkennt, fördert sie den Hang zur Erfahrungstheologie.“ (S. 331)

Vertrauen und Offenheit statt „wissenschaftlicher Zweifel“

Grundsätzlich notwendig ist für Maier eine klare Absage an das Prinzip des „wissenschaftlichen Zweifels“, denn: „Eine Begegnung mit der Offenbarung, die Skepsis und Zweifel zum Prinzip macht, bedeutet ein brüskes Nein zu ihrer Vertrauensbemühung. Man kann den Ausleger psychologisch und existenziell in keine schroffere Gegenposition versetzen, als indem man ihm den Zweifel vorschreibt.“ (S. 247). Stattdessen fordert er einen theologischen Wissenschaftlichkeitsbegriff, der dem Forschungsgegenstand gerecht wird: „Ein prinzipieller Zweifel ist … das unangemessenste Verfahren für den Umgang mit der Bibel.“ (S. 14) „Jede Wissenschaft richtet sich nach ihrem Gegenstand. Biblische Wissenschaft müsste sich demnach aus dem Reden Gottes aufbauen. Sie müsste bereit sein, sich ihre Erkenntnisse und Positionen aus der Offenbarung selbst geben zu lassen.“ (S. 268) „Unter dieser Voraussetzung ist die Theologie samt ihrer Hermeneutik eine Wissenschaft. Allerdings eine Wissenschaft sui generis (eigener Art), die sich von allen anderen durch ihre Offenbarungsgebundenheit und ihren Glaubensbezug unterscheidet.“ (S. 34)

Entsprechend charakterisiert Maier die angemessene Haltung des Auslegers gegenüber dem biblischen Text wie folgt: „Nirgends ist uns die Unfehlbarkeit des Verständnisses versprochen (vgl. 1 Kor 13,9). Doch wird den Ausleger … ein Urvertrauen zur Bibel als der schriftgewordenen Offenbarung begleiten. … Dieses Urvertrauen schlägt sich nieder in dem Vertrauensvorschuss, der der Bibel gewährt wird.“ (S. 49) „Seine Grundhaltung ist das erwartungsvolle Gebet und die demütige Offenheit.“ (S. 339)

Ich kann meiner Kirche mit ihren theologischen Fakultäten nur von Herzen wünschen, dass sie auf Prof. Maier hört. Längst ist sein Ruf zur Umkehr auch in den Freikirchen und in der evangelikalen Bewegung insgesamt dringend notwendig, denn die Trennung zwischen Schrift und Offenbarung ist auch dort weit verbreitet.


Das Buch ist 1990 im SCM R.Brockhaus-Verlag erschienen (zuletzt 2017 in der 13. Auflage) und kann hier bestellt werden.

WEITERGLAUBEN – Fundiert unfundamentalistisch?

Weiterglauben – so heißt das neue Buch von Professor Thorsten Dietz. Dietz lehrt an der evangelischen Hochschule Tabor. Der Buchtitel ist doppeldeutig gemeint:

  1. Angesichts des schmerzlichen Verdunstens von Frömmigkeit in unserem Land will Dietz ermutigen, weiterhin am Glauben festzuhalten. Als Beispiel schildert er den Glaubensweg von Torsten Hebel, der trotz einer tiefen Krise den Glauben nicht aufgab sondern gemäß der Analyse von Jürgen Schuster von einer dogmenorientierten auf eine “beziehungsorientierte, erfahrungsoffene und dialogische” Glaubensweise umgestellt hat, die dem postmodernen Mindset besser gerecht wird. Dietz lässt nicht unerwähnt, dass diese Deutung u.a. von Dr. Gerrit Hohage auf biblipedia.de kritisiert wurde. Die Kritik wird aber nicht besprochen, stattdessen beklagt Dietz allgemein den „Sog der Polarisierung“, in dem es nicht um das nähere Verständnis der Sachfragen ginge sondern „sofort um: Dieses Denken führt in die Irre bzw. ist das einzig mögliche.“ (S. 22)
  2. Um weiter glauben zu können hält Dietz es für hilfreich, den Glauben weiter zu fassen, als fundamentalistisch geprägte Strömungen dies tun. Dietz will “fundiert unfundamentalistisch” sein, wie es auf dem Buchrücken heißt. Gleich auf der ersten Seite des Vorworts grenzt Dietz sich ausdrücklich vom AiGG-Blogartikel „Worthaus – Universitätstheologie für Evangelikale“ ab. Die Tatsache, dass Worthaus Universitätstheologie auch unter Evangelikalen immer populärer macht, solle man nicht als Warnung lesen sondern als Kompliment. Genau an diesen Erfolg von Worthaus will Dietz mit seinem Buch anknüpfen.

Hilfreiche Einsichten und Erkenntnisse

Beim Lesen des zwar anspruchsvoll geschriebenen aber durchaus angenehm zu lesenden Buchs hatte ich einen Bleistift in der Hand, um gute und wertvolle Aussagen mit einer geraden Linie zu unterstreichen und fragwürdige Aussagen mit einer Wellenlinie zu markieren. Als Resultat muss ich sagen: Die geraden Linien überwiegen bei weitem. Thorsten Dietz schildert viele wertvolle Einsichten, die ich von Herzen unterstreichen kann. Viele der Gefahren konservativer Frömmigkeitspraxis, auf die Dietz hinweist, finden sich so oder so ähnlich auch in meinen Schriften:

  • Eine herz- und geistlose Dogmenorientierung auf Kosten der Wahrhaftigkeit und Menschlichkeit
  • Ein strikt polares oder gar polemisches Freund-Feind-Denken samt der Unfähigkeit, das Gegenüber differenziert zu betrachten und sich sachlich streiten zu können
  • Die Wahrung der eigenen Identität primär durch negative Abgrenzung von Anderen
  • Der Irrtum, dass man Gott und die Wahrheit durch rein intellektuelles Begreifen der Bibel im Griff haben könnte

Ich stimme Dietz im Grunde zu, wenn er sagt: „Wenn Jesus die Wahrheit ist, dann kann ich nicht einfach mein noch so richtiges Denken über ihn als DIE Wahrheit bezeichnen. Ich bekomme die Wahrheit über ihn nicht in den Griff. Sie erschließt sich mir, wo ich auf seine Stimme höre und wo ich aus seiner Wahrheit lebe.“ (S. 62, Hervorhebung nachträglich)

Wohltuend sind auch einige kritische Hinweise von Thorsten Dietz in Richtung eines alles auflösenden und zur Beliebigkeit neigenden Subjektivismus:

  • „Wenn wir darauf verzichten, die Wahrheit vernünftig erkennen zu wollen, dann lösen sich die Fragen nicht einfach auf. Für die Beantwortung gilt dann das Recht des Stärkeren.“ (S. 55) Dass das Schwinden einer allgemein akzeptierten höheren Wahrheit der Grund ist für die auch in unserer Gesellschaft um sich greifende Verrohung der Debattenkultur hat auch Vishal Mangalwadi eindrücklich dargelegt.
  • „Der Verzicht auf die Wahrheitsfrage ist ein Luxus der Unbeteiligten.“ (S. 56) Wenn Verantwortungsträger meinen, sie könnten sich um des lieben Friedens willen einfach aus allen Streitfragen heraushalten, dann ist auch das eine Entscheidung, die massive Konsequenzen hat. Die Vogel-Strauß-Taktik ist keine Lösung. Wir müssen uns den Debatten stellen und Position beziehen.

Letztlich beschreibt Dietz die Pole gut, wenn er schlussfolgert:

„Wahrheit geht nicht auf in richtigen Informationen. … Zugleich lässt sich Wahrheit auch nicht einfach reduzieren auf Wahrhaftigkeit, auf das bloß subjektive Gefühl: Für mich ist das stimmig. […] Die Wahrheit des christlichen Glaubens wird auf beiden Wegen verfehlt. Weder das Ideal der absoluten Objektivität noch die Verabsolutierung der Subjektivität („für mich fühlt es sich aber gut an“) werden ihr gerecht.“ (S. 67/68)

Den Anhängern einer rein subjektiven Wahrheitssicht schreibt Dietz zudem in erfrischender Deutlichkeit ins Stammbuch: „Wer sich lange und intensiv mit der Geschichte christlicher Lehrstreitigkeiten befasst, der kann zwar eine gewisse Sehnsucht bekommen nach einem Christentum ganz ohne verbindliche Bekenntnisse, frei von Wahrheitsansprüchen. Aber im Ernst: Was unterscheidet am Ende ein undogmatisches Christentum von jedem anderen Ensemble, das sich auf die Weisheit von Leben und Lebenlassen einigen kann?“ (S. 69)

Schriftverständnis: Das Kind mit dem Bad ausgeschüttet

Auch das Kapitel über das Schriftverständnis enthält einige hilfreiche, wichtige Einsichten:

  • „Die neutestamentlichen Autoren haben ganz offensichtlich die Schriften des Alten Testaments als Gottes Wort gelesen, genauso wie die allermeisten Christen in der Kirchengeschichte.“ (S. 80)
  • „Darum hängt alles an der Erforschung des ursprünglichen Sinns der biblischen Texte selbst. Sola scriptura heißt bei Luther: Die Bibel selbst muss sich auslegen, sie muss mit der ursprünglichen Aussageabsicht ihrer Texte zur Geltung kommen. Keine menschliche Instanz kann das Fragen nach der biblischen Wahrheit durch letztgültige Auslegung beenden.“ (S. 83)

Angesichts dieser klaren Aussagen ist es umso überraschender, wenn Dietz dann plötzlich behauptet, die „Gleichsetzung von biblischen Texten und Gottes Reden, die unvermittelte Bezeichnung der Bibel als „das Wort Gottes“ sei verkürzt, denn: „Die biblischen Texte kennen einen solchen unmittelbaren Offenbarungscharakter der ganzen Bibel gar nicht.“ (S. 79) Wirklich nicht? Wie passt das zusammen mit der Aussage, dass die neutestamentlichen Autoren das Alte Testament „ganz offensichtlich“ als Gottes Wort gelesen haben?

Noch seltsamer wird es für mich, wenn Dietz schreibt: „Christen glauben an Jesus Christus und nicht an die Bibel. Das ist kein falscher Gegensatz, sondern im Grunde eine Selbstverständlichkeit.“ (S. 80) Soweit ich das sehe begründet Dietz diese These nicht. Und ich frage mich: Wenn sich mir die Wahrheit nur erschließt, „wo ich auf Jesu Stimme höre und aus seiner Wahrheit lebe“, (siehe Zitat oben) wie kann man denn dann den Glauben an Jesus Christus vom Vertrauen in die Verlässlichkeit der Bibel trennen? Denn seine Stimme und seine Wahrheit hören wir heute nun einmal allein und ausschließlich nur durch die Bibel! Wenn wir uns nicht darauf verlassen können, dass die Bibel verlässliches Wort Gottes ist, dann verschwimmt auch seine Stimme und seine Wahrheit zwangsläufig im Nebel. Man höre sich nur einmal den Worthausvortrag von Prof. Stefan Schreiber über den „historischen Jesus“ an, in dem er ein völlig vermenschlichtes Jesusbild zeichnet, das m.E. mit dem biblischen Christus, auf den ich im Leben und Sterben vertrauen kann, nur noch herzlich wenig zu tun hat.

Letztlich legt Dietz sich fest auf die Formel, die Bibel sei „Gotteswort in Menschenwort.“ (S. 98) Er meint, dabei die ganz große Mehrheit der Theologen aus ganz verschiedenen Lagern auf seiner Seite zu haben. Dietz stellt dabei folgende Extreme einander gegenüber:

„Das ist auf der einen Seite die Irrtumslosigkeit der Bibel und auf der anderen Seite die […] Vorstellung, dass der Historiker über ganz klare Maßstäbe verfüge und von vornherein ausschließen könne, dass Gott redet und tote Menschen auferweckt werden.“ (S. 94)

Dietz lobt dabei ausdrücklich „kritische Rückfragen“ zu einer „Exegese, die […] die Wunder nicht mehr wahrhaben möchte“ und verweist dabei auf den AiGG-Artikel „Stolz und Vorurteil?“ Wie schön! Aber aus welchen Gründen lehnt er ein Festhalten an der Irrtumslosigkeit der Bibel so vehement ab? Warum hält er es stattdessen für wünschenswert, dass „Christen die Einsicht in den Stückwerkcharakter aller Erkenntnis auf ihr Bibelverständnis anwenden“? (S. 97) Liefert der biblische Text denn tatsächlich nur Stückwerk?

Unfehlbare Schrift oder unfehlbare Auslegung? Ein grundlegender Argumentationsfehler

An dieser Stelle wird aus meiner Sicht geradezu beispielhaft ein grundlegender Argumentationsfehler deutlich, der mir schon öfter auffiel, wenn Theologen versuchen, eine liberalere Theologie einem konservativen Publikum schmackhaft zu machen. Denn das eigenartige ist: Soweit ich das sehe spricht Dietz in seinem Buch an keiner einzigen Stelle über Irrtümer in der Bibel, um seine These zu begründen. Er spricht vielmehr ausschließlich und allein über (aus seiner Sicht) fehlerhafte Auslegungen der Bibel.

Fast ein ganzes Kapitel verwendet Dietz darauf, die Option einer historischen Auslegung der biblischen Urgeschichte ad absurdum zu führen. Da wird der Theologe plötzlich zum Naturwissenschaftler: Astronomie, Chemie, Geologie, Paläogenetik: Sie alle sprächen unisono dafür, dass die biblische Urgeschichte historisch so nicht passiert sein kann. Zugleich weist Dietz darauf hin, dass es ja aber auch ganz konservative Theologen wie Timothy Keller gibt, die nicht an eine Historizität der biblischen Urgeschichte glauben. Zudem verweist er auf Johannes Hartl, der zur biblischen Schöpfungsgeschichte schreibt: „Ob sie historisch zu verstehen ist? Nun, wenn nicht historisch, so könnte man antworten, dann doch bedeutend realer gemeint als historisch. Es ist unsere Geschichte.“ (Zitat auf S. 118)

Nun kann man an diesem Punkt tatsächlich unterschiedlicher Meinung sein. Persönlich bin ich überzeugt davon, dass die biblische Urgeschichte tatsächlich auch einen historischen Wahrheitsgehalt hat, obwohl ich weiß, dass diese Annahme mit dem aktuellen Stand der Wissenschaften an einigen Stellen kollidiert (so wie schlichtweg jedes Weltbild mit einigen gravierenden Problemen zu kämpfen hat). Christen wie mir wirft Thorsten Dietz vor: „Eine fundamentalistische Bibellektüre, die einen solchen Text als einen Bericht verstehen möchte […] produziert vermeintliche Fehler und gewundene Rettungsversuche.“ (S. 111) Nun: Ich möchte die biblische Urgeschichte eigentlich nicht als historischen Bericht sehen. Mir fiele es wesentlich leichter, ihn nur symbolisch zu verstehen, denn das wäre wesentlich kompatibler mit der Weltsicht der allermeisten meiner Mitmenschen. Aber weder für mich noch für Thorsten Dietz sollte es doch von Bedeutung sein, was wir als Ausleger möchten. Entscheidend ist doch die Frage: Was möchte denn der Text???

Dietz hatte im Rückgriff auf Luther doch selbst betont, dass die Bibel sich selbst auslegen und allein die Aussageabsicht des Textes zur Geltung kommen solle. Und mein Eindruck ist nun einmal ganz deutlich: Auch die ersten Genesiskapitel möchten u.a. auch historisch verstanden werden – und sie werden ja auch an anderen Stellen der Bibel historisch verstanden. So hat z.B. Dr. Reinhard Junker eine Reihe von Hinweisen zusammen getragen, die das untermauern. Zugleich hat er dargelegt, welchen theologischen Schaden man nehmen kann, wenn man diesen historischen Aspekt der biblischen Urgeschichte aufgibt (wie z.B. der Zusammenhang von Adam und Christus gemäß Röm. 5, 12ff. oder die Konsequenzen für unser Gottes- und Menschenbild, wenn der Tod nicht Folge des menschlichen Abfalls sondern Schöpfungsmittel Gottes ist).

Ich kann aber durchaus damit leben, wenn einige Theologen wie J. Hartl das offen lassen oder wie T. Keller anders sehen wollen, solange sie damit nicht auch die theologischen Aussagen der Urgeschichte über Bord werfen. Die große Frage, die sich mir aber im Zusammenhang des Buchs von Thorsten Dietz stellt, ist: Was hat diese Diskussion denn mit der Frage nach der Irrtumslosigkeit der Bibel zu tun? Denn selbst Thorsten Dietz vertritt ja geradezu leidenschaftlich die These: Auch wenn die Urgeschichte nicht historisch sondern symbolisch gemeint ist, dann ist sie auf einer tieferen Ebene trotzdem durch und durch wahr!

Thorsten Dietz argumentiert also wortreich gegen eine aus seiner Sicht falsche Auslegung der Schrift. Aber er schüttet – ohne jedes Argument – dann das Kind mit dem Bad aus und verwirft darüber hinaus auch die Unfehlbarkeit der Schrift selbst. Die Argumentation von Thorsten Dietz misslingt aus meiner Sicht also im Kern an einer fehlenden Differenzierung zwischen einer unfehlbaren Schrift und einer unfehlbaren Auslegung. Letztere müssen wir in der Tat unbedingt kritisieren. Wir haben auch im protestantischen Raum zu viele Päpste, die ihre Schriftauslegung für die einzig wahre halten und gleich „Ketzer“ rufen, wenn man ihnen nicht in allen Details folgt. Unser Erkennen und somit auch unsere Auslegung ist Stückwerk. Niemand kann für sich beanspruchen, die Bibel durch und durch korrekt auszulegen.

Aber das ändert doch nichts daran, dass wir in Bezug auf die Schrift selbst daran festhalten müssen, was auch laut Thorsten Dietz Jesus selbst, alle neutestamentlichen Autoren und die meisten Christen der Kirchengeschichte geglaubt haben, nämlich gemäß 2. Tim. 3, 16 alle Schrift für Gottes Wort zu halten! Ich habe in diesem Buch kein Argument gefunden, dass diesem Schriftverständnis entgegenstünde.

Scheut sich Thorsten Dietz vielleicht davor, seine konservativeren Leser mit den Konsequenzen zu verschrecken, die die Aufgabe der Irrtumslosigkeit der Schrift nach sich zieht? Im AiGG-Worthausartikel wurden diese Konsequenzen ja ausführlich dargelegt. Denn bei Worthaus geht die Bibelkritik nun einmal sehr viel weiter, als nur die wahre Aussageabsicht der Bibel unter Berücksichtigung der damaligen Zeit und Kultur herauszuarbeiten. Auch vielen eindeutig und unzweifelhaft historisch gemeinten Texten in den Evangelien sprechen Worthaus-Referenten die Historizität ab, was neben den Konsequenzen für die Glaubwürdigkeit der Bibel natürlich auch gravierende theologische Konsequenzen hat, da die Geschichtlichkeit oft wesentlicher Bestandteil der theologischen Aussage ist. Folgerichtig enthält die Bibel für viele Worthausreferenten natürlich auch theologische Fehler. Es wäre fair gewesen, wenn Thorsten Dietz in seinem Buch auf diese in der Universitäts- und Worthaustheologie praktizierten Konsequenzen der Aufgabe der Irrtumslosigkeit der Bibel offen hingewiesen hätte.

Leider schweigt sich Thorsten Dietz zudem über die Frage aus, die sich immer stellt, wenn man die Fehlerlosigkeit und Irrtumsfreiheit der Schrift aufgibt: Wer unterscheidet dann zwischen Wahrheit und Irrtum, zwischen richtig und fehlerhaft, zwischen Widerspruch und sich ergänzenden Paradoxen, zwischen Menschenwort und Gotteswort? Nach welchen Kriterien? Auf welcher Basis können wir dann noch gesichert theologisch argumentieren? Wie kann Thorsten Dietz zum Beispiel behaupten: „Das Menschenbild der meisten Christen ist zu positiv oder zu negativ.“ (S. 115) Auf welcher Grundlage weiß Thorsten Dietz hier so gut Bescheid? Im Buch sowie in seinem Vortrag „Böse von Jugend auf?“ argumentiert auch Thorsten Dietz mit Bibelstellen. Ich finde das ja gut. Aber geht das überhaupt, wenn die Bibel voller Fehler, Irrtümer und Widersprüche ist? Schade, dass Dietz zu diesen Fragen nicht Stellung nimmt.

Thorsten Dietz und Johannes Hartl: Wie eine ähnlich klingende Hermeneutik zu einer ganz unterschiedlichen hermeneutischen Praxis führen kann

Interessant ist in diesem Zusammenhang die Auseinandersetzung von Thorsten Dietz mit der Doktorarbeit von Johannes Hartl, die manchen konservativen Hartl-Kritikern als Beweis einer liberalen Verirrung Hartls gilt. Dietz stimmt Hartl in seiner These zu, dass man von Gott gar nicht anders als metaphorisch und symbolisch reden könne und dass alle unsere Gedanken über Gott eben unsere Gedanken sind, unsere Bilder und Deutungen, die Gott nie ganz gerecht werden können. Diese Erkenntnis mag unsere erste Naivität im Umgang mit den biblischen Texten untergraben. Aber welche Schlussfolgerung ziehen wir daraus?

Hartl sagt: Nötig sei eine „zweite Naivität“, ein neuer Glaube an die alten Bilder und Geschichten der Bibel. Hartl lädt ein zu einer „Hermeneutik des Vertrauens […] in neuem, festem Glauben an die Wahrheit dieser Bilder.“ (zitiert auf S. 49) Das heißt: Auch wenn es sich z.B. bei den verschiedenen Bildwelten zur Heilsbedeutung des Kreuzestodes Jesu (Gericht, Sklavenmarkt, Familie, Tempelrituale) um für sich genommen unvollständige, menschliche Bilder handelt: Laut Hartl sind sie trotzdem wahr und wir sind angehalten, dem Wahrheitsgehalt dieser Bilder voll zu vertrauen.

Thorsten Dietz setzt als Konsequenz aus Hartls These aber einen ganz anderen Schwerpunkt: Er möchte es stärker als Problem betonen, „wenn erwachsene Gläubige ihre Gottesvorstellungen mit Gott selbst verwechseln.“ Theologie sei „nicht nur eine Gefahr, sie ist auch eine echte Chance. Ja, theologische Impulse können desillusionierend, verunsichernd wirken, letztlich auch befreiend.“ (S.49) Dietz regt also eher nicht zum Vertrauen sondern zum Misstrauen gegen unsere aus der Bibel gewonnenen Erkenntnisse an, weil wir doch gemäß Jakobus 3, 2 alle mannigfaltig irren, wie Dietz betont. Diese ganz unterschiedlichen, ja geradezu gegensätzlichen Schwerpunkte, die Hartl und Dietz hier setzen, sind ein gutes Beispiel dafür, wie ähnlich klingende hermeneutische Grundsätze trotzdem zu einer völlig anderen hermeneutischen Praxis führen können. Wenn man sich Vorträge von T. Dietz und J. Hartl anhört, dann wird dieser Unterschied erst so richtig deutlich.

Die Autorität der Bibel in ethischen Fragen

Auch im Kapitel über die Autorität der Bibel in ethischen Fragen schreibt Dietz wieder viel Gutes und Bedenkenswertes:

  • Für Luther stand fest: Die biblischen Gebote gelten. Aber Luther kannte auch Notlösungen und Kompromisse.
  • In biblischen Texten über ethische Fragen muss immer beachtet werden, wer konkret angesprochen wird und wie das damalige historische Umfeld sich von unserem heutigen Umfeld unterscheidet.
  • „Wer der Wirklichkeit eines menschlichen Schicksals nicht gerecht wird, weil er sich nicht genügend um ihre Wahrnehmung und um ihr Verständnis bemüht, hat das höchste Prinzip christlicher Ethik, die Liebe, schon im Ansatz verloren.“ (S. 144)

All dem kann ich uneingeschränkt zustimmen. Aber was heißt das nun konkret für die brandaktuellen ethischen Konfliktthemen? Dazu schweigt Dietz sich leider aus. Als „biblizistische Ethik“ definiert er die Behauptung, „ethische Aussagen der Bibel seien alle ungebrochen gültig.“ (S. 143) Da frage ich mich: Wer behauptet denn so etwas? Dass viele Gebote des mosaischen Gesetzes heute so nicht mehr gelten ist ja selbst in ganz konservativen Kreisen Konsens und ergibt sich ganz eindeutig durch die Verschiedenartigkeit des Neuen und des Alten Bundes. Also wen hat Thorsten Dietz mit seinem Biblizismus-Vorwurf im Blick? Der Leser erfährt es leider nicht.

Jedenfalls weist Dietz der Bibel in ethischen Fragen eine „erhellende wie orientierende Kraft“ zu (S. 143). Ich würde sagen: Das ist deutlich zu schwach formuliert. Jesus selbst hat den nicht nur orientierenden sondern gebothaften Charakter der biblischen Anweisungen zur Exklusivität und Unauflöslichkeit der Ehe ausdrücklich bestätigt. In seinem Vortrag „Vorehelicher Geschlechtsverkehr in der Antike und in der Bibel – Siegfried Zimmer und die biblische Sexualethik“ zeigt Prof. Armin Baum mustergültig auf, auf welch bibelferne Wege man geraten kann, wenn man meint, mit Hilfe von historischen Betrachtungen z.B. das Verbot des vorehelichen Geschlechtsverkehrs einfach so vom Tisch wischen zu können, wie Siegfried Zimmer das in seinem Worthaus-Vortrag tut. Ja, die Liebe muss die oberste Maxime sein. Aber mit der Liebe wurden schon die aberwitzigsten Entgleisungen gerechtfertigt. „Liebe“ darf deshalb niemals dazu missbraucht werden, Jesu eindeutige Gebote auszuhebeln. Jesus weiß doch immer noch besser als wir, welches Verhalten am langen Ende der Liebe wirklich dient und entspricht.

Lebendige Frömmigkeit braucht Gemeinschaft

Sehr erfreulich ist, wie deutlich sich Thorsten Dietz vom allgemeinen Trend der Individualisierung distanziert, der zunehmend auch in frommen Kreisen anzutreffen ist. Zwar macht er einerseits Mut, wirklich schräge Gemeinschaften zu verlassen. Andererseits weist er darauf hin, dass wir letztlich Alle auf christliche Gemeinschaften angewiesen sind, auch wenn diese meist alles andere als perfekt sind.

Dietz berichtet von Studien, die belegen, dass es eben nicht egal ist, ob wir unseren Glauben alleine oder im Verbund einer christlichen Gemeinschaft leben. „Frömmigkeit ist dort am stärksten und langlebigsten, wo sie in Gemeinschaften eingebettet ist.“ (S. 148) Und: „Je weniger eine Familie in Kirche und Gemeinde eingebunden ist, desto unwahrscheinlicher ist es, dass die Kinder den christlichen Glauben übernehmen. […] Offenkundig liegt hier eine Stärke des evangelikalen bzw. charismatisch-pfingstlichen Frömmigkeitsspektrums.“ (S.  149) Gerade als evangelischer Christ, der unter der Überalterung und dem Generationenabbruch seiner Kirche leidet, will ich da doch ganz evangelikal-charismatisch ein lautes „Amen!“ rufen.

Mystik als Schlüssel für die Kirche der Zukunft?

Auch mit dem Kapitel zur Mystik konnte ich mich insgesamt recht gut anfreunden – auch wenn ich mit dem Begriff „Mystik“ bis heute massiv fremdle. Völlig richtig ist aber zunächst einmal die Beobachtung zum Abbruch der volkskirchlichen Selbstverständlichkeiten: „Zu einer Religion gehört man in der Spätmoderne nur noch aus religiösen Gründen.“ (S. 165) Menschen „wollen Dinge nicht glauben oder tun, weil sie das müssen, sondern weil es ihnen selbst einleuchtet.“ Deshalb ist „Authentizität eine unverzichtbare Bedingung jeder heutigen Frömmigkeit, die ihr gleichzeitig zur Falle werden kann“ (S. 161), nämlich dann, wenn sie meint, auf geistliche Übungen wie Bibellesen, Fürbitte etc. verzichten zu können.

Mystik definiert Dietz durch „ihre Grundunterscheidung […] von Gegenwart Gottes und Abwesenheit Gottes“ und warnt zugleich vor der Gefahr, dass es für das Christentum ruinös wäre, „die innere Einkehr an die Stelle des Hörens auf das Wort Gottes zu setzen.“ (S. 169) Das kann ich nur voll unterstreichen. Deshalb gebe ich grundsätzlich auch Karl Rahner recht, wenn er sagt: „Der Fromme der Zukunft wird ein Mystiker sein, einer der etwas erfahren hat, oder er wird nicht sein.“ (zitiert auf S. 162) In der Tat spricht auch die Bibel vielfach über die Gegenwart Gottes und macht deutlich, dass Glaube und Gottesbegegnung eben nicht nur Verstand und Wille sondern immer auch Herz und Seele betreffen darf und muss. Wo das fehlt und Glaube einseitig zur Kopfsache wird, vertrocknet die Kirche.

Etwas skeptisch werde ich allerdings beim Zitat von Willi Massa, wo es heißt: „Halte Gott einfach dein krankes Selbst hin und lass deine Sehnsucht sich aufmachen, ihn in seinem Sein zu berühren; denn ihn berühren heißt heil werden.“ (zitiert auf S. 147) Ja, es stimmt: Die Bedeutung der Berührung mit Gottes heiliger Gegenwart kann man gar nicht überschätzen. Aber Heilung gibt es in der Bibel eben nie durch ein bloßes Gefühl der Gegenwart Gottes sondern letztlich nur durch die daraus folgende Erkenntnis unserer Sündhaftigkeit, durch Umkehr, Vergebung und Erneuerung, die wir durch Gottes Wort, durch das Kreuz und den Heiligen Geist erfahren. Wo Christus und das Kreuz im Zentrum stehen bin ich leidenschaftlich damit einverstanden, dass die Erfahrung der Gegenwart Gottes entscheidend zur Zukunft der Kirche gehört (wobei ich das dann nicht Mystik nennen würde). Wo Mystik sich aber vom Kreuz, von Christus und seinem Wort löst, gleitet sie ab in eine Religiosität, die auf dem religiösen Markt der Möglichkeiten bald in der Bedeutungslosigkeit versinkt.

Quo vadis Christentum?

Thorsten Dietz vergleicht die Entwicklung des Christentums mit einem Flussdelta: Statt eines großen und breiten Stroms finden wir immer mehr Auffächerung, Verästelung und gegenläufige Fließrichtungen. Es wird immer unübersichtlicher in unserer christlichen Landschaft. Thorsten Dietz empfiehlt deshalb: „Was wir brauchen ist eine Besinnung nicht nur auf den Anfang der eigenen Geschichte, sondern auf den unverfügbaren Ursprung. In Christus finden wir Gottes letztes Wort.“ (S. 194) Dem kann ich nur leidenschaftlich zustimmen. Nur in Christus können die von Austrocknung bedrohten Rinnsale wieder zu einem kräftigen, prägenden und fruchtbringenden Strom zusammen fließen.

Umso trauriger finde ich es, wenn unser Christusbild und sein Wort seiner Unverfügbarkeit beraubt wird, weil man die Irrtumslosigkeit, Klarheit und Wahrheit der Schrift immer mehr preisgibt. In die Weite finden wir doch aber gerade nicht durch menschliche (oder theologische) Gedankenakrobatik sondern dort, wo wir dem Wort unseres guten Hirten uneingeschränkt und rückhaltlos vertrauen. Nur mit Ehrfurcht vor Gottes heiligem Wort hat die Kirche Zukunft und kann auch zukünftig weiter glauben und Glauben weiter geben. Wir machen Gott groß und nicht klein, wenn wir uns beim Nachdenken über ihn ganz und gar auf die einzige verlässliche Erkenntnisquelle verlassen, die wir haben: Sein Wort, wie es uns mit der Heiligen Schrift überliefert wurde. Ich bin überzeugt: Sie ist nicht Gotteswort im Menschenwort sondern – wie z.B. jüngst der Theologe Prof. Armin Baum ganz fundiert auf Basis seiner wissenschaftlichen Arbeit dargelegt hat – ganz Menschenwort und zugleich ganz Gotteswort. Daran dürfen wir getrost und mutig weiterglauben.


Das Buch WEITERGLAUBEN von Prof. Thorsten Dietz ist im Brendow-Verlag erschienen und kann hier bestellt werden.