Evangelikale Bewegung – wohin?

Der Vortrag “Evangelikale Bewegung – wohin?” wurde am 24.09.2022 beim Arbeitskreis bekennender Christen in Bayern gehalten. Der Vortragstext kann hier auch als PDF heruntergeladen werden.

Die sogenannte evangelikale Bewegung bedeutet mir ungeheuer viel. Diese Bewegung ist meine geistliche Heimat. Seit ich denken kann liebe ich es, Teil dieser so ungeheuer vielfältigen Bewegung zu sein. Evangelikale findet man in Landes- und Freikirchen. Sie haben teils sehr unterschiedliche Prägungen, Frömmigkeitsstile und sehr verschiedene Überzeugungen zu durchaus wichtigen theologischen Fragen wie z.B. zur Kinder- und Erwachsenentaufe. Und trotzdem sammeln sie sich um Jesus Christus herum, um Bibel und Gebet, um das Evangelium, von dem sie gemeinsam der Überzeugung sind: Jeder Mensch soll es hören, dass Jesus lebt! Jesus ist für unsere Schuld gestorben! Wenn wir an ihn glauben, empfangen wir Vergebung und ewiges Leben. Dieser uralte Glaube, der seit 2000 Jahren um die Welt geht, fasziniert uns gemeinsam. Er tröstet und trägt uns. Er setzt unsere Herzen in Brand. Und er verbindet uns. Weil Jesus unser gemeinsamer Herr ist, sind wir gemeinsam auch Glieder an seinem Leib, auch wenn wir so verschieden sind.

Die Evangelikalen sind meine Familie

Evangelikale sind deshalb für mich mehr als nur eine interessante Bewegung. Sie sind für mich auch mehr als nur Gleichgesinnte. Sie sind Schwestern und Brüder! Geschwister sucht man sich manchmal nicht aus. Manchmal ärgert man sich über sie. Aber sie sind und sie bleiben trotzdem meine Geschwister. Ich fühle mich mit ihnen allen aufs herzlichste verbunden. Die Frage nach der Zukunft der evangelikalen Bewegung kann ich deshalb nicht wie ein nüchterner Dozent behandeln, der ein paar Fakten zusammengetragen hat. Ich bin ja ein zutiefst Beteiligter, der leidenschaftlich in dieses Thema involviert ist. Es geht hier um meine Familie! Die Liebe und Verbundenheit mit meinen evangelikalen Geschwistern prägt alle meine Gedanken, die mich zu dieser Frage umtreiben.

Unsere Gesellschaft braucht eine lebendige Jesusbewegung

Ein weiterer Grund, warum mich die Frage nach der Zukunft der Evangelikalen so umtreibt, ist meine Liebe zu den Menschen um mich herum und die Überzeugung: Was unsere Gesellschaft und unser Land dringender denn je braucht, ist eine lebendige, kraftvolle Jesusbewegung. Es braucht lebendige, christuszentrierte Gemeinden und Gemeinschaften, damit die Menschen um uns herum zu Jesus finden können und mit ihm das ewige Leben.

Zudem braucht es eine lebendige evangelikale Bewegung als Salz und Licht dieser Gesellschaft, die in immer turbulenteres Fahrwasser gerät, die immer polarisierter und orientierungsloser wird. Die Geschichte hat immer wieder gezeigt, dass kraftvolle christliche Bewegungen ganze Nationen prägen und verändern konnten. Denken wir nur an die Great Awakenings in Amerika. Denken wir an den Pietismus in Süddeutschland. Wer das „Buch der Mitte“ von Vishal Mangalwadi gelesen hat, der weiß: Letztlich hat die Bibel ganz Europa und die westliche Welt geprägt und überaus viel Segen gebracht. Deshalb bin ich überzeugt: Unser Land braucht heute mehr denn je dieses Salz und Licht einer lebendigen, kraftvollen Kirche Jesu, die auf dem Fundament der Bibel steht.

Was sind die Wurzeln der Evangelikalen?

Bevor wir uns der Frage stellen, wo es mit dieser evangelikalen Bewegung hingehen soll, sollten wir zunächst einmal genauer auf die Frage schauen: Was ist das eigentlich, die evangelikale Bewegung? Zu dieser Frage ist dieses Jahr ein interessantes Buch erschienen. In „Menschen mit Mission“ erläutert Prof. Thorsten Dietz, dass die Wurzeln der evangelikalen Bewegung äußerst bunt und vielfältig sind. Er nennt täuferische und freikirchliche Impulse, er nennt den Pietismus und den Methodismus, er weist auf pfingstliche und charismatische Aufbrüche hin. Und er sagt: Letztlich lassen sich die Spuren bis zur Reformation zurückverfolgen.

Für mich wird spätestens an dieser Stelle klar: Letztlich wollen wir Evangelikalen nichts anderes sein als die heutige Konkretion des historischen Christentums. Wir folgen von Herzen diesem Jesus von Nazareth, wie ihn die Bibel bezeugt. Die Lehre der Apostel und Propheten, die wir in der Bibel finden, soll für uns genau wie für die allerersten Christen Richtschnur und Maßstab sein. Der Heilige Geist, der seit Pfingsten in der Kirche Jesu wirkt, soll uns erfüllen.

Aber gerade im letzten Jahrhundert haben sich diese Strömungen stärker denn je formiert, um eine gemeinsame, stärker sichtbare Jesusbewegung zu bilden. Einige Organisationen haben sich gebildet, die evangelikale Frömmigkeit in besonderer Weise bündeln. Thorsten Dietz nennt dazu vor allem die Lausanner Bewegung und die Evangelische Allianz. Zudem sind viele evangelikal geprägte Gemeinden und Gemeinschaften entstanden. Und dazu wurden im 20. Jahrhundert eine Reihe von Verlagen, Medien, Ausbildungsstätten, Großveranstaltungen und noch einiges mehr gegründet.

Was verbindet die Evangelikalen?

Trotz all der Vielfalt evangelikaler Organisationen betont Thorsten Dietz zurecht: „Sie haben kein gemeinsames Lehramt. Sie haben keine liturgischen Traditionen, die sie verbinden.“ Und sie haben „keinerlei kirchliche Struktur.“ Umso erstaunlicher ist es, dass aus dieser bunten, unstrukturierten, führungslosen Menge an Gruppierungen eine gemeinsame Bewegung entstanden ist. Der britische Historiker David Bebbington hat 4 Merkmale identifiziert, die man trotz aller Vielfalt in sämtlichen evangelikalen Strömungen vorfinden kann:

  1. „Bekehrung“ meint die starke Betonung der Notwendigkeit einer persönlichen Hinwendung zu Jesus Christus.
  2. „Aktivismus“ meint: Nicht nur Priester oder Pastoren, sondern alle Gläubigen sind aufgerufen, sich zu engagieren, vor allem für Gemeindebau, Evangelisation und (Welt-)Mission.
  3. Was mit „Biblizismus“ gemeint ist, kann man am besten mit einer Passage aus der Glaubensbasis der Evangelischen Allianz in Deutschland erklären. Da heißt es: „Die Bibel, bestehend aus den Schriften des Alten und Neuen Testaments, ist Offenbarung des dreieinen Gottes. Sie ist von Gottes Geist eingegeben, zuverlässig und höchste Autorität in allen Fragen des Glaubens und der Lebensführung.“
  4. Auch die Bedeutung von „Kreuzeszentrierung“ kann man gut mit einer Passage aus der Glaubensbasis der Evangelischen Allianz zeigen: „Jesus Christus, der Mensch gewordene Sohn Gottes, ist stellvertretend für alle Menschen gestorben. Sein Opfertod allein ist die Grundlage für die Vergebung von Schuld, für die Befreiung von der Macht der Sünde und für den Freispruch in Gottes Gericht.“

Bebbington sagt: Diese 4 Punkte sind Grundüberzeugungen, die alle Evangelikalen einen, quer durch alle Gruppierungen hindurch. Das ist nicht viel. Das Band, das die Evangelikalen eint, ist dünn. Und doch war es stark genug, eine dynamische, weltweite Bewegung zu formen.

Steht die evangelikale Bewegung am Scheideweg?

Heute fragen sich allerdings Manche, ob diese Erfolgsgeschichte zu Ende geht. Es gibt Beobachter, die sagen: Es gibt Spaltungstendenzen unter den Evangelikalen. Ulrich Eggers hat dieses Problem in der Zeitschrift AUFATMEN wie folgt beschrieben: „Wir alle merken: Gemeinsam – das fällt in diesen Zeiten, in denen sich viele gewachsene Traditionen auflösen, selbst Einheits- oder Allianz-gewillten Christen zunehmend schwer! … Zunehmend zieht Misstrauen und Entfremdung ein, bedroht Einheit – und damit auch die gemeinsame Arbeitsplattform für missionarische Bewegung.“

Ich teile diese Beobachtung. Solange ich denken kann, war für mich die evangelische Allianz das, was Ulrich Eggers in diesem Artikel als eine „sichere Burg der Freunde” bezeichnet hat. Ich war mir einfach sicher: In den Allianz-Kreisen, da sind wir zwar bei vielen Themen sehr vielfältig. Aber im Kern, da sind wir eins. Wenn es um das Evangelium geht, da stehen wir zusammen. Dieses Evangelium können wir ganz selbstverständlich gemeinsam feiern, besingen und aller Welt bezeugen.

Aber genau diese Selbstverständlichkeit scheint gerade jetzt verloren zu gehen. Und die große Frage ist: Woran liegt das? Warum gelingt scheinbar plötzlich das nicht mehr, was doch so viele Jahre lang weitgehend gelungen ist? Natürlich kann man dafür schnell einige Gründe finden:

  • Christen nehmen Anteil an der wachsenden Polarisierung der Gesellschaft. Wir erleben das an den heißen Diskussionen auch unter Christen zu Themen wie Corona, zum Umgang mit Flüchtlingen im Mittelmeer oder zur Klimaproblematik. Befeuert werden die Differenzen durch die Echokammern und Filterblasen in den sozialen Medien.
  • Und dann ist da natürlich dieses große Thema Sexualethik und die Frage nach dem Umgang mit gleichgeschlechtlichen Paaren. Dieses Thema ist im Moment in der weltweiten Christenheit DER Spaltpilz. Und es wird auch bei evangelikal geprägten Christen immer mehr zum Streitpunkt.

Ohne Fragen sind diese Themen wirklich belastend für die Einheit in vielen Gemeinden, in Verbünden und christlichen Werken. Thorsten Dietz sieht jedoch noch einen tieferen Grund für die auseinanderlaufenden Tendenzen in der evangelikalen Welt. Im Verlauf seines fast 500 Seiten langen Buchs stellt Dietz die These auf, dass es zwei verschiedene Grundströmungen unter den Evangelikalen gibt, die sich zunehmend schwer miteinander tun: Die eine Gruppierung nennt Dietz die „Allianzevangelikalen“. Auf der anderen Seite identifiziert Thorsten Dietz eine Gruppe, die er als „Bekenntnisevangelikale“ bezeichnet. Auf den letzten beiden Seiten identifiziert Dietz diese beiden Gruppen mit konkreten Personen, die für zwei verschiedene Umgangsweisen mit der Pluralität in der evangelikalen Bewegung stehen. Er sagt:

  • Auf der einen Seite stehe Michael Diener, der ehemalige Präses des Evangelischen Gnadauer Gemeinschaftsverbands und ehemalige Vorsitzenden der Deutschen Evangelischen Allianz. Sein Vorschlag sei, mit Pluralität so umgehen, „dass die Evangelikalen, Pietisten etc. unterschiedliche moralische Überzeugungen aushalten und ihren gemeinsamen missionarischen Auftrag ins Zentrum stellen.“
  • Auf der anderen Seite stehe das Netzwerk Bibel und Bekenntnis, das laut Dietz anstrebt, „dass man sich verbindlich auf eindeutige Bekenntnisse einigt und entsprechend auf allen Ebenen durchsetzt, was in der jeweiligen Gemeinde, Kirche oder Allianz vertreten werden darf“.

Die Konfliktfrage: Wie gelingt Einheit in Vielfalt?

Tatsächlich beobachte auch ich, dass unter Evangelikalen mit wachsender Schärfe diskutiert wird, wie denn heutzutage noch Einheit in Vielfalt unter Evangelikalen gelingen kann. Grundsätzlich gilt ja: Wenn ein Konsens verloren geht, dann kann man prinzipiell auf 2 verschiedene Weisen darauf reagieren:

Reaktionsmöglichkeit 1: Wir müssen den Konsens in den Kernfragen verteidigen und – wo er verloren gegangen ist – wieder neu gewinnen.

Reaktionsmöglichkeit 2: Wir müssen den Konsens bewusst loslassen und uns stattdessen üben in gelebter Toleranz. Oft ist da die Rede von sogenannter „Ambiguitätstoleranz“.

Wer die Reaktionsmöglichkeit 1 für richtig hält, der sieht die Einheit dort bedroht, wo Menschen den Konsens in Frage stellen. Für den gelten die als Brückenbauer, denen es gelingt, in zentralen Fragen einen Konsens unter Christen herzustellen bzw. zu bewahren.

Wer hingegen die Reaktionsmöglichkeit 2 für richtig hält, für den sind die Feinde der Einheit die, die unbedingt am Konsens festhalten wollen. Brückenbauer sind hingegen solche Leute, die zwar einen Standpunkt haben, die aber anderslautende Standpunkte als genauso richtig anerkennen und somit eher nur subjektive statt objektive Wahrheiten vertreten.

Warum mehr Toleranz nicht unbedingt zu mehr Einheit führt

In den letzten Jahren war meine Beobachtung: Scheinbar neigen immer mehr Leiter von christlichen Werken, Gemeinschaften und Gemeinden dazu, dass Einheit in Vielfalt nicht über Konsens sondern über mehr Toleranz funktionieren müsse. Da wird dann zum Beispiel gesagt: Die verbindende Mitte des Christentums, das sei keine Lehre, sondern die Person Jesus Christus. Deshalb sollten wir doch Enge und Rechthaberei überwinden, uns gegenseitig unseren Glauben glauben und Raum geben für unterschiedliche Sichtweisen und Erkenntnisse. Das klingt weitherzig und versöhnlich. Die große Frage ist nur: Funktioniert das auch? Gewinnen wir so tatsächlich Einheit in Vielfalt? Aus zwei Gründen bin ich skeptisch:

Zum einen beobachte ich: Christen, die sich theologisch liberal geben, können in ethischen oder politischen Fragen zugleich sehr intolerant sein. Das gilt in sehr unterschiedlichen Bereichen, vor allem aber natürlich im Feld der Sexualethik. Der Postevangelikale David P. Gushee war jüngst Hauptredner bei der Coming-In-Tagung in Niederhöchststadt. Er schrieb schon im Jahr 2016: „Neutralität ist keine Option. Ebenso wenig wie eine höfliche Halbakzeptanz. Genauso wenig wie das Vermeiden des Themas. Wie sehr Sie sich auch verstecken mögen, das Thema wird Sie finden.“ Und die evangelische Pastorin Sandra Bils, die inzwischen an der CVJM-Hochschule Kassel lehrt, hat schon 2015 in ihrem Blog geschrieben: „Ich freue mich, wenn sich mein Landesbischof öffentlich äußert und stolz auf die Segnung gleichgeschlechtlicher Paare in der Hannoverschen Landeskirche hinweist und gleichzeitig merke ich, dass es mir nicht weit genug geht, weil er im gleichen Atemzug anderen Meinungen eine Daseinsberechtigung zuspricht.“ Da ist also keinerlei Toleranz für die traditionelle Position spürbar, die heute immer noch von der übergroßen Mehrheit der weltweiten Christenheit geteilt wird.

Meine zweite Beobachtung ist: Einheit auf Basis einer Christusmitte funktioniert nicht, wenn der Begriff „Christus“ nur noch eine Hülse ist, die jeder subjektiv ganz unterschiedlich füllen kann. Denn die Frage ist ja: Wer und wie ist denn dieser Christus, der uns verbinden soll? Was hat er getan? Was hat er gelehrt? Worin liegt sein Erlösungswerk? Wir haben nur eine einzige Informationsquelle zu solchen Fragen: Die Bibel. Wenn aber die Bibel kein verbindlicher Maßstab mehr ist, dann wird es letztlich auch bei diesen allerzentralsten Fragen des Glaubens unmöglich, gemeinsame Antworten geben zu können. Dann haben wir auch keine gemeinsame Botschaft mehr. Dann verlieren wir unser Profil. Dann weiß niemand mehr, wofür wir stehen. Dann marginalisiert sich die Kirche. Und dann gibt es auch nichts mehr, was man ganz selbstverständlich miteinander feiern, besingen und bezeugen kann. Dann gibt es zwar vielleicht keinen Streit mehr, aber es gibt etwas, was noch schlimmer ist: Wir entfremden uns voneinander. Unsere Jesusbewegung trocknet langsam aus.

Wenn mehr Toleranz nicht die Lösung ist, was ist es dann?

Der Autor Jürgen Mette hat in seinem Buch „Die Evangelikalen“ folgende These aufgestellt: „Wer sich in Christologie und Soteriologie in der Mitte findet, der kann sich Differenzen an der Peripherie des Kirchenverständnisses, des Taufverständnisses, der Eschatologie leisten.“

Einfach ausgedrückt sagt Jürgen Mette: Wer sich darin einig ist, wer Jesus ist und warum er am Kreuz für uns gestorben ist, der kann Differenzen bei Fragen zur richtigen Kirchenstruktur, zur Tauffrage oder zu Endzeitfragen aushalten. Wenn wir im Kern beieinander sind, dann trennen uns die Differenzen in den Randfragen nicht.

Ich bin überzeugt: Das stimmt! Genau das war das Erfolgsgeheimnis der Evangelikalen! Diese starke Übereinstimmung im Kern und beim Evangelium ermöglicht es ihnen, die enorme Vielfalt an Prägungen, an Kulturen und an Strukturen auszuhalten.

Flexibilität und Intoleranz: 2 Pole im Neuen Testament

Genau diese doppelte Ausrichtung finden wir auch im Neuen Testament. Die junge Christenheit war eine sehr bunte Bewegung, die enorm viele, teils krasse Differenzen aushalten musste. Da kamen Juden mit Nichtjuden unterschiedlichster Hintergründe zusammen. Da gab es gesellschaftliche Differenzen: Gutsherren, Sklaven, Männer, Frauen und Kinder kamen zusammen. Das war damals absolut revolutionär. Und Paulus war er der Meinung: Es ist so wichtig, dass wir uns da nicht trennen lassen. Von sich selbst hat er gesagt: Ich bin allen alles geworden, damit ich so viele wie möglich gewinnen kann. Da hatte Paulus also eine enorme Weite und eine große Flexibilität.

Aber wenn es um das Evangelium ging, da wurde Paulus plötzlich absolut kompromisslos. Da ging er scharf gegen falsche Lehre vor. Den Galatern schrieb er sogar: „Wer euch eine andere Gute Nachricht verkündet als die, die ihr bereits angenommen habt, soll verflucht sein!“ Er scheute nicht einmal davor zurück, Petrus öffentlich anzugreifen, wenn es um das Evangelium geht.

Genau diese Haltung sehen wir später auch bei den apostolischen Vätern und den Kirchenvätern. Die junge Christenheit musste sich gegen viele falsche Lehren erwehren: Gesetzlichkeit, Gnosis, Doketismus, Marcionismus… Das Abwehren von falscher Lehre gehörte von Beginn an zur Aufgabe von christlichen Leitern dazu. Und die Kirche hat überhaupt nur überlebt, weil die christlichen Leiter diese Aufgabe ernst genommen haben.

Die wichtige Funktion der Bekenntnisse

Für die Abwehr falscher Lehre haben die frühen Christen solch wundervolle Bekenntnisse wie das Apostolikum und das Nicäno-Konstantinopolitanum formuliert, die bis heute die Christenheit miteinander verbinden. Schon immer hatten diese Bekenntnisse auch die Funktion, falsche Einflüsse zurückzuweisen und deutlich zu machen, was Christen miteinander verbindet.

Auch den Christen, die die evangelische Allianz gegründet haben, war das wichtig. Die Deutsche evangelische Allianz hat ihre Glaubensbasis erst vor kurzem wieder aktualisiert, um sagen zu können: Trotz aller Vielfalt und Differenzen sind es diese Überzeugungen, die uns einen. Diese wenigen Sätze beschreiben einen gemeinsamen Kern, der uns verbindet und der uns die Kraft gibt, die Differenzen bei vielen anderen Fragen auszuhalten. Thorsten Dietz schreibt dazu zurecht: „Die Allianz ist eine ökumenische Bewegung, die gerade darum das gemeinsame Bekenntnis so knapp wie möglich formuliert hat.“ Wie wahr! Aber gerade deshalb ist es ja so ungeheuer wichtig, wenigstens diese wenigen Sätze zu schützen und zu bewahren! Und meine Beobachtung war in den letzten Jahren leider, dass leider auch diese ganz zentralen Grundbekenntnisse der Evangelikalen in Frage gestellt werden – nicht nur von außen, sondern auch mitten im allianzevangelikalen Umfeld.

Entscheidende Differenzen beim Bibelverständnis

Um zu zeigen, was ich meine, möchte ich gerne mit Ihnen genauer auf diesen letzten Satz in der Glaubensbasis der Evangelischen Allianz schauen. Er lautet:

„Die Bibel, bestehend aus den Schriften des Alten und Neuen Testaments, ist Offenbarung des dreieinen Gottes. Sie ist von Gottes Geist eingegeben, zuverlässig und höchste Autorität in allen Fragen des Glaubens und der Lebensführung.“

Hier wird mit wenigen Worten ein Bibelverständnis zusammengefasst, das oft als konservativ oder auch als biblizistisch oder fundamentalistisch bezeichnet wird. Ich persönlich bezeichne dieses Bibelverständnis lieber als das „historische Bibelverständnis“. Historisch deshalb, weil ich der Überzeugung bin, dass sich dieses Bibelverständnis in der ganzen Kirchengeschichte immer wieder nachweisen lässt, gerade auch in der Reformation, aber auch bei den Kirchenvätern, bei den apostolischen Vätern und vor allem – und das ist natürlich am wichtigsten – in der Bibel selbst.

Die Frage ist jetzt aber: Ist dieses historische Bibelverständnis denn heute noch Konsens unter Evangelikalen? Nach meiner Beobachtung muss ich diese Frage mit einem ganz klaren „nein“ beantworten. Meine Beobachtung ist, dass heute auch mitten im allianzevangelikalen Umfeld ein konkurrierendes Bibelverständnis vertreten wird, das zwar oft mit ähnlichen Worten beschrieben wird, das aber im Kern vollkommen anders ist und zu völlig anderen Konsequenzen führt.

Dieses konkurrierende Bibelverständnis hat verschiedene Bezeichnungen. Ich bezeichne es gerne als „progressives Bibelverständnis“. Das Problem ist: Vielen Christen fällt gar nicht auf, wie grundsätzlich anders dieses Bibelverständnis ist, denn oft werden nur die Gemeinsamkeiten zwischen dem historischen und dem progressiven Bibelverständnis betont. Und tatsächlich gibt es diese Gemeinsamkeiten:

  • Beide Bibelverständnisse sind sich einig, dass die Bibel ganz Menschenwort ist, dass hier Menschen geschrieben haben und dass ihr Charakter und ihre Erfahrungen ihre Texte geprägt haben.
  • Beide Bibelverständnisse sind sich einig, dass die Bibel auslegungsbedürftig ist. Bibelstellen müssen immer im biblischen Gesamtkontext verstanden werden. Die Textgattung, die Reichweite, die Adressaten sowie das historische und heilsgeschichtliche Umfeld müssen differenziert beachtet werden! Und zum richtigen Verstehen der Texte wird der Heilige Geist benötigt.
  • Und beide Bibelverständnisse sagen übereinstimmend:
    Die Bibel ist Gottes Wort im Menschenwort.
    Die Bibel ist inspiriert.

Sind sich die Evangelikalen im Kern also doch einig? Meine Beobachtung ist: Nein, überhaupt nicht. Denn trotz dieser Übereinstimmungen gibt es ganz gravierende Unterschiede, die weitreichende Konsequenzen haben:

Der wichtigste Unterschied betrifft das Wesen und den Charakter der biblischen Texte. Das Bibelverständnis der Evangelischen Allianz sagt dazu: „Die Bibel IST Offenbarung des lebendigen Gottes.“ Das progressive Bibelverständnis sagt hingegen: Die Bibel ist ein Zeugnis der Offenbarung des lebendigen Gottes. So heißt es zum Beispiel in einem aktuellen Grundsatztext der EKD: „Die biblischen Texte werden gehört und ausgelegt als Gottes Wort im Menschenwort, das das endgültige Wort Gottes in Person und Wirken Jesu Christi bezeugt.“

Im historischen Bibelverständnis wird also gesagt: Die Bibel IST Offenbarung. Die Texte sind so, wie sie dastehen, offenbarte Worte Gottes. Im progressiven Bibelverständnis wird hingegen gesagt: Die Bibel bezeugt die Offenbarung. Was sich so unscheinbar anhört, hat in Wahrheit gewaltige Konsequenzen. Gerade die Formel „Gotteswort im Menschenwort“ hat dann eine ganz unterschiedliche Bedeutung. Im historischen Bibelverständnis heißt diese Formel: Die Bibel ist ganz Menschenwort UND zugleich ganz Gotteswort. Im progressiven Bibelverständnis bedeutet diese Formel hingegen: Die Bibel ist ganz Menschenwort und sie kann Gottes Wort enthalten bzw. vermitteln. So schreibt zum Beispiel Siegfried Zimmer: „Der Satz ‚Die Bibel ist Gottes Wort‘ meint: Gott kann und will durch die Bibel zu uns reden.“ Oder der Theologe Udo Schnelle schreibt: „Natürlich ist die Bibel das Wort Gottes. Sie ist es aber nicht an sich, sondern immer dann, wenn sie für Menschen zum Wort Gottes wird. In dem Moment, wo es Menschen erreicht und zum Glauben an Jesus Christus führt, wird die Bibel zum Wort Gottes.“

Damit wird der Unterschied im progressiven Bibelverständnis deutlich: Hier ist die Bibel nicht an sich Gotteswort, sondern sie kann es beim Lesen individuell für uns werden! Daraus leitet sich dann auch ein unterschiedliches Inspirationsverständnis ab. Im historischen Bibelverständnis wird die Inspiration der Bibel stark auf die Entstehung der Texte bezogen. Man sagt also: Der Heilige Geist hat bei der Entstehung der Texte mitgewirkt, so wie Petrus zum Beispiel sagt: „Vom Heiligen Geist haben Menschen in Gottes Auftrag geredet.“ Im progressiven Bibelverständnis hingegen sagt man: Die Inspiration der Texte bezieht sich primär auf unser heutiges Lesen und Verstehen der Bibeltexte. Wenn wir die Bibel lesen, dann kann der Heilige Geist diese Texte für uns individuell zu inspirierten Gottesworten machen.

Der Knackpunkt: Das progressive Bibelverständnis ermöglicht Sachkritik

Damit kommen wir zum entscheidenden Unterschied dieser beiden Bibelverständnisse: Wenn die Bibel Gottes Offenbarung IST, wie es in der Glaubensbasis der evangelischen Allianz festgehalten wird, dann können wir diese Bibelworte natürlich unmöglich inhaltlich kritisieren! Wir können zwar unterscheiden lernen, wie diese Texte gemeint sind und wie sie einzuordnen sind. Aber wenn es Gott ist, der in den biblischen Texten zu Wort kommt, dann können wir die Aussagen, die wir aus den biblischen Texten ableiten, letztlich nicht kritisieren, sondern dann haben wir sie als Gotteswort demütig zu hören. Wenn Gott spricht, dann kann nur Vertrauen und Gehorsam unsere Antwort sein.

Im progressiven Bibelverständnis hingegen ist das anders. Da sagt man ja: Die Bibeltexte sind zunächst einmal nur Menschenwort. Sie sind nur ein Zeugnis der Offenbarung. Aber ein Zeugnis kann auch fehlerhaft sein. Es kann auch widersprüchlich sein. Und deshalb kann man diese Texte natürlich auch kritisieren. Dazu noch einmal Siegfried Zimmer: „Eine Kritik an den Offenbarungsereignissen selbst steht keinem Menschen zu. … Die schriftliche Darstellung von Offenbarungsereignissen darf man aber untersuchen, auch wissenschaftlich und ‚kritisch‘.“

Und da haben wir die ganz entscheidende Differenz schwarz auf weiß: Wenn der biblische Text die Offenbarung nur bezeugt aber nicht selbst IST, dann können wir diese Texte natürlich heute auf Basis unserer Vernunft auch inhaltlich kritisieren. In der Theologie würden wir dann von „Sachkritik“ sprechen. Und genau hier laufen die Wege auseinander. Denn Sachkritik, also inhaltliche Kritik an biblischen Gesamtaussagen, wird im Rahmen des progressiven Bibelverständnisses für etwas völlig Normales gehalten.

Das wird beispielhaft deutlich im Buch „glauben lieben hoffen“, das von Vertretern der freikirchlichen Jugendarbeit im SCM-Verlag herausgegeben wurde. Knapp zusammengefasst wird da zum Beispiel gesagt:

  • In den prophetischen Texten wird keine Zukunft vorhergesagt.
  • Jesus wird nicht im Alten Testament vorausgesagt.
  • „Die Bibel ist von einer Entwicklung hin zum Monotheismus geprägt.“ Das heißt also: Die Bibel enthält veraltete Gottesbilder.
  • Die „Vorstellungen“ von Teufel, Himmel und Hölle haben sich wohl erst nach dem babylonischen Exil entwickelt, vermutlich durch den Einfluss des Zoroastrismus und des griechischen Denkens
  • Matthäus, Lukas und Paulus seien von einer biologischen Vaterschaft Josefs ausgegangen.

Natürlich widersprechen diese Aussagen komplett den Aussagen, die die Texte selbst machen wollen. Aber derartige Bibelkritik wird möglich, wenn die Bibel die Offenbarung Gottes nur bezeugt, aber nicht selbst ist. Das Problem ist: Etwas, das ich auf Basis meiner Vernunft kritisieren kann, das kann natürlich nicht mehr so wie in der Glaubensbasis der evangelischen Allianz als „zuverlässig und höchste Autorität in allen Fragen des Glaubens und der Lebensführung“ gelten. Diesen Wert als Norm des Glaubens hat die Bibel dann verloren.

Die Folge: Widersprüchliche Lehren bei den Kernfragen des Glaubens

In der Praxis zeigt sich: Mit der Öffnung für Sachkritik wird die Tür geöffnet für Lehren, die nicht mehr mit durchgängigen Aussagen der Bibel zusammenpassen. Wie drastisch sich dieses Bibelverständnis selbst auf die innersten Kernfragen des Glaubens auswirkt, sieht man besonders gut bei der Frage, warum denn eigentlich Jesus am Kreuz gestorben ist. Schauen wir doch einmal, was das Bekenntnis der evangelischen Allianz zu dieser Frage sagt und was wir im Vergleich dazu im Buch „glauben lieben hoffen“ lesen:

Aus der Glaubensbasis der
evangelischen Allianz
Zitat aus „glauben lieben hoffen“
„Der Mensch … ist durch Sünde und Schuld von Gott getrennt.

Jesus Christus, der Mensch gewordene Sohn Gottes, ist stellvertretend für alle Menschen gestorben. Sein Opfertod allein ist die Grundlage für die Vergebung von Schuld, für die Befreiung von der Macht der Sünde und für den Freispruch in Gottes Gericht.“

„So wurde und wird häufig argumentiert: Infolge des Sündenfalls ist der Mensch getrennt von Gott, und nur ein vollkommenes Opfer kann die Beziehung zwischen Gott und Mensch wieder in Ordnung bringen. … Hat eigentlich mal jemand gefragt, warum eine Opferhandlung  … dies erreichen können soll? … Gott vergibt, weil er ein gnädiger Gott ist, ohne dass Gott durch Töten und Blutvergießen milde gestimmt werden müsste. … um die Sünde der Menschen hinweg zu nehmen, braucht es eigentlich kein Opfer und keinen Geopferten.“ (S. 69, M. Drodofsky)

Ohne Zweifel steht die Kreuzestheologie mitten im Zentrum unseres Glaubens. Und es ist nun einmal ein riesengroßer Unterschied, ob…

… Gott uns einfach so vergibt oder ob er uns verurteilt, dann aber selbst die Strafe übernimmt.

… wir uns nur subjektiv schuldig fühlen oder ob wir objektiv schuldig sind und von Gott eigentlich im Gericht verurteilt werden müssten.

… Jesu Tod nur ein Akt der Solidarität und Hingabe ist oder ein wirksames Opfer zur Vergebung unserer Schuld.

… wir nur belastete Menschen sind, die Zuspruch und Ermutigung bekommen sollen oder ob wir ohne das Kreuz verloren sind und Rettung brauchen.

Wir müssen es so deutlich sagen: Es handelt sich bei dieser progressiven Deutung der Kreuzestheologie letztlich um ein anderes Evangelium.

Die missionarische Dynamik geht verloren

Welche Konsequenzen ergeben sich aus diesen Differenzen beim Evangelium? Im Buch „Mission Zukunft“ hat der Präses des Bundes der Freien evangelischen Gemeinden Ansgar Hörsting geschrieben: „Ich kenne keine missionarisch wirksame Gemeinde, in der es nicht Leute gibt, die klar auf dem Schirm haben: Ohne Jesus Christus sind Menschen verloren.“ Die Kirche Jesu verliert also ihre missionarische Dynamik, wenn sie Botschaft vom Kreuz verliert oder umdeutet.

Und Pfarrer Swen Schönheit, Theologischer Referent der Geistlichen Gemeindeerneuerung schreibt: „Die „Botschaft vom Kreuz“ ist im Raum der Kirche verblasst. Damit verliert sich „Gottes Kraft“ und Kirche reduziert sich selbst zu einer Agentur der Mitmenschlichkeit.“

Das heißt also: Das veränderte Bibelverständnis führt zu einer veränderten Theologie, die wiederum ganz direkte Auswirkungen hat auf die missionarische Kraft und Ausstrahlung der Kirche. Der evangelische Pfarrer Alexander Garth schreibt dazu in seinem Buch „Untergehen oder umkehren“:

„Es besteht ein Zusammenhang zwischen liberaler westlicher Theologie und dem Niedergang von Gemeinden. Es sind fast ausschließlich liberale Kirchen, die teilweise dramatisch Mitglieder verlieren.“ „Wenn man in der Welt aufstrebende Gemeinden und Bewegungen bestimmen möchte, die nicht evangelikal sind, so würde man kaum etwas finden. Zumindest gehört das zu den gesicherten Forschungsergebnissen der Religionssoziologie.“

Das Ringen um gesunde Theologie ist von entscheidender Bedeutung

Dieses Zitat macht etwas deutlich, was aus meiner Sicht auch für den weiteren Weg der evangelikalen Bewegung ganz entscheidend ist: Theologie zählt! Ich höre heute auch mitten im allianzevangelikalen Umfeld häufig die These: Lasst uns doch nicht über Theologie streiten. Lasst uns lieber gemeinsam evangelisieren und Gemeinde bauen. Das hört sich schön an. Und ich würde sofort zustimmen, wenn die Praxis nicht zeigen würde: Unsere Theologie ist ganz offenkundig ein entscheidender Faktor dafür, ob wir miteinander fruchtbar evangelisieren und Gemeinde bauen können oder nicht. Theologie kann Einheit, Evangelisation und Gemeindebau befruchten, sie kann aber auch Einheit, Evangelisation und Gemeindebau unterwandern und zerstören. Deshalb müssen wir gerade um der Evangelisation, der Mission und des Gemeindebaus willen, ringen, streiten um die zentralen theologischen Fragen.

Stellen Sie sich einmal diese Situation vor: Da steht jemand auf dem Feld mit einer stumpfen Sense und kommt kaum voran bei der Ernte. Und ein anderer rennt hin und sagt: Mensch, der Bauer hat doch gesagt, wir sollen zum Ernten den Mähdrescher nehmen. Und der erste sagt: Jetzt mecker nicht rum. Schnapp Dir die Sense und hilf mit!

Genau so empfinde ich diese Aufrufe, nicht über Theologie zu streiten, obwohl doch das Ringen um die richtige Theologie schon in der Bibel eine enorm wichtige Rolle spielt. Die Bibel macht immer wieder deutlich: Wir können und dürfen nicht einfach schweigend zusehen, wenn Leute in unserer Mitte aufstehen und Dinge lehren, die nicht zum biblischen Evangelium passen. Gerade um der Mission willen, gerade um der Einheit willen, gerade um des Gemeindebaus willen müssen wir ganz neu lernen, um die richtige Theologie zu streiten. Es gäbe uns heute nicht, wenn nicht die Apostel, die Kirchenväter oder die Reformatoren intensiv um theologische Fragen gestritten hätten! Streit ist zwar Mist, wenn es um Randfragen geht, wenn es ums pure Rechthaben geht, wenn der Streit lieblos und arrogant geführt wird. Aber wo unser Herz brennt für das Evangelium und für die verlorenen Menschen, da wird Gott mit uns sein, wenn wir sagen: Hier stehe ich und kann nicht anders. Ich muss widersprechen, um des Wortes Gottes und des Evangeliums willen. Das wünsche ich mir, dass das wieder viel häufiger geschieht.

Allianzevangelikale sind immer auch Bekenntnisevangelikale

Aber was bedeutet das jetzt für die Zukunft der Evangelikalen? Das war ja die Frage dieses Vortrags: Evangelikale Bewegung, wohin? Das Bild, das Thorsten Dietz gezeichnet hat, hatte die Botschaft: Da gibt es eine Weggabelung und die evangelikale Bewegung muss sich entscheiden: Folgen wir den Allianzevangelikalen? Oder folgen wir den Bekenntnisevangelikalen? Die Frage ist nur: Ist das wirklich die Weggabelung, vor der die evangelikale Bewegung steht? Ich bin der Meinung, dass das tatsächliche Bild etwas anders aussieht.

Ich glaube nicht, dass es zu dieser Aufspaltung kommt. Das tatsächliche Bild, das ich wahrnehme sieht so aus: Es gibt keine Differenz zwischen Allianz- und Bekenntnisevangelikalen. Ohne Bekenntnis kann es keine Allianz geben. Deshalb waren Allianzevangelikale immer schon zugleich auch Bekenntnisevangelikale! Die Glaubensbasis der evangelischen Allianz, das Apostolikum, das Nicäno-Konstantinopolitanum, das sind feststehende Bekenntnisse, die grundlegend sind für die Evangelikalen, für die Lausanner Bewegung und für die evangelische Allianz. Deshalb brauchen wir beides, wenn wir auch in Zukunft noch Einheit in Vielfalt wollen: Wir brauchen Toleranz in den Randfragen. Und wir brauchen Konsens in den zentralen Bekenntnisfragen.

Es geht um die Bewahrung unserer verbindenden Glaubensschätze

Thorsten Dietz hat deshalb auch das Anliegen des Netzwerks Bibel und Bekenntnis leider falsch dargestellt. Er meint, das Netzwerk Bibel und Bekenntnis wolle, dass „man sich verbindlich auf eindeutige Bekenntnisse einigt und entsprechend auf allen Ebenen durchsetzt, was in der jeweiligen Gemeinde, Kirche oder Allianz vertreten werden darf.“ Nichts könnte verkehrter sein als das. Das Anliegen des Netzwerks Bibel und Bekenntnis ist nicht, dass man sich auf etwas Neues einigt. Es geht nicht darum, etwas durchzusetzen. Es geht vielmehr darum, etwas zu bewahren! Auf die Bekenntnisse muss man sich nicht einigen, die sind ja längst vorhanden und veröffentlicht. Das Anliegen des Netzwerks Bibel und Bekenntnis ist: Die Liebe zu Christus zu stärken und zugleich Festhalten an den veröffentlichten Bekenntnissen, die unverzichtbar sind für die Einheit der Evangelikalen. Wir arbeiten und beten dafür, dass die veröffentlichten Bekenntnisse und Glaubensgrundlagen nicht zu Papiertigern verkommen, sondern das bleiben, was sie schon immer waren: Verbindende Glaubensschätze, die man über alle Unterschiede hinweg ganz selbstverständlich miteinander feiern, besingen und bezeugen kann. Lassen Sie uns das gemeinsam weiter tun!

Kurs halten auf der einzigartigen Erfolgsspur der Evangelikalen!

Ich möchte diesen Vortrag abschließen mit einem Zitat aus dem Buch „Menschen mit Mission“, über das wir heute so viel gesprochen haben. Ich nehme wahr, dass manche Evangelikale heute entmutigt sind. Man hat das Gefühl: Wir sind Wenige. Wir sind auf dem Rückzug. Wir werden in der Gesellschaft immer mehr an den Rand gedrängt. Niemand nimmt uns mehr ernst. Das spannende ist: Genau dieses Gefühl hätten die Evangelikalen auch für einem halben Jahrhundert haben können. Der Lausanner Kongress ist jetzt beinahe 50 Jahre her. Auch damals waren die Evangelikalen eine Randgruppe. Aber Thorsten Dietz schreibt:

Warum handelt es sich bei den Evangelikalen heute um die weltweit zweitgrößte christliche Strömung nach dem Katholizismus? Niemand hätte sich das vor 50 oder 60 Jahren träumen lassen. Der Lausanner Kongress wurde in der deutschen Öffentlichkeit nur am Rande registriert. Die meisten (gerade auch in den Kirchen) waren sich sicher: Zukunft kann nur eine Christenheit haben, die sich für die Moderne öffnet, die das aufgeklärte Wahrheitsbewusstsein der Wissenschaften respektiert und eine politisch-gesellschaftliche Kraft für eine bessere Welt wird. Welche Zukunft sollten da schon Grüppchen haben, denen Evangelisation und Mission über alles geht, die im Zweifelsfall lieber der Bibel glauben als der historischen Forschung? Wer wird schon Ewiggestrige ernst nehmen, die sich radikal der sexuellen Liberalisierung der 1960er-Jahre verweigern? Aber entgegen allen Erwartungen ist keine religiöse Gruppe im letzten halben Jahrhundert dynamischer gewachsen als diese.

Evangelikale Bewegung wohin? Aus meiner Sicht kann es darauf nur 1 Antwort geben: Weiter hinter Jesus her! Weiter auf der Spur, die sein Wort uns zeigt! Lassen wir uns nicht entmutigen. Lassen wir uns nicht einschüchtern. Lassen wir uns nicht aus der Segensspur drängen. Machen wir uns eins mit so vielen evangelikalen Geschwistern auf der ganzen Welt, die Jesus folgen, oft unter großen Opfern, die sein Wort weitertragen bis an die Enden der Erde und die gemeinsam mit uns darauf warten, dass unser Herr wiederkommt und sein Reich aufrichtet. Lassen wir es zu, dass diese Hoffnung neu unser Herz erfüllt. Lassen Sie uns gemeinsam mutig dafür beten und arbeiten, dass sein Reich schon jetzt unter uns Gestalt gewinnt.

Haben Fundamentalisten die Unfehlbarkeit der Bibel erfunden? – Ein Faktencheck

Es macht mich immer skeptisch, wenn eine theologische Lehre den Anspruch erhebt, neu und innovativ zu sein. Ich glaube, dass die biblische Offenbarung abgeschlossen ist. Es ist für mich schwer vorstellbar, dass der Heilige Geist uns nach 2000 Jahren immer noch völlig neue Auslegungen offenbart. Ich halte es deshalb lieber mit C.H. Spurgeon, wenn er schreibt: „Es gibt nichts Neues in der Theologie außer dem, was falsch ist.“

Neuerdings werden aber Stimmen lauter, die genau diesen Vorwurf gegenüber theologisch konservativen Christen erheben. Konkret wird behauptet: Die Lehre von der Fehlerlosigkeit der Schrift sei eine moderne Erfindung von protestantischen Fundamentalisten aus dem späten 19. bzw. frühen 20. Jahrhundert. So berichtet der US-amerikanische Kirchenhistoriker Prof. John Woodbridge in seiner Analyse zu der Frage, ob Fundamentalisten die Irrtumslosigkeit erfunden haben:

„Noch in den 1970er Jahren gingen die meisten Evangelikalen davon aus, dass die biblische Irrtumslosigkeit zu ihren nicht verhandelbaren Grundüberzeugungen gehört.“ Doch eine „neue Darstellung der historischen Entwicklung schlug vor, dass die biblische Irrtumslosigkeit angeblich weder eine evangelikale Lehre noch eine zentrale Lehre der westlichen christlichen Kirchen sei. Vielmehr handele es sich um eine typisch fundamentalistische Überzeugung, die ihren Ursprung im späten neunzehnten Jahrhundert habe. …  Die neue historische Darstellung, dass die biblische Irrtumslosigkeit eine fundamentalistische Lehre ist, hat das Denken einer Reihe angesehener protestantischer und römisch-katholischer Theologen und Kirchenhistoriker geprägt.“

Tatsächlich äußerte Prof. Thorsten Dietz in einem IDEA-Interview (Ausgabe 21.2022):

„Die absolute Irrtumslosigkeit der Bibel ist ja eine Idee des 20. Jahrhunderts. Ich weiß, dass diejenigen, die die völlige Irrtumslosigkeit der Bibel vertreten, das anders sehen. Sie glauben, dass sie die traditionelle Auffassung vertreten. Das tun sie aber nicht!“

Nun sind Begriffe wie „Irrtumslosigkeit“ oder „Unfehlbarkeit“ natürlich definitionsbedürftig (siehe dazu der AiGG-Artikel „Ist die Bibel unfehlbar?“). Bei Fragen zum Urtext, zu den Kanonrändern, zur Textgattung, zur Aussageabsicht und zur Auslegung kann es auch aus meiner Sicht keine Unfehlbarkeit geben. Trotzdem hat mich die These von Thorsten Dietz überrascht. Im AiGG-Artikel über „das biblische Bibelverständnis“ habe ich begründet, warum ich überzeugt bin, dass schon die Bibel selbst die Heiligen Schriften als inspiriertes Wort Gottes mit absoluter Autorität ansieht (2.Tim.3,16; 2.Petr.1,20+21). Auch Prof. Gerhard Maier zeigt sich überzeugt: „Im Neuen Testament wird das gesamte damalige ‚Alte Testament‘ … als von Gott eingegeben aufgefasst.“ Für die Autoren des Neuen Testaments waren „die beiden Wendungen ‚Die Schrift sagt‘ und ‚Gott sagt‘ untereinander austauschbar.“ Für Jesus war „selbst die kleinste Einzelheit von Gottes Gesetz gültig“ (Matth. 5, 18). Entsprechend durfte von den Schriften nichts weggelassen, hinzugefügt oder verdreht werden (Offb.22,18-19, 5.Mose13,1; 2. Petr.3,15-16).

Kann der Glaube an die Irrtumslosigkeit der Schrift also wirklich etwas so Neues sein?

Irrtumslosigkeit der Schrift bei den Kirchenvätern

Der renommierte Neutestamentler Theodor Zahn hielt fest, dass auch im Vorstellungskreis der nachapostolischen Generation die Möglichkeit, „dass ein Apostel in seinen an die Gemeinden gerichteten Lehren und Anweisungen geirrt habe könnte“ offenbar keinen Raum hatte. Tatsächlich finden sich viele Belege für den Glauben an die Unfehlbarkeit in den Schriften der frühen Kirchenleiter. Der Harvard-Professor James L. Kugel, selbst kein Anhänger der Irrtumslosigkeit der Schrift, hielt es für „auffallend, dass alle antiken Ausleger anscheinend die gleichen Erwartungen an den biblischen Text hatten”, nämlich dass die „Bibel keine Widersprüche oder Fehler enthält.“ „Und natürlich sollte die Bibel sich nicht selbst widersprechen oder sich sogar scheinbar unnötig wiederholen, so dass, wenn es zweimal heißt »und die beiden gingen zusammen«, das zweite Vorkommen nicht einfach eine Wiederholung sein kann; es muss etwas anderes bedeuten als das erste. Kurzum, die Bibel sei ein völlig konsistentes, nahtloses, perfektes Buch.“

Auch der oft als „Kirchenvater“ bezeichnete Augustinus sah es im 4. Jahrhundert als eine nicht verhandelbare kirchliche Lehre an, dass es in der Heiligen Schrift keine Fehler gibt:

„Ich habe gelernt, diesen Respekt und diese Ehre nur den kanonischen Büchern der Schrift zu geben: Nur von diesen allein glaube ich fest entschlossen, dass das, was Autoren geschrieben haben, ohne jegliche Fehler ist. Und wenn ich in diesen Schriften auf etwas stoße, das mir der Wahrheit zu widersprechen scheint, so zögere ich nicht, anzunehmen, dass entweder die Handschrift fehlerhaft ist, oder dass der Übersetzer den Sinn des Gesagten nicht erfasst hat, oder dass ich selbst es nicht verstanden habe.“

Für Augustinus gab es im Falle eines scheinbaren Fehlers also nur 3 Möglichkeiten: Ein Fehler im Manuskript. Ein Fehler in der Übersetzung. Oder aber der Ausleger hatte eine Aussage der Schrift einfach falsch verstanden. Ein Fehler des biblischen Autors kam für ihn nicht in Frage.

Irrtumslosigkeit in der Reformationszeit

Genau auf diese Aussage von Augustinus berief sich später auch Martin Luther, als er in seiner „Assertio omnio articulorum“ schrieb:

„Wieviele Irrtümer sind schon in den Schriften aller Väter gefunden worden! Wie oft widersprechen sie sich selbst! Wie oft sind sie untereinander verschiedener Meinung! … Keiner hat der Heiligen Schrift Vergleichbares erreicht … Ich will …, dass allein die Heilige Schrift herrsche … [Ich] ziehe … als hervorragendes Beispiel Augustinus heran … was er in einem Brief an Hieronymus schreibt: ‚Ich habe gelernt, nur den Büchern, die als kanonisch bezeichnet werden, die Ehre zu erweisen, dass ich fest glaube, keiner ihrer Autoren habe geirrt.“

Luther hatte zwar bei manchen biblischen Büchern Zweifel, ob sie zum Kanon gehören. Aber kanonische Bücher hatten für ihn absolute Autorität. Laut Hans Küng hatte die Sichtweise von Augustinus das ganze Mittelalter hindurch bis in die Neuzeit hinein starken Einfluss. Deutlich wird das zum Beispiel an einer Debatte zwischen Johannes Eck, einem römisch-katholischen Zeitgenossen Martin Luthers, und dem Gelehrten Erasmus. Letzterer vertrat die Meinung, dass es der Schriftautorität keinen Abbruch täte, falls zum Beispiel Matthäus ein Jeremiazitat versehentlich Jesaja zugeschrieben hätte – eine Argumentation, die man auch heute häufig hört. Sind also kleinere Fehler unrelevant? Die Antwort von Eck ist bemerkenswert. Er zitiert die seiner Meinung nach zentrale augustinische Lehre von der Irrtumslosigkeit der Bibel:

“Hör zu, lieber Erasmus: Glaubst du, dass irgendein Christ es geduldig erträgt, wenn man ihm sagt, dass die Evangelisten in ihrem Evangelium Fehler gemacht haben?” “Wenn die Autorität der Heiligen Schrift an dieser Stelle wackelig ist, kann dann irgendeine andere Stelle frei vom Verdacht des Irrtums sein? Eine Schlussfolgerung, die der heilige Augustinus in einer eleganten Argumentationskette gezogen hat.”

Irrtumslosigkeit als kirchliche Lehre in der Moderne

Nicht nur für Luther, sondern auch für seinen katholischen Kontrahenten war also die völlige Fehlerfreiheit der kanonischen Schriften eine Selbstverständlichkeit. Diese Position wurde in der katholischen Kirche noch lange Zeit aufrecht erhalten. Ende des 19. Jahrhunderts hielt Papst Leo XIII. in einer Enzyklika fest, dass die römisch-katholische Kirche die Irrtumslosigkeit der Heiligen Schrift nicht nur in Fragen des Glaubens und der Praxis, sondern auch in Fragen der Geschichte und der Wissenschaft bejaht. Er tadelte diejenigen, die die Irrtumslosigkeit der Schrift auf Fragen des Glaubens und der Moral beschränken wollten mit dem Hinweis, dass sich doch alle Väter einig seien, „dass die göttlichen Schriften… frei von jedem Irrtum sind“ und dass sie sich deshalb „ernsthaft bemühten, … jene zahlreichen Stellen miteinander zu versöhnen, die widersprüchlich zu sein scheinen.“ Erst in der letzten Ausgabe von „Dei Verbum“ im Jahr 1965 wurde in Bezug auf die Irrtumslosigkeit der Bibel eine Formulierung gewählt, die so verstanden werden kann, dass die Irrtumslosigkeit nur solche Aussagen betreffe, die „um unseres Heils willen“ offenbart wurden.

Entsprechend zitiert John Woodbridge den bekannten US-amerikanischen Geschichtstheologen Richard A. Muller mit den Worten:

„Die katholische Lehre vor der Reformation ging von der Unfehlbarkeit der Schrift aus, ebenso wie die Reformatoren – die protestantischen Orthodoxen haben das Konzept nicht erfunden. Die Lehre von der unfehlbaren Autorität der Schrift blieb eine Konstante.”

Und Woodbridge ergänzt: „Die zentrale Debatte drehte sich nicht um die Unfehlbarkeit der Heiligen Schrift – diese wurde von beiden Seiten als selbstverständlich angesehen – sondern um die Frage der Autorität, insbesondere der Autorität der Auslegung.“

Die Unfehlbarkeit der Bibel: Eine gängige Lehre der christlichen Kirchen

Das Fazit von John Woodbridge fällt eindeutig aus:

„Die Lehre von der Irrtumslosigkeit der Bibel ist keine späte, fantasievolle Schöpfung … des amerikanischen Fundamentalismus des 20. Jahrhunderts. Vielmehr ist sie eine wesentliche evangelische Überzeugung, die sich auf eine biblische Begründung stützt. Sie steht ganz in der augustinischen Tradition der Wahrhaftigkeit der Bibel. Sowohl die römischen Katholiken als auch die protestantischen Reformatoren haben diese Lehre der Kirche bekräftigt. …  Vor 1881 glaubten zahllose römische Katholiken und evangelische Protestanten, dass die Bibel nicht nur in Fragen des Glaubens und der Praxis, sondern auch in Geschichte und Wissenschaft unfehlbar sei. Die diesbezügliche Lehre des Augustinus kam für viele römische Katholiken und Protestanten einer wesentlichen Kirchenlehre gleich. Einige behaupteten, dieser Glaube ergebe sich direkt aus der Prämisse, dass Gott, der Urheber der Wahrheit, auch der letztliche Autor der Heiligen Schrift sei. Daher sei die Schrift ohne Irrtum. Viele glaubten, die Lehre diene als starke Leitplanke gegen die Möglichkeit, in falsche Lehre oder Schlimmeres abzurutschen oder abzustürzen. Viele gingen davon aus, dass dies eine nicht verhandelbare Überzeugung ihrer evangelischen theologischen Identität sei.“

Viele Zitate dieses Artikels stammen aus „Did Fundamentalists Invent Inerrancy?“ von Prof. John Woodbrigde. Der Artikel ist eine Bearbeitung des Kapitel 4 “Evangelical Self-Identity and the Doctrine of Biblical Inerrancy” in “Understanding the Times: New Testament Studies in the 21st Century: Essays in Honor of D. A. Carson on the Occasion of His 65th Birthday” (Crossway, 2011).

Mein Traum geht in die Verlängerung (2)

Im Juli 2020 habe ich einen Artikel veröffentlicht, an den ich in den letzten Tagen immer wieder denken musste. Er befasste sich mit meinem großen Lebenstraum „von einer fröhlichen, bunten und vielfältigen Jesus-Bewegung, die gemeinsam für diese eine Botschaft steht: Jesus ist Herr! Er ist der Weg, die Wahrheit und das Leben! Sein Blut reinigt uns von unserer Schuld! Komm und lass Dich von ihm retten!“ Ich habe in diesem Artikel meine Enttäuschung darüber geschildert, dass unter uns Christen in den letzten Jahren nicht nur alte Spaltpilze überwunden wurden, sondern leider auch der verbindende Konsens in zentralen Glaubensfragen dahingeschmolzen ist – und damit auch die Basis für unsere Einheit.

Besonders bewegt haben mich die immer lautstärkeren Rufe nach einer “Öffnung” im Bereich der Sexualethik. Das hat mich zu der Frage geführt: „Sollte ich mir vielleicht doch einen Ruck geben und mit auf den Zug aufspringen? Offenkundig steigen nicht wenige geschätzte Mitchristen ein in diesen Zug, der jetzt wieder einmal lautstark zum Mitfahren lockt. Aber nein. Ich werde nicht mitfahren. Es zerreißt mir zwar das Herz, dass sich dadurch wohl auch Wege trennen müssen. Aber ich kann trotzdem nicht anders.“ Denn ich kann mein Gewissen vor Gott nicht kompromittieren. Und ich kann zudem absolut nicht erkennen, dass dieser Zug in Richtung Einheit und Erweckung fährt.

Der Zug ist in rasantem Tempo weitergefahren

Seither ist der Zug der progressiven Sexualethik in rasantem Tempo weitergefahren. Neben zahlreichen Worthausvorträgen, Podcasts und Büchern gab es 2021 das erste größere Treffen der Initiative „Coming-In“. Schon der Name vermittelt das Bild: Wer praktizierte Homosexualität nicht gutheißt, der glaubt nicht, dass bei Gott alle Menschen willkommen sind. In meinem Kommentar zur Gründung von „Coming-In“ hatte ich drei Bitten an die Unterstützer formuliert: Bitte sprecht anderen Christen nicht von vornherein die Liebe ab! Baut selbst Gemeinden statt andere Gemeinden umdrehen zu wollen! Und helft doch bitte mit, dass in unserem Land eine Atmosphäre echter Toleranz bewahrt bleibt, in der auch Gemeinschaften mit einer konservativen Position respektiert werden, so dass es ein respektvolles Nebeneinander und vielleicht sogar zumindest punktuell ein Miteinander geben kann. „Vielleicht gelingt das ja eines Tages, dass wir gelassen sagen können: We agree to disagree. Wir sind uns einig, dass wir uns nicht einig sind. Aber wir unterstellen dem Anderen deshalb keine bösen Motivationen.“

Zum „Coming-In“ gesellt sich das „Get out“

Ein weiteres Jahr später sehe ich: Meine Bitten werden nicht gehört. Auf der diesjährigen Coming-In-Tagung in Niederhöchststadt verglich Michael Diener seine Hinwendung zur progressiven Sexualethik mit dem biblischen Saulus/Paulus-Ereignis. Früher habe er andere Menschen „diskriminiert, falsch beraten, ihnen so Schaden zugefügt“ und „die Gnade, die Liebe Gottes, das Evangelium […] viel kleiner gemacht“. Christliche Gemeinschaften, die seinen Weg nicht mitgehen wollen, bezeichnet er als „abgeschlossene Gruppen“, in denen ein „Zeitgeist von vorgestern“ herrscht, und die „ohne Impuls von außen nicht in der Lage sind, sich dem Wirken des lebendigen Geistes Gottes […] zu öffnen”. “Mit aus dem Zusammenhang gerissenen Bibelzitaten wollen sich manche durch eine komplexe Zeit navigieren. Die Bibel wird so aber überfordert und ungeistlich missbraucht.“ Auf der Tagung ist davon die Rede, dass die Sünde der Ausgrenzung aufhören müsse. Ein guter Freund von mir reagierte mit den Worten: Wenn er Recht hat, bin ich ein selbstgerechter, verdammter Irrlehrer. Eine schärfere Infragestellung habe ich noch nie erlebt.“ Der Blogger Matt Studer erkennt in der Tagung gar ein „polemisches Storytelling”. Stillschweigend werde „Willkommenskultur“ (die alle wollen!) mit „Gutheissungskultur“ gleichgesetzt (was niemand durchhalten kann, weil jeder Toleranzgrenzen hat). Konservativen werde unterstellt, nicht die ganze Bibel bei der Auslegung zu berücksichtigen. Sie werden als wissenschaftsfeindlich und realitätsfern dargestellt. Studers Fazit: „Inklusion kommt für Progressive auch an ihre Grenze, wenn es um uns Konservative geht. Denn uns könnt ihr ja unmöglich inkludieren, es sei denn wir tun Busse und denken um!“

Für mich bestätigt sich hier, was ich schon früher beobachtet habe: „Ambiguitätstoleranz“ war gestern. Jetzt werden auch im freikirchlichen Bereich Stimmen laut, die ich aus der evangelischen Kirche schon lange kenne. Die evangelische Pastorin Sandra Bils (die inzwischen an der CVJM-Hochschule Kassel lehrt) schrieb schon 2015 in ihrem Blog, dass sie der Gedanke stört, dass man der konservativen Position noch eine Daseinsberechtigung zuspricht. Die Nordkirche (die ev. Landeskirche in Schleswig Holstein, Hamburg und Mecklenburg-Vorpommern) hat 2019 nicht nur beschlossen, gleichgeschlechtliche Paare zu trauen, sondern zugleich auch die Gewissensfreiheit für Pastoren in dieser Frage abzuschaffen – womit Konservative dort keinen Pfarrdienst mehr anstreben können, wenn sie ihr Gewissen nicht kompromittieren wollen. 2020 hatten die Tübinger Theologieprofessoren die konservative Position als „unerträglich“ bezeichnet. Der Trend ist klar: Zum „Coming-In“ gesellt sich rasch das „Get out“ an alle, die diesen Weg nicht mitgehen wollen.

Noch 3 weitere Beobachtungen aus den vergangenen Jahren verfestigen sich:

1. Die progressive Sexualethik geht einher mit einem veränderten Bibelverständnis

So sagt Michael Diener: Er sei gebunden gewesen an eine bestimmte Lesart der Bibel. Heute begreife er die Bibel immer noch als Heilige Schrift und Gottes Wort, “aber zugleich so, dass sie die in ihr steckende Kraft nicht im Buchstaben allein, sondern durch Gottes Geist und in die Zeit hinein entfaltet”. Nun war Michael Diener als Vorsitzender der Deutschen Evangelischen Allianz und Präses des Gnadauer Gemeinschaftsverbandes sicher noch nie ein radikaler Biblizist. Aber auch ein grundsolides evangelikal-/pietistisches Bibelverständnis ist offenkundig nicht mehr vereinbar mit den Thesen, die heute im Umfeld von Coming-In vertreten werden.

2. Progressive Christen missionieren mit Vorliebe konservative Christen

Michael Diener ruft dazu auf, gemeinsam zu glauben, zu hoffen, zu lieben und zu “arbeiten für christliche Gemeinden, in denen Menschen nach ihrem Coming Out ein herzliches Coming In erfahren egal, ob lesbisch, schwul, bi, trans, hetero oder anders queer”. Nun gibt es ja bereits massenhaft Gemeinden, in denen gleichgeschlechtliche Paare getraut werden, vor allem in der evangelischen Kirche, zu der Michael Diener gehört. Trotzdem wird bei Coming-In in Workshops über notwendige Change-Prozesse nachgedacht, damit Gemeinden sich für die LSBTIQ-Community öffnen und „Hartnäckige Missverständnisse“ überwinden. Ich finde es immer noch wenig fair und überzeugend, mit missionarischem Eifer lebendige Gemeinden umdrehen zu wollen, die Christen mit einer anderen Position zum Blühen gebracht haben, während zugleich liberale Gemeinden massenhaft zugrunde gehen. Und auffällig ist: Während Konservative bei jeder Äußerung zum Thema Sexualethik mit dem Vorwurf konfrontiert werden, sie würden nur um das Thema Sex kreisen, wird auf der anderen Seite dieses Thema mit immer größerer Frequenz auf die Tagesordnung gesetzt. Es werden sogar spezielle Tagungen zu diesem Thema abgehalten.

3. Es ist naiv, zu glauben, dass es Einheit gibt, wenn Konservative die Segnung gleichgeschlechtlicher Paare tolerieren

Die Agenda der progressiven Sexualethik ist lang. Erst kürzlich habe ich begründet, warum ich – gerade auch als Christ – niemals gendern werde. Michael Diener forderte hingegen bereits in seinem Buch „Raus aus der Sackgasse“ die Durchsetzung von Gendersprache und Frauenquoten, und zwar „auch gegen eine eher fundamentalistische oder biblizistische Minderheit. Und bitte halten Sie das nicht für ein Nebenthema!“ (S. 206)

Direkt nach der Coming-In-Tagung lud Michael Diener leidenschaftlich ein zur Tagung: “Zurück zur »natürlichen« Ordnung? Theologische und theopolitische Dimensionen des Anti-Gender-Diskurses”, veranstaltet vom Studienzentrum der EKD für Genderfragen. Auf der Rednerliste der Tagung steht unter anderem Thorsten Dietz, der über „Heteronormative Geschlechterpolitik im Evangelikalismus und seine Probleme“ spricht. Höhepunkt der Tagung ist der öffentliche Abendvortrag von Neil Datta, dem Generalsekretär des „European Parliamentary Forum for Sexual and Reproductive Rights (EPF)“ und zugleich Vorkämpfer für das “Recht auf Abtreibung” und gegen verpflichtende Beratungsgespräche. Aus seiner Sicht ist Deutschland noch lange nicht im grünen Bereich, was das “Recht auf Abtreibung” betrifft, wie dieser WELT-Online-Artikel zeigt.

Dass die progessive Sexualethik und Genderbewegung auch Abtreibung mit im Gepäck hat, mag manche überraschen. Neu ist die Öffnung in der Abtreibungsfrage im kirchlich-progressiven Umfeld aber nicht. 2018 wurde in der evangelischen Kirchenzeitschrift Chrismon aktiv für die Abschaffung des §219a geworben. 2019 rechtfertigte die US-amerikanische Pastorin Nadia Bolz-Weber (laut dem christlichen Medienmagazin PRO „so etwas wie der Star der Emergenten und progressiven Evangelikalen“) ihre eigene Abtreibung mit der These, dass das Leben mit dem Atem beginne – ein wahrhaft verstörender Satz. Denn als Christ und als Biologe muss ich sagen: Auch im Mutterleib sind Kinder bereits Kinder – mit einer gottgegebenen Würde und einem Recht auf Leben. Wer daran zweifelt, dem empfehle ich den Gang durch eine Frühgeborenenstation. Wie Christen sich mit Kräften gemein machen können, die die geltenden Regelungen zum Thema Abtreibung in Deutschland aufkündigen und ein “Recht auf Abtreibung” vorantreiben wollen, ist mir schleierhaft. Ganz sicher ist: Zu solchen Positionen werde ich niemals Brücken bauen können.

Zwei unvereinbare Positionen stehen im Raum

Umso mehr bin ich froh, dass ich 2020 nicht in diesen Zug eingestiegen bin. Die “Öffnung” beim Thema Sexualethik hat zu vieles im Gepäck, was ich nicht teilen kann, darunter auch eine liberalere Theologie, die weltweit Kirchen schrumpfen lässt, wie Alexander Garth in seinem Buch „Untergehen oder umkehren“ eindrücklich dargelegt hat. Wie spaltend progressive Sexualethik wirkt, macht im Moment auch der synodale Weg” in der katholischen Kirche vor. Es ist zwar traurig, aber wir müssen realistisch sein: Hier stehen sich zwei unvereinbare Positionen gegenüber. Auf beiden Seiten handelt es sich nicht nur um eine Meinung, sondern um eine Gewissensfrage. Diesen Dissens kann man vielleicht auf Kongressen übergehen, aber in jeder Gemeinde muss zwangsläufig eine Entscheidung getroffen werden. Wenn sich ein Gemeindebund nicht dazu positionieren will, dann wird der Konflikt auf die Ebene der lokalen Gemeinden verschoben und damit vielfach multipliziert – mit allen zerstörerischen Folgen, die das für die Gemeinden mit sich bringen kann.

Umso mehr bin ich dankbar für alle, die sich mutig, sensibel und kenntnisreich dafür einsetzen, dass wir gemeinsam an dem Konsens festhalten, der in der historischen Kirche durchgehend galt und bis heute für den allergrößten Teil der Weltkirche gilt, wie jüngst der Generalsekretär der Weltweiten Evangelischen Allianz Prof. Thomas Schirmacher bekräftigt hat. Johannes Traichel hat in seinem Buch “Evangelikale und Homosexualität” wunderbar beschrieben: An der Schönheit und Kraft biblischer Sexualethik dürfen wir nicht nur aus soliden biblischen Gründen fröhlich festhalten. Wir müssen diese Sexualethik auch aktiv einüben. Wir müssen lernen, wie sie in unseren Gemeinden praktisch gelebt werden kann. Der Versuch, das Thema um des scheinbaren lieben Friedens willen einfach totzuschweigen, kann also aus vielen Gründen keine Option sein.

Mein Traum ist lebendiger denn je

Mein Traum von Einheit in Vielfalt ist zwar immer noch in der Verlängerung. Aber er ist lebendiger denn je! Ich sehe viele Anzeichen, dass jenseits des Postevangelikalismus eine neue Einheit unter Jesusnachfolgern wächst. Das Bewusstsein wird geschärft, wie wichtig und unersetzbar die Hochschätzung der biblischen Autorität für die Einheit der Kirche Jesu ist. Wo die Liebe zu Jesus gelebt wird und die gemeinsame Schrift- und Bekenntnisgrundlage feststeht, da können große Differenzen in der Prägung und in theologischen Randfragen ausgehalten werden. Dort gelingt es auch, Menschen gemeinsam zur Nachfolge Jesu einzuladen. Dort wachsen Gemeinden auch gegen den Trend.

Deshalb werbe ich leidenschaftlich dafür, dabei zu bleiben: Christen sind Christusnachfolger. Sie folgen den Worten ihres Meisters, die sie in der Bibel finden. Ja, diese Worte bestehen aus Buchstaben. Die Buchstaben entfalten ihre Kraft nur durch den Heiligen Geist. Aber der Heilige Geist wird sich niemals gegen den Buchstaben stellen. Nur im Einklang mit Gottes Wort hat die Kirche Jesu Zukunft.

Die Artikel, die in diesem Artikel erwähnt werden:

Untergehen oder umkehren

Eine dramatische Analyse – Ein Ruf zur Umkehr – Ein Mutmacher für einen neuen Aufbruch

„Wir stehen auf der Schwelle in eine neue Ära der Kirche. Die Volkskirche, wie wir sie aus der Vergangenheit kennen, gibt es bald nicht mehr.“(S. 149)

Diese Grundthese des Buchs „Untergehen oder Umkehren“ begründet der Autor Alexander Garth mit zwei nicht aufzuhaltenden Megatrends: „Der Niedergang institutioneller Religiosität bzw. geerbter Religion und der Aufschwung individueller Religiosität bzw. gewählter Religion.“ (S. 69) Die Zeiten sind demnach vorbei, in denen es genügte, irgendwie mit der Kirche zu glauben. „Die Menschen brauchen ihren persönlichen Zugang, ihr eigenes Erweckungserlebnis.“ (S. 25)

Bekehrung rückt in den Fokus

Für die großen Kirchen bringt dieser Wandel eine dramatische Konsequenz mit sich: „Eine Kirche, die aus dem volkskirchlichen Betreuungsmodell nicht gewählter Religion hin zu einer Kirche der Zukunft aufbrechen will, wo gewählte Religion zur Normalität wird, muss dem Thema Konversion (früher sagte man »Bekehrung« dazu) höchste Priorität einräumen. Denn die Übermorgenkirche wird aus Menschen bestehen, die Glaube und Kirche gewählt haben.“ (S. 153) Dabei ist diese zentrale Bedeutung von „Bekehrung“ für Garth nichts Neues: „Das Thema Bekehrung zieht sich wie eine Leuchtspur durch die ganze Kirchengeschichte. In den dynamisch wachsenden Kirchen Afrikas, Asiens und Leinamerikas ist Bekehrung ein Massenphänomen. Und bei uns? Es wird wieder ein wichtiges Thema in der Kirche, oder aber es gibt sie nicht mehr.“ (S. 177)

Volkskirche ist von Haus aus antimissionarisch

Der grundlegende Wandel in Richtung gewählter Religiosität stellt die großen Volkskirchen vor eine doppelte Herausforderung. Einerseits ist sie seit der konstantinischen Wende geradezu antimissionarisch aufgestellt, denn: „Wenn alle Bürger schon irgendwie Christen sind, dann ist Mission eigentlich überflüssig, ja sogar schädlich, weil es dann Christen gibt, die etwas Besseres sein wollen, bekehrter, echter, hingegebener. Es genügt dann, dass die Kirchenmitglieder in ihrem (Minimal)-Glauben betreut und gestärkt werden. Sie werden parochialisiert (Gemeinden zugeordnet), sakramentalisiert, aber nicht missioniert.“ (S. 45/46) Den getauften Kirchenmitgliedern wieder zu sagen, dass sie sich bekehren müssen, würde einen grundlegenden Paradigmenwechsel bedeuten, der momentan nicht erkennbar ist. Stattdessen ist Garth‘s Beobachtung: „Mission ist für die liberalen Kirchen des Westens peinlich. Sie gilt als übergriffiger Akt, der das emanzipierte, mündige Gegenüber nicht ernst nimmt. … Es geht nicht mehr um Konversion, sondern um Entwicklungshilfe, um Dialog, um Frieden, Gerechtigkeit und die Bewahrung der Schöpfung. Der Missionsauftrag Jesu, alle Völker zu Jüngern zu machen, wird auf die Ethik reduziert.“ (S. 99/100)

Auch die Kirche selbst hat die Bevölkerung gegen den Glauben immunisiert

Hinzu kommt ein zweites Problem: Während überall in der Welt der christliche Glaube an Dynamik gewinnt, scheint in Deutschland geradezu eine „Herdenimmunität“ gegenüber dem christlichen Glauben zu bestehen. Aber warum ist das eigentlich so, dass die „Menschen bei uns weithin allergisch auf den christlichen Glauben reagieren“ (S. 55)? Garth nennt 5 Faktoren:

  1. Die über sehr lange Zeit währende Verbindung von staatlicher Macht und Kirche hat die Menschen misstrauisch gemacht.
  2. Das volkskirchliche Minimalchristentum macht immun gegen den echten christlichen Glauben.
  3. Der Religionsmonopolismus eines religiösen Anbieters kann nicht genügend Zugänge zum Glauben anbieten, was aber in einer offenen, diversen Gesellschaft erforderlich ist.“
  4. Reduktive Theologien … haben die Volksfrömmigkeit beschädigt“.
  5. DieMoralisierung des Glaubens führt dazu, dass Menschen sich sagen: Glauben brauche ich nicht, denn ich kann auch ohne ein guter Mensch sein.“ (S. 51/52) „Religion, die sich in sozialem Engagement, Klimarettung, Geschlechtergerechtigkeit und Weltverantwortung erschöpft, schafft sich ab.“ (S. 81)

Anpassung ist nicht die Lösung, sondern das Problem

Die gängige Frömmigkeit, die man in den Kirchen antreffen kann, beschreibt Garth in deutlichen Worten: „Statt des Glaubens, wie ihn z.B. die altkirchlichen Bekenntnisse bezeugen, finden wir eine diffuse Religiosität an einen Kuschelgott, der für das persönliche Wohlergehen zuständig ist und die Freiheit nicht einschränken darf.“ (S. 60) „Dass im Zentrum des christlichen Glaubens der Erlösungsgedanke steht, ist komplett außerhalb des Blickfeldes.“ (S. 78)

Aber ist es nicht zwangsläufig notwendig, dass die Kirche sich an die Menschen anpassen muss, wenn sie nicht noch mehr Mitglieder verlieren möchte? Garth schreibt dazu: „Liberale Christen vereint eine Illusion: Sie glauben, dass moderne Zeiten eine moderne Religion erfordern. … Die Religion der Zukunft muss sanft und moderat sein, pluralistisch und nicht exklusiv, spirituell, aber nicht dogmatisch, den Menschen bestätigend, nicht hinterfragend, eine gefällige Religion, die sich an die Erwartungen der Gesellschaft anpasst und keine Forderungen an die Gläubigen stellt. Dean M. Kelleys Studie und auch andere religionssoziologischen Erhebungen kommen zu dem gegenteiligen Schluss, nämlich dass diese Form von Softreligion das sicherste Rezept für Erfolgslosigkeit ist.“ (S. 112/113)

Aber warum ist das so? Garth beschreibt die selbstzerstörerische Dynamik der kirchlichen Anpassung so: Das Resultat der Anpassung ist ein weichgespültes Evangelium und eine profillose Kirche. … Dennoch verstärkt sich der Trend zum Kirchenaustritt. Die Logik geht nicht auf. Der Nivellierungskurs führt zu einer Banalisierung des Glaubens. Kaum einer weiß noch, wofür die evangelische Kirche eigentlich steht – außer natürlich für das, wofür auch der gesellschaftliche Mainstream steht. Aber dafür braucht es keine Kirche. Wer in der Kirche auf Anpassung setzt, schafft sie ab. … Eine an die Allgemeinheit angepasste Kirche produziert Langeweile und Gleichgültigkeit. Und sie trägt bei zur Immunisierung gegenüber dem Evangelium, erworben durch den schleichenden Kontakt mit einem harmlosen, verdünnten Christentum.“ (S. 61/62)

Die Entstehung einer „reduktiven Theologie“

Eine große Rolle spielen für Garth dabei die Entwicklungen an den theologischen Fakultäten in den letzten 200 Jahren: „Unter den Bedingungen einer Staats- und Volkskirche, in der man Mission nicht nötig hatte, weil alle dazu gehörten, konnte sich ein theologisches Denkmodell entwickeln, das … den missionarischen Aufbruch des Glaubens behindert und verhindert: Das liberale Denkraster. Die sogenannte liberale Theologie des Westens – global betrachtet ein Randphänomen – hat mit ihrem Erkenntnisreduktionismus, der einem materialistischen Weltbild verpflichtet ist, das Fundament des christlichen Glaubens in einen Sumpf verwandelt und die missionarische Kraft der Kirchen beschädigt. Das ist das geistliche Drama des Westens mit der Folge einer desaströsen geistlichen Frucht- und Vollmachtslosigkeit.“ (S. 26/27) Diese „reduktive Theologie, die den Zweifel zum normativen Prinzip erhob, hat einen großen Anteil an der Immunisierung vieler Menschen gegen den christlichen Glauben.“ (S. 77) Garth spricht dabei lieber von „reduktiver“ statt von „liberaler“ Theologie, denn: „Das liberale reduktive Denkraster ist das Resultat einer reduktiven Vorannahme, nämlich der wissenschaftlich nicht begründbaren Entscheidung, Wunder, Offenbarungen und göttliches Eingreifen von vornherein auszuschließen. … Dieser Grundsatz dominiert bis heute als methodisches Axiom die exegetischen Wissenschaften und entzieht damit den anderen theologischen Disziplinen ihr biblisches Fundament.“ (S. 84)

Die entscheidende Rolle der Theologie

Heute ist oft der Ruf zu hören: Lasst uns doch nicht um Theologie streiten, sondern gemeinsam evangelisieren! Garth macht hingegen deutlich: Gerade um der Mission willen muss dringend um Theologie gestritten werden, denn: „Es besteht ein Zusammenhang zwischen liberaler westlicher Theologie und dem Niedergang von Gemeinden. Es sind fast ausschließlich liberale Kirchen, die teilweise dramatisch Mitglieder verlieren.“ (S. 108) Umgekehrt ist für Garth ebenso klar: „Wenn man in der Welt aufstrebende Gemeinden und Bewegungen bestimmen möchte, die nicht evangelikal sind, so würde man kaum etwas finden. Zumindest gehört das zu den gesicherten Forschungsergebnissen der Religionssoziologie.“ (S. 174) Diese Aussage ist umso erstaunlicher, da Garth sich selbst gar nicht unbedingt als Evangelikaler sieht. Seine Selbstbeschreibung lautet vielmehr: „Heute bin ich vielleicht so etwas wie ein evangelikal-liberaler Lutheraner mit katholischen und pentekostalen Neigungen.“ (S. 206)

Aber warum führt „reduktive Theologie“ zur Schrumpfung der Kirchen? Garth erklärt: „Dieser fundamentalistische Rationalismus macht aus der großen Geschichte Gottes mit der Menschheit ein armseliges Trauerspiel der Auflösung des Glaubens in lauter harmlose Existenzialismen und Moralismen. Das ist nicht nur eng, das ist langweilig.“ (S. 90) Er ist zudem „ein Commitment-Killer erster Güte. Eine Kirche mit einer beschädigten Christologie vermag nicht das Commitment zu generieren, das für einen missionarischen Aufbruch des Glaubens notwendig ist.“ (S. 147) Warum trotz dieser klaren Fakten ein Teil der freikirchlichen Evangelikalen ernsthaft mit der Theologie der großen Kirchen flirtet, wird mir wohl immer ein Rätsel bleiben.

Was sich ändern muss: Die Bibel hochhalten und eine gesunde Christologie entwickeln

Trotz der harten Diagnose ist Garth keineswegs ein Pessimist in Bezug auf die Zukunft der Kirche, im Gegenteil: Er ist überzeugt, dass der christliche Glaube seine beste Zeit noch vor sich hat. Aber was muss denn nun aus seiner Sicht nun geschehen, damit Kirche Zukunft hat? Sie muss zunächst einen anderen Umgang mit der Bibel finden: „Die Kirche der Zukunft wird auf jeden Fall die Bibel als einzigartiges Dokument der Offenbarung Gottes hochhalten.“ (S. 92) Denn: „Das Christentum ist wesensmäßig eine Offenbarungsreligion.“ (S. 97)

Garths Ausführungen zum Thema Bibelverständnis bleiben allerdings ein wenig vage. Wichtiger scheint ihm zu sein, dass die Kirche wieder eine solide Christologie (Lehre von Christus) entwickelt. Denn im Moment ist seine Wahrnehmung: „In der evangelischen Kirche ist überhaupt nicht mehr klar, wer Jesus Christus ist.“ (S. 152) Wenn aber „der Christus der Verkündigung nicht mehr der Christus der Bibel und der kirchlichen Bekenntnisse ist (vom Apostolischen Glaubensbekenntnis bis zum Bekenntnis von Barmen), dann sind die Folgen leere Kirchen, frustrierte Prediger, gelangweilte Menschen, keine Bekehrungen. Dann wird das ganze Christentum müde und farblos. Der Grund? Gottes Geist macht sich rar. … Der Heilige Geist sagt: »Nicht mein Jesus! Da bleib ich zu Hause.«“ (S. 118/119) Deshalb ist Garth überzeugt: „Die Neuformatierung von einer Volkskirche zu einer missionarischen Kirche benötigt eine gesunde, biblische, und gemäß den altkirchlichen und reformatorischen Bekenntnissen geformte Christologie.“ (S. 26)

Die Jungfrauengeburt ist entscheidend

Eine gesunde Christologie macht Garth ganz besonders auch an der Jungfrauengeburt fest: „Dass Jesus wahrer Mensch und wahrer Gott ist, findet seinen unüberbietbaren Ausdruck in der Jungfrauengeburt. Nur ein paar Theologen des Westens, welche eine unglaublich arrogante Skepsis zur norma normans, zum normierenden Prinzip gemacht haben und in ihrer Gefolgschaft einige von Zweifeln beseelte Abendländler, meinen, dass der Glaube unbeschadet bleibt ohne »Jungfrau.«“ (S. 96) Hier muss die Kirche also zwingend zurück zu ihren Bekenntnisgrundlagen, denn: „Ohne eine von reduktiver Überfremdung gereinigte Christologie gibt es keinen Aufbruch des Glaubens.“ (S. 157) Punkt. Auch seine vielen internationalen Erfahrungen bestärken Garth in dieser Sichtweise: „Ich war öfters in Afrika, Indien und in anderen Teilen der Welt und habe dort studiert, wie Gemeinden sich entwickeln, welche missionarischen Konzept sie vertreten und was ihre Theologie ausmacht. Ich habe von verschiedenen Pastoren und Gemeindegründern mehrfach einen Satz gehört: »Wenn du willst, dass deine Gemeinde stirbt und dass dein Dienst ohne Frucht bleibt, dann übernimm die Theologie Europas!«“ (S. 160) Umso wichtiger ist es Garth, dass das Christentum in Deutschland endlich von den weltweit wachsenden Kirchen lernt.

Konservativ ist auch keine Lösung

Die Lösung besteht für Garth aber keineswegs darin, einfach nur konservativ zu werden. Stattdessen schreibt er: Die globale religionssoziologische Perspektive zeigt: Wachsende Gemeinden sind nicht einfach nur konservativ. Sie haben eine Doppelstrategie. Einerseits haben sie eine konservative Christologie verbunden mit dem Enthusiasmus, Menschen in die Nachfolge Jesu zu rufen. Im Bereich Moral sind diese Gemeinden zumeist sehr konservativ. Besonders in Sachen Sexualmoral vertreten sie Ansichten, die – zumindest aus westlicher Sicht – unerträglich streng und gestrig sind. Andererseits sind diese Gemeinden auffällig progressiv. Sie sind digital gut vernetzt bei Facebook, Youtube, Instagram und Twitter. … Überhaupt ist das ganze Erscheinungsbild aufstrebender Kirchen auffällig zeitgemäß.“ (S. 199) Parallelen dazu sieht Garth auch schon in der frühen Kirche: „In unserer heutigen sexualisierten Kultur fällt auf, dass in der frühen Kirche eine strenge Sexualmoral gelebt wurde, die sich von der Moral der Heiden unterschied. Sex außerhalb der Ehe galt als Unzucht.“ (S. 37) Kulturelle Differenzen sind für Garth aber kein Problem, sondern eine Chance auch für die heutige Kirche: „Ich sehe im Niedergang des Systems Volkskirche, der sicher ein schmerzhafter Prozess ist, die enorme Chance, dass Kirche wieder das werden kann, wozu sie berufen ist: eine Kontrastgesellschaft zur Bürgergesellschaft, ein göttlicher Gegenentwurf zur Welt, eine Einladung Christi, Gottes Alternative zu leben.“ (S. 27/28) Eine Kirche, die sich so auf den Weg macht, wird aus Garth’s Sicht auch keine finanziellen Probleme haben, denn: „Wo der Heilige Geist ist, da ist auch Geld. Finanzielle Großzügigkeit verrät immer, dass da etwas geschieht, was Menschen begeistert.“ (S. 190)

Hat die Umkehr schon begonnen?

Garths Analyse und Ruf zur Umkehr spricht mir insgesamt sehr aus dem Herzen. Sein Optimismus, dass in der evangelischen Kirche nicht nur in einzelnen Gemeinden sondern auf breiter Front eine Umkehr stattfinden wird, kann ich im Moment allerdings noch nicht wirklich teilen. Ich bin eher skeptisch, wenn Garth schreibt: „Auch die universitäre Theologie wird in einen Prozess der Erneuerung eintauchen, wenn nämlich immer mehr Studenten nach der Aneignung missionarischer und kybernetischer Kompetenz verlangen.“ (S. 164) Garth sieht sogar schon erste zarte Pflänzchen wachsen: „Die neue Pfarrergeneration, die viele Ideen für einen Aufbruch der Kirche hat, organisiert sich bereits in dem Netzwerk Churchconvention. Sie wollen eine »Mission-Shaped Church«, eine missionsgeformte Kirche.“ (S. 158) Ich wünschte, er hätte recht. Aber meine Beobachtung ist eher: Die auch von Garth erwähnte „Evangelikalenphobie“ in kirchlichen Fakultäten und Gremien ist ungebrochen und nimmt sogar eher noch zu. Auch der Niedergang der Kirche oder der Pfarrermangel ändert daran bisher überhaupt nichts. Wie strikt die Abwehrhaltung gegenüber evangelikal ausgebildeten Theologen selbst in der als vergleichsweise konservativ geltenden württembergischen Landeskirche noch ist, musste ich jüngst in meiner eigenen Gemeinde schmerzhaft erleben.

Die Kirche wird nicht durch die Konzentration auf Kirchenrettung gerettet

Lange Jahre war ich Teil der Initiative „Network XXL“, die stark inspiriert war von der anglikanischen Gemeindegründungsbewegung „Fresh Expressions of church“, die auch im Garths Buch thematisiert wird. Die Berichte aus England hatten mich begeistert und die Hoffnung geweckt, dass „Fresh X“ auch in Deutschland ein Motor der Erneuerung werden könnte. Inzwischen bin ich tief enttäuscht. Der deutsche Fresh X-Zweig hat sich progressiven und teilweise sogar tief liberalen theologischen Vertretern geöffnet. Die „reduktive Theologie“ führt auch hier dazu, dass theologisches Profil verloren geht.

Wer aber nur die Formen, nicht aber die theologischen Fundamente der Kirche erneuert, bleibt letztlich verhaftet in einem „Ekklesiozentrismus“, denn man daran erkennt, „dass die Kirche zu sich einlädt, statt zu Jesus, von sich schwärmt, aber nicht von Jesus.“ (S. 186) Garth hingegen stellt klar: „Es geht nicht um Mitgliedergewinnung. Es geht darum, dass Menschen sich rufen lassen, Jünger und Jüngerinnen Christi zu werden.“ (S. 170) Damit das gelingt, benötigt die Kirche der Zukunft im Kern ein solides Bibelverständnis, aus dem eine gesunde Christologie und damit auch eine dynamische, geisterfüllte, missionarische Gemeindearbeit in vielfältigen Formen erwachsen kann. Dann wird die Kirche Jesu in der Lage sein, unsere vielfältige Gesellschaft mit dem Evangelium zu erreichen. Eine Abkürzung oder ein alternativer Weg existiert nicht. Die Alternative wäre Untergang. Ich bin Alexander Garth sehr dankbar, dass er das in diesem Buch so eindrücklich deutlich gemacht hat.

Das Buch “Untergehen oder Umkehren – Warum der christliche Glaube seine beste Zeit noch vor sich hat” von Alexander Garth ist hier erhältlich.

Johannes Traichel: Evangelikale und Homosexualität – Mehr als eine Rezension

Um es gleich vorweg zu sagen: Das Buch „Evangelikale und Homosexualität“ ist aus meiner Sicht schon jetzt das Buch des Jahres 2022. Wenn es die Möglichkeit gäbe, dass ich jedem evangelikalen Leiter ein bestimmtes Buch zum Lesen empfehlen dürfte, dann wäre es dieses. Manche Leser wird das überraschen. Handelt es sich beim Thema Homosexualität nicht um ein Randthema? Wurde darüber nicht schon genügend gestritten? Sollten wir das nicht endlich ruhen lassen und uns lieber gemeinsam auf Evangelisation und Gemeindebau konzentrieren?

So sehr ich diese Anliegen teile, so klar sehe ich aber auch: Man kann das Thema Homosexualität zwar auf Konferenzen und Kongressen an den Rand schieben, aber auf Gemeindeebene gilt: „Die ethische Beurteilung kann nicht offenbleiben, da hier spätestens in der Praxis in der Ortsgemeinde unüberbrückbare Spannungen aufkommen werden, die auch auf Denominationen ausstrahlen und gewaltiges Konfliktpotenzial ausstrahlen. Ob Menschen mit gleichgeschlechtlichen Sexualpartnern in der Gemeinde mitarbeiten können (und wenn ja, in was für einem Umfang), oder ob Trauungen und Segenshandlungen möglich sein werden, ist eine Frage, in der eine Entscheidung zu treffen ist.“ (S. 251) Zudem äußert Traichel: „Die Heftigkeit dieser Debatte liegt nach Hempelmann darin verortet, dass sie im Kern eine Stellvertreterdebatte um die Frage ist, welche Geltung die Bibel hat.“ (S. 11) „Es geht aus traditioneller oder konservativer Sicht schlussendlich um die Frage, wer am Ende definiert, was gut und böse ist; der Mensch und seine vorläufigen anthropologischen Überlegungen und Modelle, oder Gott und sein in der Bibel offenbartes Wort?“ (S. 22) Wenn es stimmt, dass hinter den sexualethischen Debatten letztlich die Bibelfrage steht, dann geht es hier tatsächlich ans Eingemachte. In meinem Buch „Zeit des Umbruchs“ hatte ich dargelegt, dass die Bibelfrage tatsächlich DAS Knackpunktthema ist, an dem sich zahlreiche Konflikte im evangelikalen Umfeld entzünden.

Der Zusammenhang zwischen sexualethischen Positionen und dem Bibelverständnis wird gegenwärtig aber oft eher kleingeredet. Behauptet wird, man könne die Bibel als höchste Autorität ernst nehmen und trotzdem praktizierte Homosexualität mit der Bibel für vereinbar halten. Deshalb widmet sich Johannes Traichel diesem Thema sehr intensiv. Der Bundessekretär des Bunds freier evangelischer Gemeinden Reinhard Spincke schreibt dazu: „Johannes schildert die aktuelle Diskussion im evangelikalen Raum sowohl von ihrer historischen Entwicklung als auch von den biblisch-theologischen Argumenten sehr gut.“ (S. 4) Und der katholische Publizist Bernhard Meuser attestiert gar: „Ich halte die Darlegung von Johannes Traichel für eine der theologisch gründlichsten und besten Arbeiten, die ich zum Thema kenne.“ (S. 5) Lothar Krauss vom LEITERBLOG ergänzt: „In über 500 Fußnoten erschließen sich dem Leser die reichhaltigen Quellen, auf denen seine Arbeit gründet.“ (S. 5) Tatsächlich waren die vielen Zitate von hochrangigen Experten auch für mich besonders wertvoll, weil sie hochinteressante Schlaglichter werfen sowohl auf die historische Situation als auch auf die tatsächliche Aussageabsicht der biblischen Autoren. Und sie machen deutlich, dass Traichel sich auch mit vielen Verfechtern der progressiven Position (z.B. Thorsten Dietz) gründlich auseinandergesetzt hat.

Auf dieser soliden Grundlage kommt Traichel zu einem (für Viele vielleicht überraschend) klaren Fazit: „Das Ergebnis der Untersuchung des Schriftbefundes und der ethischen Beurteilung ist, dass der biblische Schriftbefund praktizierte Homosexualität kennt und diese als Sünde deklariert.“ (S. 239) „Insgesamt bleibt einer christlichen Ethik, die an die Heilige Schrift gebunden ist, nichts anderes übrig, als daran festzuhalten, dass der Ort der ausgelebten Sexualität exklusiv in eine Ehe von Mann und Frau zu verorten ist und auch aus biblischer Sicht nirgend anders ihren Platz hat.“ (S. 198) „Revisionistische Versuche zu begründen, dass die biblischen Verfasser keine homosexuellen Beziehungen kannten und daher nicht auf solche bezogen werden können, scheitern sowohl an den außerbiblischen historischen Quellen als auch an der gründlichen Exegese der biblischen Texte.“ (S. 269)

Deutlich wird zudem, dass das Thema Sexualethik in der Bibel durchaus keine Nebensache ist: „Es ist zu beachten, dass die Ethik eng mit der Dogmatik verbunden ist und dass die Bibel eine Trennung von Leben und Lehre nicht kennt. … Ulrich Wilckens schreibt: »In allen Mahnungen zum christlichen Leben nimmt das sexuelle Verhalten den obersten Rang ein.«“ (S. 261) Deshalb folgert Traichel: „Kompromisse in der Sexualethik, die über den Rahmen der Bibel hinausgehen, sind schädlich für die Gemeinde. Hier ist es notwendig, dass auch Grenzen gezogen werden, wenn die Gemeinde geistlich gesund gedeihen soll.“ (S. 270/271)

Zugleich fordert Traichel auch die Konservativen sehr heraus. Er hält nicht weniger als eine neue Kultur im Umgang mit Singles und mit gleichgeschlechtlich empfindenden Menschen für geboten: „Evangelikale Gemeinden brauchen eine Kultur des offenen Umgangs mit ihren Sehnsüchten, Kämpfen und ihrem Scheitern. Gleichzeitig ist eine Kultur der Gnade und Barmherzigkeit zwingend, wenn wir Gemeinde im Sinne Jesu sein wollen. Unerlässlich ist eine Kultur der Vertrautheit und Freundschaft, um auch den zölibatären Lebensstil als eine gangbare Alternative zu leben.“ (S. 269) Mir wurde beim Lesen deutlich: Es gibt enorm viel zu tun und zu verändern, wenn uns ein liebevoller Umgang mit gleichgeschlechtlich empfindenden Menschen wirklich am Herzen liegt. Und das muss es uns unbedingt, denn: „Gott liebt homosexuell empfindende Menschen unendlich. Die Aufgaben der Christen ist es, homosexuell empfindende Menschen zu lieben, wie sich selbst! Hier darf es keine Abstriche geben. Die zweite Wahrheit lautet: Geschlechtsverkehr gehört nur in eine heterosexuelle Ehe. Jegliche Abweichung davon ist Sünde. Beide Wahrheiten gehören zusammen. Wenn eine der beiden Wahrheiten (scheinbar) zugunsten der anderen Wahrheit abgeschwächt wird, kommt eine geistliche Schieflage herein. Zu oft wurde die gesunde Spannung dieser Wahrheiten künstlich harmonisiert. Dies hat entweder zu einer Diskriminierung von homosexuell Empfindenden geführt oder zu einer libertinistischen Ethik, die sich über Gottes Rahmen hinwegsetzte und am Ende selbst definierte, was Gut und Böse ist. … Die eine Gefahr ist die Lieblosigkeit und Verachtung. … Die zweite Gefahr ist eine ethische Beliebigkeit, wenn die Liebe (oder was dafür ausgegeben wird) gegen die Wahrheit ausgespielt wird.“ (S. 272) Dieser ausgewogenen Sichtweise kann ich nur rundum zustimmen.

Besonders wertvoll wurde für mich Traichels Buch aber auch durch seine Darstellung der aktuellen Konflikte im evangelikalen Umfeld, die ja auch mich in den letzten Jahren sehr beschäftigt haben. Das nachfolgende etwas längere Zitat macht die Brisanz besonders deutlich:

„Das Thema Homosexualität polarisiert und spaltet bekanntlich. Dies muss allen Beteiligten mehr als deutlich sein. Gleichzeitig bauen viele Beteiligte eine emotionale Spannung auf, die einen sachgerechten Dialog kaum möglich macht. Hier werden unsachgemäße Vorwürfe geäußert, homosexuell empfindende Menschen seien in evangelikalen Gemeinden nicht willkommen. … Oder Vorwürfe, dass die traditionelle christliche Ethik grundsätzlich eine Diskriminierung darstelle, für Suizide verantwortlich ist und der Art Jesu widerspricht. Ob dies ein guter Stil ist, das dürfte eine andere Frage sein, die nicht allzu schwer zu beantworten sein sollte. … Während es, vermutlich ohne besondere Verwerfungen möglich sein dürfte, sich in bestehenden liberal geprägten Gemeindestrukturen, wie den evangelischen Landeskirchen, zu organisieren und LGBTQ-Gemeinden (die auch bereits vorhanden sind) zu gründen, erscheint es mir nun, dass hier der Weg des maximalen Konfliktes gewählt wird. So ist zu beobachten, dass auch in Denominationen, die traditionell eine konservative Ethik vertreten, eine gut vernetzte und teilweise auch recht offensiv auftretende Minderheit versucht, diesen Konsens zu kippen. Die Methodik ist hier zwar teilweise leicht zu durchschauen und simpel in der Art, aber dennoch erfolgreich. Hier wird meiner Beobachtung nach zuerst mit einem großen Selbstbewusstsein Toleranz und Akzeptanz für die liberale Position eingefordert, in dem Wissen, dass diese nicht mit dem Konsens der Denomination in Einklang zu bringen ist. Sie werben um Verständnis und beginnen die Gewissensfreiheit ins Feld zu führen. Die zweite Stufe ist dann, dass sie die neue Position auch offiziell zu Gehör bringen wollen. Wenn ein offizielles Papier der Denomination verabschiedet wird, das ganz selbstverständlich die bisherige Sicht darlegt, legen sie zuerst leichten und dann immer deutlicheren Protest ein und erheben die Forderung, dass auch die neue liberale/progressive Position zumindest positiv als Alternative und anschlussfähige Sichtweise genannt wird. Eine Phase, die immer danach mehr zu beobachten ist, ist die scharfe Verurteilung der traditionellen Position, indem sie diese mit emotional aufgeladenen Vorurteilen verleumden. So wird regelmäßig in sozialen Medien oder in Veranstaltungsforen die traditionelle Form als unerträglich, als diskriminierend, als schädlich und als menschenverachtend beschrieben. Eine Sichtweise, die heute nicht mehr vertretbar sei, wenn man gesellschaftsrelevante Gemeinde bauen, missional aktiv sein möchte und den Menschen keine Hindernisse zum Glauben aufbauen will. Auf diese Art und Weise wird ein Weg eingeschlagen, der meines Erachtens die Spaltung von Gemeinden und Denominationen billigend in Kauf nimmt, wenn nicht gar aktiv befeuert.“ (S. 241 – 243)

Ich kann diese Warnung aus meinen Beobachtungen heraus nur voll und ganz unterstreichen. In meiner evangelischen Kirche sind wir längst soweit, dass die traditionelle Position aus den Machtpositionen der meisten Gremien und Ausbildungsstätten weitestgehend hinausgedrängt wurde. Es ist also ein großer Irrtum, zu glauben, dass man ein friedvolles Miteinander erreicht, indem man diese Fragestellung einfach zur Randfrage erklärt, die jede Gemeinde frei entscheiden kann. Im Gegenteil: Wenn ein Gemeindebund sich zu dieser Frage nicht positionieren will, dann wird der Konflikt nicht gelöst sondern nur von der obersten Leitungsebene auf die Ebene der lokalen Gemeinden verschoben – und damit um ein vielfaches multipliziert.

Zudem teile ich mit Traichel „die brennende Sorge, dass Gemeinden, die hier liberal (sie würden es progressiv nennen) werden, großen geistlichen Schaden erleiden werden, weil Gott sich aus diesen Gemeinden, aufgrund einer deutlichen Opposition gegen sein Wort (siehe auch Jes 5,20), zurückziehen könnte und sie dann dem geistlichen Untergang dahingegeben werden. … Beispiele von Gemeinden, die den liberalen Weg eingeschlagen sind und geistlich untergingen, gibt es leider genug.“ (S. 262) Wie wahr! Deshalb hoffe ich gerade um der Einheit und der missionarischen Dynamik willen, dass gerade auch Leitungspersonen im evangelikalen Umfeld dieses Buch studieren.

Auch sonst lege ich die Lektüre jedem Jesusnachfolger sehr ans Herz. Die biblische Tugend, dass neue Lehren anhand der Schrift geprüft werden müssen (Apg. 17, 11), scheint heute etwas aus der Mode gekommen zu sein. Trotzdem brauchen wir sie in unserer vielstimmigen Zeit mehr denn je. Johannes Traichel macht vor, wie das geht: Sachlich, differenziert und doch leidenschaftlich und mit einem klaren Ziel, das ich zu 100% teile: „Ich wünsche mir und bete für eine Rückbesinnung und neue Konzentration auf die Werte, die in der Kirchengeschichte die Erfolgsgeschichte der evangelikalen Bewegung begründet haben: Den persönlichen Glauben und die begeisterte Nachfolge von Christus, das Vertrauen, dass sein Wort, die Bibel, Wahrheit ist und unser Leben bestimmt und den Heißhunger nach diesem lebendigen Wort Gottes. Das Gebet um Erweckung und Erneuerung. Die brennende Liebe zur Welt, mit dem Hunger nach Gerechtigkeit und Erlösung für alle Menschen.“ (S. 274)

Das Buch “Evangelikale und Homosexualität” von Johannes Traichel ist hier erhältlich.

Anhang: Einige der Zitate, die ich mir in diesem Buch angestrichen habe:

„Es kann durchaus gesagt werden, dass die Trennung von Gottes Wort und Heiliger Schrift sowie die Trennung von Geschichte und Glauben Grundwurzeln der Krise des Bibelverständnisses darlegt.“ (S. 25)

Zitat N.T. Wright: „There is a popular belief just now that the ancients didn’t know about lifelong same-sex relationships, but this is easily refuted by the evidence both literary and archaeological.” (S. 82)

Zitat Armin Baum.: „Obwohl es in der Antike noch nicht unser modernes Wort „homosexuell“ gab, kannte man sowohl gleichgeschlechtliche Handlungen als auch gleichgeschlechtliche Neigungen.” (S. 82)

Zitat Joel White: „„Die Ansicht, dass Menschen in der Antike nichts von einer homosexuellen Orientierung wussten, wird immer wieder in die Diskussion eingebracht, seitdem John Boswell 1980 diese These erörterte. Sie ist nachweislich falsch. Viele antike Autoren nehmen wahr, dass manche Menschen grundsätzlich homoerotisch veranlagt sind, und es fehlt nicht an Diskussionen über die Ursachen hierfür.“ (S. 84)

Zitat Stefan Scholz (WiBiLex): „Ganz selbstverständlich galt dem Frühjudentum gleichgeschlechtliches Verhalten als Sünde der Heiden.“ (S. 84)

„Die jüdische und später die christliche Sexualethik stand in einem starken Kontrast zur griechisch-römischen Welt.“ (S. 85) … Zitat N.T. Wright: „Throughout the early centuries of Christianity, when every kind of sexual behaviour ever known to the human race was widely practised throughout ancient Greek and Roman society, the Christians, like the Jews, insisted that sexual activity was to be restricted to the marriage of a man and a woman. The rest of the world, then as now, thought they were mad. The difference, alas, is that today half the church seems to think so too.“ (S. 85)

Zitat Carsten Schmelzer (der eine liberale Position in der Frage der Homosexualität vertritt): „Einige Bibelstellen sind aus unserer modernen Sicht genauso „homophob“, wie sie klingen. Sie umzudeuten bedeutet, der Schrift Gewalt anzutun, indem man sie unter einen modernen Blickwinkel stellt.“ (S. 120)

„Die These, dass Paulus zu einem anderen Urteil kommen würde, wenn er einvernehmliche und lebenslange Beziehungen von Erwachsenen kennen würde (ob er solche kannte oder nicht bleibt am Ende unbekannt, es ist allerdings nicht unwahrscheinlich), ist dagegen nicht nur äußerst spekulativ, sondern mit großer Sicherheit falsch.“  (S. 111)

Der Begriff „»porneia« … schloss sämtlichen Geschlechtsverkehr außerhalb einer Ehe von Mann und Frau ein. … In seinen Äußerungen über sexuelle Unmoral benennt Jesus Homosexualität nicht direkt, aber er schließt sie mit ein.“ (S. 114/115)

„Gerrit Hohage folgert aus den Aussagen von Jesus im Zusammenhang mit der Schöpfungserzählung sechs Kennzeichen einer christlichen Ehe: »1. Es handelt sich um eine exklusive Zweierbeziehung. 2. Die Zweierbeziehung ist gegengeschlechtlich, auf Fortpflanzung angelegt. 3. Sie hat einen offiziellen Charakter (erkennbar am sichtbaren „Verlassen“ des Elternhauses), soll also keine geheime Verbindung sein. 4. Sie ist der legitime Ort sexueller Begegnung. 5. Sie wird auf Lebenszeit geschlossen und soll nicht vom Menschen geschieden werden. 6. Sie ist geschützt und soll nicht gebrochen werden (Bezugnahme auf das 6. Gebot). Ehebruch des Partners ist denn auch der einzige Grund, der die Fortsetzung der Partnerschaft in Frage stellt.«“ (S. 117)

„Die Sichtweise, dass Christus mit dem Prinzip der Liebe Einzelgebote außer Kraft setzte, ist ein populärer Irrtum, der theologisch nachweislich völlig falsch ist. … Der Christus, den die Bibel bezeugt, stellt nicht die Liebe gegen die Gebote, sondern er erklärt mit der Liebe die Gebote und ihr Verständnis. Eine Trennung der Gebote von dem Doppelgebot der Liebe … führt am Ende dazu, dass der Liebesbegriff zu einer offenbarungsfremden Leerformel wird.“ (S. 136/137)

„Zur Beurteilung der außerehelichen Sexualität sei festgestellt, dass in der Bibel die Verortung des Geschlechtsverkehrs in der Ehe zwingend war, was im alten Israel als selbstverständlich galt, insbesondere, wenn man den Schriftbefund mit Aussagen zur damaligen Zeit vergleicht. … So zitiert Baltes den Philosophen Philo (Joseph, 43): »Bei den anderen Völkern ist es für Jugendliche ab vierzehn Jahren üblich, dass sie zu Prostituierten gehen oder mit Frauen schlafen, mit denen sie nicht verheiratet sind. … Aber bei uns ist es anders: Bevor wir gesetzlich verheiratet sind, wissen wir nichts von irgendwelchen anderen Frauen, sondern wir kommen als unerfahrene Bräutigame und unerfahrene Bräute zusammen.«“ (S. 150/151)

Zitat Guido Baltes: „Auch für Jesus und Paulus war die Frage der Gestaltung von Sexualität übrigens keine Nebensache, auch wenn es manchmal so zu lesen ist. […] Wer sich stattdessen die Mühe macht, die jüdische Welt von Jesus und Paulus besser kennenzulernen, der entdeckt, dass sich beide in diesen Fragen einig waren mit den meisten ihrer jüdischen Zeitgenossen. Und dass sie deshalb nicht viel dazu sagen mussten. Ein Thema, über das man nicht viel reden muss, ist entweder eine Nebensache oder eine Selbstverständlichkeit. In dieser Frage gilt aber mit Sicherheit das Zweite: Das wird dort deutlich, wo Jesus und Paulus die wichtigsten Grundregeln eines gottgemäßen Lebensstils in kurzen Listen zusammenfassen. In solchen Aufzählungen nennen sie stets das griechische Wort porneia (hebr. zenuth). Dieses Wort schließt nach jüdischem Verständnis alle sexuellen Beziehungen außerhalb der Ehe ein. Mehr Worte musste man deshalb in der jüdischen Welt gar nicht verschwenden, um eindeutig Position zu beziehen.“ (S. 151)

„Es gibt nichts daran zu rütteln. Wir Christen und Evangelikale sind schuldig an homosexuell Empfindenden geworden. Wir wurden schuldig durch unseren lieblosen und verachtenden Umgang mit ihnen; wir wurden schuldig, in dem wir sie ausgegrenzt und diskriminiert haben; wir wurden schuldig, indem wir keinen Raum in unserer Gemeinde für sie hatten; wir wurden schuldig, indem wir ihnen die liebevoll annehmende seelsorgerliche Begleitung nicht gaben.“ (S.167)

Zitat Richard B. Hays: „Während Paulus das Zölibat als ein Charisma ansah, nahm er deswegen nicht an, dass diejenigen, denen dieses Charisma fehlte, frei waren, ihre sexuellen Begierden außerhalb der Ehe zu genießen. Heterosexuell orientierte Personen werden ebenfalls zur Abstinenz vom Sex gerufen, wenn sie nicht verheiratet sind (1.Kor.7,8-9). Der einzige Unterschied – zugegeben ein auffälliger – im Falle von homosexuell orientierten Personen besteht darin, dass sie nicht die Option einer homosexuellen »Ehe« haben. Wo stehen sie damit? Sie stehen damit in genau derselben Position wie ein Heterosexueller, der heiraten möchte, aber nicht den passenden Partner finden kann (und es gibt viele in dieser Lage): Sie sind zu einem schwierigen, kostspieligen Gehorsam gerufen, während sie »seufzen nach der Erlösung unseres Körpers« (Römer 8,23). Wer dies nicht als eine Beschreibung der authentischen christlichen Existenz erkennt, hat niemals ernsthaft mit den Imperativen des Evangeliums gerungen, die unsere »natürlichen« Impulse auf zahllosen Wegen herausfordern und frustrieren. Ein Großteil der zeitgenössischen Debatte dreht sich um diesen letzten Punkt. Viele der Verteidiger einer unqualifizierten Akzeptanz der Homosexualität scheinen mit einer simplizistischen Anthropologie zu operieren, die annimmt, dass alles gut sein muss, was ist: Sie haben eine Theologie der Schöpfung, aber keine Theologie der Sünde und Erlösung.“ (S. 176/177)

„So ist ohne das Evangelium die ethische Forderung gesetzlich und unbarmherzig. Aber ohne ethische Forderung wird das Evangelium harmlos gemacht und Gottes Heiligkeit missachtet.“ (S. 226)

„So wird eine Gemeinde vor Gott schuldig, wenn sie es duldet, dass in ihrer Mitte Lehren verbreitet werden, die Menschen zu sexuellen Sünden führen. Vielmehr müssen sie dem entgegentreten. Wenn sexuelle Sünden zu einer Frage der persönlichen Meinung werden, über die man in der Gemeinde unterschiedlich denken kann, dann wird Christus dies der Gemeinde als Sünde vorhalten. Leiter von Gemeinden haben hier als Hirten ihre Gemeinden und Mitglieder vor Irrwegen zu schützen. Hier wären manche „Formen von Toleranz […] Sünde“. (S. 248)

„Eine jede Gemeinde und jede Denomination hat im Idealfall Grenzen und auch eine gemeinsame Mitte. Weder das Ziel einer Mitte noch die Ziehung von Grenzen dürften grundsätzlich abgelehnt werden, wenn keine pluralistische Beliebigkeit erfolgen soll, in der jegliche geistliche Einheit verschwimmt. … Die evangelikalen Gemeinden der Zukunft werden beide Elemente aufweisen, oder sie hören auf, evangelikal zu sein.“ (S. 249)

„Evangelikale sollen gute Zuhörer und freundliche Redner sein. Sie sollen gut und präzise, deutlich und verständlich darlegen, was die eigenen Positionen sind, und diese in einer wertschätzenden Freundlichkeit vortragen. Unvereinbare Positionen bedeuten keine Feindschaft. Gegensätzliche Handhabungen bedeuten nicht, dass es keine Gespräche und keinen Dialog geben kann oder geben sollte. … Kompromisse in der Lehre sollten allerdings in dieser Frage nicht eingegangen werden. Es braucht das klare eigene Profil und den freundlichen Dialog mit den Andersdenkenden.“ (S. 264)

„Die Kirche der Zukunft wird theologisch konservativ und in ihren Formen vielfältig und kreativ sein, oder sie wird gar nicht sein.“ (S. 264)

„Die Kirche der Zukunft wird eine ethische Kontrastgesellschaft sein, die sich aus dem Wort Gottes her definiert und sich auf Gottes Weisungen ausrichtet, auch wenn sie damit im Widerspruch zum Zeitgeist steht. Die frühe Kirche ist diesen Weg gegangen. Die Geschichte der frühen Christen war auch deshalb eine Erfolgsgeschichte, weil sie die biblische Ethik im Kontrast zur Umwelt lebten.“ (S. 265)

„Dass die Kirche im ganzen eine alternative Art von Gesellschaft sein müßte, ist den Christen Westeuropas nicht mehr bewußt oder gelangt gerade erst in den letzten Jahren langsam wieder in ihr Bewußtsein. Die Kirche der Zukunft wird sich im Bewusstsein halten müssen, dass gerade in der Ethik eine Anpassung an den Zeitgeist geistlich vernichtend ist. Die Kirche der Zukunft lässt sich dagegen nicht davon beirren, wenn ihre ethischen Positionen und Lebensweisen denen der Gesellschaft widersprechen oder von ihr als antiquiert wahrgenommen wird. Die Kirche der Zukunft wird der heranwachsenden Generation die christliche Ethik verständlich und einleuchtend vermitteln und sie ausrüsten, auch im gesellschaftlichen Druck den Weg der Christusnachfolge zu gehen. Die Kirche der Zukunft braucht daher auch lehrmäßige und geistliche tiefe Wurzeln. Sie hat ein Vertrauen in das offenbarte Wort Gottes, die Bibel. So kann gesagt werden: »Für die Zukunft der Gemeinde ist es entscheidend, dass wir von der Zuverlässigkeit der Schrift, von ihrem geistlichen Wert für unser Leben und auch von ihrer intellektuellen Kraft zutiefst überzeugt sind.« (Reinhard Spincke)“ (S. 266/267)

Zitat David Bennett: „Die Lüge, die wir uns einreden, lautet, wir könnten für Gemeindewachstum sorgen, indem wir Abstriche bei der Heiligung machen. Das ist falsch. Was dagegen in der Welt anziehend wirken wird, ist, wenn wir diejenigen willkommen heißen und stärken, die sexuell treu und gehorsam sind, als Zeugen gegenüber unserer Kultur. Ohne Heiligung kann die Welt Jesus Christus in uns nicht erkennen; und ohne Liebe wird die Welt sich gegen die Wahrheit dieser Heiligung sträuben.“ (S. 267)

„Evangelikale Gemeinden brauchen eine Kultur des offenen Umgangs mit ihren Sehnsüchten, Kämpfen und ihrem Scheitern. Gleichzeitig ist eine Kultur der Gnade und Barmherzigkeit zwingend, wenn wir Gemeinde im Sinne Jesu sein wollen. Unerlässlich ist eine Kultur der Vertrautheit und Freundschaft, um auch den zölibatären Lebensstil als eine gangbare Alternative zu leben.“ (S. 269)

„Evangelikal geprägte Gemeinden brauchen auch eine gut durchdachte Lehre zum Leben als Single und für den zölibatären Lebensstil. Es braucht Formen der Unterstützung für diejenigen, die sexuell enthaltsam leben, damit sie nicht unter der Einsamkeit leiden. Evangelikal geprägte Gemeinden brauchen aber auch eine profilierte biblische Ethik, was die Sexualität betrifft. Es wird eine Ethik sein, die Sexualität in der heterosexuellen Ehe würdigt und feiert, aber ihren Ort nur in dieser Form sieht. Ein klares Profil in diesen Fragen bedeutet auch eine lehrmäßige Abgrenzung.“ (S. 273)

 

 

 

 

6 Gründe, warum ich (gerade auch als Christ) niemals gendern werde

„Geschlechtergerechte Sprache bezeichnet einen Sprachgebrauch, der in Bezug auf Personenbezeichnungen die Gleichbehandlung von Frauen und Männern und darüber hinaus aller Geschlechter zum Ziel hat und die Gleichstellung der Geschlechter in gesprochener und geschriebener Sprache zum Ausdruck bringen will.“

So beschreibt „Wikipedia“ das Anliegen der sogenannten „Gendersprache“. Gerechtigkeit und Gleichberechtigung liegt auch Christen sehr am Herzen. Kein Wunder also, dass auch im christlichen Umfeld immer häufiger gegendert wird. Hier kommen 6 Gründe, warum ich gerade auch als Christ trotzdem niemals gendern werde:

1. Die Gendersprache befördert selbst das Problem, das sie lösen will

Die Behauptung, dass die deutsche Grammatik ungerecht und diskriminierend sei, ist mindestens fragwürdig. Denn das grammatische Geschlecht („Genus“) hat in der deutschen Sprache ja zuallermeist rein gar nichts mit dem biologischen Geschlecht („Sexus“) zu tun. Das gilt nicht nur für Gegenstände (“der Löffel”, “die Gabel”, “das Messer”) sondern auch für viele Personenbezeichnungen. Kein Mensch denkt bei femininen Begriffen wie „die Person“, „die Wache“, „die Geisel“ oder „die Koryphäe“ nur an Frauen.

Begriffe wie „Leiter“, „Lehrer“ oder „Arzt“, bei denen es zusätzlich eine spezifisch weibliche Form gibt („Leiterin“, „Lehrerin“, „Ärztin“) sind in der deutschen Sprache doppeldeutig. Sie können entweder geschlechtsneutral („generisch“) gemeint sein oder spezifisch männlich. „Der Leiter“ kann also ebenso wie „die Leitung“ gleichermaßen eine Frau wie einen Mann meinen. Wie wir diese doppeldeutigen Begriffe verstehen, hängt vom Kontext und auch von unserer Erfahrung ab. Da jeder von uns schon mit vielen Lehrerinnen und Ärztinnen zu tun hatte, denken wir intuitiv an Männer und Frauen gleichermaßen, wenn von einer „Gruppe von Lehrern und Ärzten“ die Rede ist. Wir gehen in diesem Fall also intuitiv vom „generischen Maskulinum“ aus, das mit dem biologischen Geschlecht nichts zu tun hat.

Ein Problem entsteht erst dann, wenn man in solchen Fällen das grammatische Geschlecht grundsätzlich mit dem biologischen Geschlecht verknüpft. Dann kann man zu der Meinung gelangen: Das generische Maskulinum sei diskriminierend, weil es männlich geprägt sei. Frauen würden bestenfalls mitgemeint, in der Aussprache aber unterschlagen. Das könne überkommene Rollenbilder verfestigen. Wer auf der Basis solcher Argumente meint, man müsse doch besser von einer „Gruppe von Lehrerinnen und Lehrern und Ärztinnen und Ärzten“ sprechen, erzeugt nicht nur einen sperrigen Bandwurmsatz, sondern auch ein Problem, das in anderen Sprachen ganz bewusst vermieden wird. Die Schriftstellerin Nele Pollatschek schreibt dazu:

„Das Wort Prime Minister bezeichnet de facto für den Großteil der englischen Geschichte einen Mann, einfach schon deshalb, weil Frauen weder wählen noch gewählt werden durften. Die englische Lösung für dieses Problem ist es nicht, eine weibliche Form einzuführen, obwohl Prime Ministress durchaus ginge, sondern eine Frau zu wählen. Spätestens ab 1979, als Margaret Thatcher Premier wurde, wurde das Wort Prime Minister de facto generisch (d.h. geschlechterunabhängig) und wird mit jedem weiblichen PM immer generischer.“[1]

Die englische Sprachentwicklung geht also genau den umgekehrten Weg wie die Gendersprache: Die historisch bedingte männliche Prägung des Begriffs wird durch die praktische Lebenserfahrung aufgelöst, statt sie zu verfestigen, indem man zusätzlich explizit weibliche Begriffe bildet. In der DDR gab es ähnliche Entwicklungen. Leitend ist dabei das Prinzip: Nichts ist so inklusiv und gerecht wie die Verwendung von Begriffen, die über das biologische Geschlecht gar nichts aussagen und somit grundsätzlich immer alle Menschen gleichermaßen meinen. Wer aber das grammatische Geschlecht grundsätzlich mit dem biologischen Geschlecht verknüpft, sexualisiert die Sprache und macht sie zum Schlachtfeld. Erst dann müssen Menschen verschiedenen Geschlechts in der Sprache um Gleichberechtigung kämpfen und Andere bedrängen, ihr angeblich diskriminierendes Sprachverhalten zu ändern. Gendern will also ein Problem lösen, das es durch die Verknüpfung von Genus und Sexus selbst erzeugt und befördert.

Ob das generische Maskulinum wirklich zur Festigung von Geschlechterrollen beiträgt, ist unter Experten übrigens hoch umstritten.[2] Fakt ist: Auch in Deutschland hat die jahrzehntelange Dauerberieselung mit dem Satz „Fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker“ nicht verhindert, dass es in beiden Berufen heute einen hohen Frauenanteil gibt.

2. Gendersprache polarisiert die Gesellschaft

Die Gendersprache führt zu Lagerbildung: Während sich die einen ausgegrenzt, benachteiligt und „nicht mitgemeint“ fühlen, empfinden Andere die Gendersprache als elitäres, moralistisch aufgeladenes Umerziehungsprogramm. Während sich die einen als Vorkämpfer für eine bessere Gesellschaft fühlen (und Andersdenkende bekämpfen), sagen Andere: „Einen Text mit Gendersternchen lese ich nicht.“[3] Gendersprache zerstört also den sachlichen Diskurs, weil sie emotional aufgeladene Zustimmung oder Ablehnung erzeugt, noch bevor das erste Argument ausgetauscht wurde. Damit fördert sie die Blasenbildung und Polarisierung der Gesellschaft.

3. Gendersprache wird von einer wachsenden Mehrheit abgelehnt

Umfragen zeigen: Tatsächlich lehnt eine wachsende Mehrheit der Bevölkerung die Gendersprache ab. Im Jahr 2021 hat die Ablehnung der “Gendersprache” im Vergleich zu 2020 um 9% zugenommen, bei Jugendlichen sogar um 11%. Nur noch 26% der Bevölkerung waren 2021 “eher” oder “voll und ganz” dafür.[4] Es handelt sich hier also nicht um eine natürlich wachsende neue Sprachkultur, wie manchmal behauptet wird. Gendersprache ist vielmehr ein künstliches Sprachkonzept, das ein spezielles Milieu gegen den Willen der Mehrheit durchsetzen möchte. Natürlich sind Mehrheiten kein Argument für oder gegen die Gendersprache. Deutlich wird aber auch: Wer so wie Luther den Menschen „aufs Maul schauen“ möchte, um ihnen den Zugang zum Evangelium zu erleichtern, der sollte von der Gendersprache Abstand nehmen.

4. Gendersprache funktioniert nicht

Die wachsende Ablehnung der Gendersprache liegt auch darin begründet, dass sie in der Praxis schlicht nicht funktioniert, wenn man sie konsequent umsetzen will. Kein Mensch wird je von Bürger*innenmeister*innenkandidat*innen sprechen. Auch die immer häufiger anzutreffenden Partizipien („Studierende“) sind keine Lösung. Das liegt zum einen daran, dass die Partizipienbildung den Sinn verändert: Während der Satz „Der Autofahrer öffnet die Tür“ nicht weiter aufregend klingt, beschreibt der Satz „Der Autofahrende öffnet die Tür“ ein ziemlich dramatisches Geschehen. Auch ein „Leitender“ oder „Mitarbeitender“ ist nicht einfach sinnidentisch mit einem Leiter oder Mitarbeiter. Dazu kommt: Die Partizipienbildung ist immer dann gar nicht möglich, wenn sich die Bezeichnung von einem Substantiv ableitet (Autor, Abiturient, Influencer…). Und wollen wir ernsthaft in Zukunft von Klempnernden und Metzgernden sprechen?

5. Gendersprache erschwert die Kommunikation und grenzt Menschen aus

Kein Wunder, dass angesichts solcher Probleme bislang keine allgemeingültige Regeln für das “Gendern” entwickelt werden konnten. Vielmehr kursieren die unterschiedlichsten Vorschläge, wie die Gendersprache konkret ausgestaltet werden soll. Wenn offizielle Institutionen trotzdem die Gendersprache einführen, dann unterwandert das zwangsläufig die moderne Errungenschaft einer allgemeinverbindlichen Grammatik und damit auch einer gemeinsamen, verbindenden Sprache. Glauben wir wirklich, dass es unserem Bildungswesen nicht schadet, wenn sich selbst Schulbücher, Lehrer und Dozenten nicht mehr an grammatische Regeln halten und wenn wir Schüler mit solchen Aufgabenstellungen konfrontieren?

„Arbeitet nun zu zweit. Lest den rechts stehenden Text (S.7) folgendermaßen: Eine/r ist Zuhörer/in, der /die andere ist Vorleser/in. Eine/r liest den Abschnitt vor, der/die Zuhörer/in fasst das Gehörte zusammen. Der/die Vorleser/in muss angeben, ob die Zusammenfassung richtig war.“[5]

Und werden nicht noch mehr Bürger den Bezug zu Bürokratie, Behörden und Politik verlieren, wenn dort eine solche Sprache eingeführt wird?

 „1) Zur Vorbereitung ihrer Beratungen können die Fraktionen im Rahmen ihrer Aufgaben von der*vom Bürgermeister*in Auskünfte über die von dieser*diesem oder in ihrem*seinem Auftrag gespeicherten Daten verlangen, soweit der Datenübermittlung nicht Rechtsvorschriften, insbesondere Bestimmungen über den Datenschutz, entgegenstehen. 2) Das Auskunftsersuchen ist durch die*den Fraktionsvorsitzende*n schriftlich unter wörtlicher Wiedergabe des Fraktionsbeschlusses an die*den Bürgermeisterin*Bürgermeister zu richten.“[6]

Gendersprache ist eben gerade nicht inklusiv, im Gegenteil: Sie macht unsere Sprache noch sehr viel komplizierter und uneinheitlicher. Sie beschädigt deshalb die Kommunikation und grenzt vor allem all jene aus, für die die deutsche Sprache ohnehin schwer zu lernen und zu beherrschen ist.

6. Die Gendersprache ist auch ein Vehikel für fragwürdige Ideologie

Das größte Problem an der Gendersprache ist jedoch, dass es bei diesem Thema eben nicht nur um Sprache und Gleichberechtigung geht. So heißt es in einem aktuellen Aufruf, der von mehr als 200 Sprach- oder Literaturwissenschaftlern unterzeichnet wurde:

„Das Bemühen um Geschlechtergerechtigkeit auch im Sprachgebrauch ist ebenso legitim wie begrüßenswert und kann nicht pauschal als “ideologisch” qualifiziert werden. Dennoch haben ideologische Strömungen im Feminismus und auch die Identitätspolitik ganz maßgeblich die Entwicklung der Gendersprache geprägt und dominieren die auch mit moralischen Argumenten geführten Debatten heute noch.“[7]

Sichtbar werden solche ideologische Einflüsse besonders dort, wo Fakten einseitig interpretiert, geleugnet oder sogar aggressiv bekämpft werden. Ein besorgniserregender Fall von „Cancel Culture“ wurde jüngst wieder sichtbar, als ein Basisvortrag zur biologischen Zweigeschlechtlichkeit an der Berliner Humboldt-Universität wegen Protestaufrufen abgesagt wurde. Dabei ist die Zweigeschlechtlichkeit in der Biologie eine simple Tatsache, an der auch verschiedene genetische oder hormonelle Störungen nichts ändern. „Ein weiteres biologisches Geschlecht, welches für die Fortpflanzung der Lebewesen eine Rolle spielt, ist bis heute nirgends beschrieben worden“, sagt der Biologie Siegfried Scherer zurecht.[8] Was für Biologen eine Selbstverständlichkeit ist, wird von nicht wenigen Genderaktivisten heute als pure Menschenfeindlichkeit dargestellt. Mit einer derart aggressiven und diskursfeindlichen Ideologie kann und will ich mich gerade auch als Christ nicht gemein machen – auch aus biblischen Gründen. Schließlich bestätigt die biologische Forschung bis heute, was die Bibel bereits in ihrem ersten Kapitel lehrt:

„Gott schuf den Menschen nach seinem Bild. Als Gottes Ebenbild schuf er ihn, als Mann und Frau schuf er sie.“ (1. Mose 1, 27)

Folgerichtig bekennt die deutsche evangelische Allianz in ihrer Glaubensbasis:

„Der Mensch besitzt als Ebenbild Gottes eine unverwechselbare Würde. Er ist als Mann und Frau geschaffen.“

Ich meine: Daran sollten wir Christen gemeinsam festhalten. Die Verwendung von Gendersternchen, Doppelpunkten, Schrägtrichen, Unterstrichen oder anderen „mehrgeschlechtlichen Schreibweisen“ passt dazu nicht. Es gibt wesentlich bessere Wege, um unsere Liebe und unseren Respekt für alle vielfältigen Menschen auszudrücken und sie allesamt in unseren Gemeinschaften herzlich willkommen zu heißen.

Tipp: Sehr kurzweilig, fundiert und empfehlenswert zu diesem Thema ist das Video „Warum Gendersprache scheitern wird“ von der YouTuberin Alicia Joe, das inzwischen mehr als 1,6 Millionen mal angeklickt wurde:

[1] Dr. Nele Pollatschek: „Gendern macht die Diskriminierung nur noch schlimmer“, Tagesspiegel, 30.08.2022: https://www.tagesspiegel.de/kultur/deutschland-ist-besessen-von-genitalien-gendern-macht-die-diskriminierung-nur-noch-schlimmer/26140402.html

[2] So schreibt Philipp Hübl: “Die Studien haben fast alle einen Haken. Sie schliessen von einem Einfluss im besonderen Fall, also der gegenderten Form, auf einen vergleichbaren Einfluss im Standardfall, dem generischen Maskulinum. Das ist aber nur dann gerechtfertigt, wenn man andere Einflussfaktoren ausschliessen kann. Und der stärkste ist unser sozial erlerntes Rollenbild, das wir ganz unabhängig von der Sprache an die Welt herantragen. … Wäre das generische Maskulinum für die Rollenverteilung zwischen Mann und Frau verantwortlich, müsste die Ungleichheit zwischen Mann und Frau in Genus-Sprachen wie dem Deutschen oder dem Französischen stärker ausfallen als in Sexus-Sprachen wie dem Englischen. Auch das scheint nicht der Fall zu sein.” In: “Steht die Gleichberechtigung in den Sternen”, NZZ 31.03.2018, www.nzz.ch/feuilleton/der-erfolg-des-steht-in-den-sternen-gendergerechte-sprache-ld.1369855

[3] Harald Schmidt in der SWR-Sendung Nachtcafe https://twitter.com/hawaiitoast_/status/1416667997725470721?lang=de

[4] Umfrageergebnis von infratest dimap: https://www.infratest-dimap.de/umfragen-analysen/bundesweit/umfragen/aktuell/weiter-vorbehalte-gegen-gendergerechte-sprache/

[5] In: „Treffpunkt Deutsch 3“, OEBV-Verlag S. 6, zitiert in „Gendern in Schulbüchern“, online unter https://vds-ev.de/wp-content/uploads/2017/02/deutschinsgg_gendern.pdf

[6] Aus der Geschäftsordnung des Rates der Stadt Neuss: https://www.neuss.de/rathaus/ortsrecht/pdf/30-02-geschaeftsordnung.pdf

[7] „Aufruf: Wissenschaftler kritisieren die Genderpraxis des öffentlich rechtlichen Rundfunks“ vom Juli 2022: www.linguistik-vs-gendern.de/

[8] Prof. Siegfried Scherer in: „Biologe Scherer: „Fortpflanzungsbiologen unterscheiden zwei Geschlechter – und zwar genau zwei“, 2.8.2022, PRO Medienmagazin www.pro-medienmagazin.de/biologie-scherer-wie-viele-geschlechter-gibt-es/

Zu den Booten!

Kennst Du den Film Titanic? Der Film beschreibt eine bizarre Situation. Nach der Kollision des Schiffs mit dem Eisberg steht fest: Das Wasser ist nicht aufzuhalten. Das Schiff wird untergehen. Aber während unten im Schiff das Wasser von einer Kammer in die nächste läuft, wird oben auf Deck gefeiert, gelacht und getrunken. Und selbst, als sich herumspricht, dass es ein ernstes Problem gibt, wird die furchtbare Wahrheit noch lange verdrängt. Die Katastrophe führt auch nicht dazu, dass die gespaltene Gesellschaft auf dem Schiff zusammenrückt und eine Notgemeinschaft bildet, im Gegenteil: Die Katastrophe bringt den Egoismus der Menschen erst recht ans Tageslicht. Während die einen in halbleeren Rettungsbooten sitzen, werden die anderen in den untergehenden Decks eingesperrt.

Warum schreibe ich das?

Ich glaube, dass Wasser ins Schiff unserer Gesellschaft läuft. Und es ist Zeit, die Rettungsweste anzulegen und die Boote bereit zu machen.

Es sind nicht so sehr die handfesten Katastrophen, die mich zu dieser sorgenvollen Annahme bewegen. Inflation, Krieg, Energiekrise, Klima, Pandemie… eine gesunde, vitale Gesellschaft könnte das alles bewältigen. Nach dem Krieg hatte unser Land deutlich schlechtere Startbedingungen als heute. Aber statt dem Untergang kam das Wirtschaftswunder.

Viel größere Sorge bereiten mir die weniger offensichtlichen Katastrophen. Ich denke dabei in erster Linie an den wegbrechenden gesellschaftlichen Zusammenhalt. Das beginnt in den Familien. Das biblische Ideal einer lebenslangen Partnerschaft von Mann und Frau, die einen Schutzraum für das gesunde Aufwachsen von Kindern bietet, wird zunehmend ersetzt durch eine Ideologie der “sexuellen Vielfalt”, die solche Schutzräume nicht bieten kann. Stattdessen werden die Kinder immer früher und länger in staatliche Einrichtungen abgeschoben (wenn sie nicht vorher abgetrieben werden). Die Zahl der Singlehaushalte nimmt beständig zu. Zugleich nimmt die Bereitschaft zum respektvollen Dialog und zur echten Toleranz beständig ab. In den letzten Tagen musste ich immer wieder denken: Eine Gesellschaft, die nicht einmal mehr vernünftig und sachlich über die simple Frage diskutieren kann, wie viele Geschlechter es gibt, kann keinen Gemeinsinn und keinen Zusammenhalt mehr entwickeln. Auch dann nicht, wenn sie unter Druck gerät. In der frühen Phase der Corona-Pandemie sah es zwar noch so aus, als ob man die Krise gemeinsam meistern möchte. Inzwischen hat gerade die Pandemie die Spaltung der Gesellschaft weiter vorangetrieben.

Es wird ungemütlich

Ich sehe so viel von Jesaja’s Gerichtsankündigung auch in unserem Land Realität werden:

„Gott spricht: »Ich mache Jugendliche zu ihren Beamten, und Halbstarke werden über sie herrschen. Im Volk kämpft jeder gegen jeden. Einer geht auf den anderen los: der Junge auf den Alten, der Verachtete auf den Angesehenen.“ (Jesaja 3, 4-5)

Ohne Frage wird der Ton rauer und die Stimmung aggressiver – auch gegenüber denen, die für unsere Gesellschaft so wichtig sind: Lehrer und Schulrektoren, Polizisten, Bürgermeister, Rettungssanitäter, Krankenpfleger, Politiker. Frag mal solche Leute, was sie in ihrem Alltag erleben, und Du weißt, wovon ich spreche. Wir haben es zugelassen, dass jede Menge Spaltpilze grassieren. Dabei denke ich nicht nur an die Genderideologie samt ihrer Sprachverrenkungen, die den einen das Gefühl moralischer Überlegenheit verleiht und die anderen wütend macht, weil sie sich fremdbestimmt fühlen. Wenn das Vertrauen in tragende und einende Institutionen (wie z.B. die großen Volksparteien, die öffentlich rechtlichen Medien oder das Bundesverfassungsgericht) erodiert, dann wächst ganz allgemein die Anfälligkeit für Populisten, Ideologen und Verschwörungstheorien aller Art. Dann gibt es am Ende niemand mehr, der dem Auseinanderdriften der Gesellschaft wirkungsvoll entgegentreten kann.

Ich könnte noch seitenweise über diese notvollen Entwicklungen schreiben. Aber diese wenigen Zeilen mögen reichen, um Dir zu zeigen: Es könnte schon bald ziemlich ungemütlich werden in unserem Land, wenn immer neue äußere Katastrophen auf eine immer tiefer gespaltene Gesellschaft treffen. Das gilt auch für uns Christen, die in nicht wenigen Milieus unserer Gesellschaft regelrecht verhasst sind. Ich hoffe und bete zwar, dass es nicht so kommt. Aber ich fühle mich gedrängt, Dich zu bitten, Dich ernsthaft mit der Möglichkeit zu befassen, dass eine ernste Krise auf uns zurollt, die uns alle auch ganz persönlich betreffen wird. Es geht mir hier überhaupt nicht darum, Dir Angst zu machen oder gar Panik zu verbreiten. Die Bibel wird nicht müde zu betonen: Fürchte Dich nicht! Aber wenn es stimmen sollte, dass eine ernste Krise auf uns zukommt, dann ist es einfach wichtig, sich vorzubereiten. Und ich glaube: Dafür müssen wir Christen dringend einiges ändern.

Wir drehen uns um uns selbst

Vor einiger Zeit haben wir uns mit einigen lieben Geschwistern getroffen, die wir schon länger nicht mehr gesehen hatten. Es war sehr nett. Den Leuten ging es gut. Sie hatten alles, was sie brauchten. Sie waren fröhlich. Aber wie nebenbei haben sie geschildert, dass ihre Gemeinde zugrunde geht. Der Gottesdienstbesuch schrumpft zusammen. Die Kinder- und Jugendarbeit zerfällt. An Evangelisation ist nicht zu denken. Das schien aber ein Randthema für sie zu sein. Sie hatten im Moment nicht vor, deshalb aktiv zu werden oder sich wenigstens eine neue, lebendige Gemeinde zu suchen. Vielleicht später. Aber im Moment waren sie so beschäftigt mit ihrem Alltag und ihren Lebensumständen. Der Alltag ist ja so stressig. Und wenn man Kinder oder pflegebedürftige Eltern hat und wenn beide Ehepartner berufstätig sind, da hat man erst recht keine Zeit für Gemeindeaktivitäten…

Mir fällt das auch unter uns Christen auf: Wir sind vor allem mit uns selbst beschäftigt. Und solange es uns und unserer Gesellschaft einigermaßen gut geht, können wir ja auch relativ problemlos leben nach dem Motto: Wenn jeder für sich selber sorgt, ist für alle gesorgt. Der Trend zum Individualismus geht auch an der Kirche Jesu keineswegs vorbei. Aber in Notzeiten sind gewachsene Vertrauensbeziehungen mit das wichtigste Kapital, das wir haben. Wenn die Illusion zerbricht, dass der Staat alle unsere Probleme lösen kann, dann merken wir, wie sehr wir eine funktionierende Gemeinschaft benötigen.

Komm aufs Spielfeld

Umso dringender sollten wir Christen uns erinnern: Nicht Konferenzen, Programme oder Onlineangebote sind Gottes Antwort auf die Not der Welt, sondern vor allem die lokale Gemeinde. Deshalb sollten wir JETZT alles daran setzen, lebendige, christuszentrierte Gemeinschaften zu bauen, in denen wir eingebunden sind in ein Netz aus gesunden Beziehungen. Es kann und darf uns nicht gleichgültig sein, wenn es an unserem Ort keine lebendige Gemeinschaft von Jesusnachfolgern gibt. Es reicht auch nicht, die Schuld dafür auf Andere zu schieben. Mürrisches Publikum haben wir auch unter uns Christen zur Genüge. Es ist an der Zeit, wieder selbst aufs Spielfeld zu kommen, selbst mit anzupacken, entweder als mutiger Pionier oder als Unterstützer für die, die bereits am Kämpfen sind.

Was wir jetzt tun müssen…

… ist deshalb sehr einfach: Beten! Und Handeln! Unsere Gottesbeziehung stärken! Und alles tun, damit christuszentrierte Gemeinschaften und Gemeinden wachsen! Dabei müssen wir uns bewusst sein: Gemeindebau ist keine Spaßveranstaltung, die nach dem Lustprinzip funktioniert. Gemeindebau ist oft ein harter, herausfordernder Kampf. Schon die Bibel berichtet davon, wie die christlichen Gemeinden von Beginn an unter Feuer standen durch äußeren Verfolgungsdruck sowie durch innere Herausforderungen, durch praktische Nöte, durch Streithansel oder Irrlehre.

Ich möchte Dich deshalb herausfordern, Dich aufwecken zu lassen aus Deiner Routine. Hör auf, Dich um Dich selbst und Deine Bedürfnisse zu drehen. Verwurzele Dich jetzt in einer im Alltag gelebten Gottesbeziehung. Werde rasch ein profunder Kenner Deiner Bibel. Fang an, in Deinen Gaben zu dienen. Lass es zu, dass Dir Gott seine Trauer und seine Not um die verlorenen Menschen um Dich herum auf die Seele legen darf. Fang an zu weinen um die Kinder und Jugendlichen in Deiner Umgebung, um die sich niemand kümmert und denen niemand das Evangelium sagt. Fang an, zu arbeiten, damit an Deinem Ort lebendige Gemeinde wächst. Lass Dich dafür trainieren in Deinen Gaben und fang an, sie praktisch zu benutzen.

Zu den Booten!

Wenn es stimmt, dass das Wasser in das Schiff unserer Gesellschaft läuft, dann musst Du jetzt wissen, wo Deine Rettungsweste und Dein Rettungsboot ist. Deine Rettungsweste ist Deine im Alltag gelebte Christusbeziehung. Und Dein Rettungsboot ist eine starke Gemeinschaft von Jesusnachfolgern, denen Du dienst und von denen Du Dir dienen lässt. Dieses Boot brauchen wir für uns persönlich, weil Gott uns nun einmal nicht als Einzelkämpfer geschaffen hat. Aber dieses Boot ist auch entscheidend wichtig für die Menschen um uns herum. Unser Boot muss deutlich machen: Im Haus des himmlischen Vaters sind alle willkommen, die mit uns diesem Jesus nachfolgen wollen. Dafür muss es natürlich auch wirklich den Charakter eines Rettungsboots haben, nicht den Charakter einer Rückzugsburg oder eines Kuschelclubs für Gerettete. Es muss so gestaltet sein, dass Menschen dorthin eingeladen werden, dort andocken, Jesus entdecken und Teil dieser Gemeinschaft werden können.

Krisen sind immer auch Chancen. Aber dafür müssen wir frühzeitig die Krisensignale ernst nehmen und darauf achten, dass wir nicht unvorbereitet in sie hineinschlittern. Deshalb bitte ich Dich: Warte nicht. Leg Deine Rettungsweste an. Mach das Boot bereit. Jetzt.

AiGG – Was ist das eigentlich?

Ursprung – Geschichte – Ziele – Inhalte – Medien

Das Jahr 2003 war für mich ein Krisenjahr. Träume waren zerplatzt. Menschen hatten mich tief enttäuscht. Doch gerade in dieser Situation habe ich erlebt: Gott ist real! Er ist wirklich für mich da. Damals entstand ein Lied, das heute in Feiert Jesus (FJ3, Nr. 98) und auf YouTube zu finden ist: „Ich atme auf in Deiner Gegenwart“

Jahre später wurde das Lied zum Namensgeber für ein Projekt, dessen Ursprünge noch sehr viel weiter zurückreichen:

Sehnsucht nach Erweckung

In den frühen 90er-Jahren verschlang ich Bücher über Erweckungsbewegungen. Das weckte in mir den Wunsch, selbst ein Buch zu schreiben. Mein erstes Manuskript nannte ich: „Jesus, wir suchen Dich“. Es war durchdrungen von meiner Sehnsucht nach Erweckung in unserer Zeit.

Die ersten Rückmeldungen waren jedoch wenig ermutigend. Nie werde ich ein Gespräch mit Keith und Marion Warrington (den damaligen Leitern des deutschen Zweigs von „Jugend mit einer Mission“) vergessen. Sie sahen keine Chance, das Buch zu publizieren. Stattdessen gaben sie mir den Rat: Fang an, die Inhalte des Buchs mit Menschen durchzuarbeiten und prüfe dabei, was sich in der Praxis bewährt.

Vom Buch zum Kurs

Also entwickelten wir auf Basis der Buchinhalte einen Glaubenskurs und führten ihn seit 2010 jedes Jahr in unserer Heimatgemeinde durch. Tatsächlich halfen die Kurs-Erfahrungen, das Buch ständig weiter zu entwickeln. Parallel entstanden ergänzende Materialien, die auf www.aigg.de öffentlich zugänglich gemacht wurden. Erste Gemeinden und Gruppen wurden auf den Kurs aufmerksam und führten ihn – oft in abgewandelter Form – auch in ihrem eigenen Umfeld durch.

2020 wurde der Kurs in unserer Heimatgemeinde durch Corona jäh gestoppt. Die Zeit haben wir genutzt, um Vortragsvideos zu den 12 Kursabenden zu produzieren und auf YouTube zu stellen. Zudem wurde die AiGG-Internetseite neu aufgesetzt. Und auch das AiGG-Buch wurde erneut vollständig überarbeitet.

Damit erfüllt sich jetzt ein Traum, den ich seit vielen Jahren träume: Das Buch soll für alle Interessierten leicht zugänglich sein. Und jede Gemeinde, jede Gemeinschaft, jeder Haus- oder Jugendkreis soll sehr einfach die Möglichkeit haben, den AiGG-Kurs selbst durchzuführen – selbst dann, wenn kein Referent zur Verfügung steht.

Worum geht es bei AiGG?

Im Glaubenskurs haben wir immer wieder erleben dürfen, dass Menschen zum Glauben an Jesus gefunden haben. Was für eine Freude! Trotzdem richtet sich AiGG – anders als zum Beispiel der ALPHA-Kurs – in erster Linie an Christen, die ihre Glaubensfundamente vertiefen und (neue) Leidenschaft für Jesus entwickeln wollen. Dabei haben wir erlebt: Jugendliche (ab 16 Jahren) lassen sich mit den AiGG-Inhalten genauso ansprechen wie Erwachsene aller Altersgruppen.

Das Buch…

… ist aber nicht nur ein Begleitbuch zum Glaubenskurs, im Gegenteil: Es war zuerst da – und es steht bis heute für sich selbst. Man kann es also auch völlig unabhängig vom Glaubenskurs mit Gewinn lesen. Es behandelt 12 zentrale biblische Themen, die uns helfen können, eine authentische, im Alltag gelebte Liebesbeziehung zu Gott zu entwickeln. Die aus dieser Beziehung wachsende Identität in Christus ist zugleich eine stabile Grundlage für unser Leben, für unsere Beziehungen und für unsere Berufung.

Der Glaubenskurs…

… bietet zusätzlich die Möglichkeit, die Themen des Buchs gemeinschaftlich zu erarbeiten, miteinander darüber ins Gespräch zu kommen und füreinander zu beten, damit die Erneuerung praktisch wird. Das AiGG-Kursbuch bietet viele Erfahrungen und Tipps, die wir im Lauf der Jahre zur Gestaltung des Kurses gesammelt haben.

AiGG reloaded

Am 1. August 2022 ist es soweit: Das AiGG-Buch wird in völlig neuer Form zum Selbstkostenpreis von 7 € bei Amazon erhältlich sein. Bis dahin soll auch die neue AiGG-Internetseite fertig sein. Dort können auch zukünftig sämtliche Materialien (Vortragsvideos, -audios und -skripte, Powerpoints, passende Lieder, Buchauszüge, zusammenfassende Artikel) kostenlos heruntergeladen und frei an die eigenen Bedürfnisse angepasst werden.

Natürlich gibt es auch weiterhin den AiGG-Blog, der im Jahr 2014 begann und inzwischen zahlreiche Artikel zu den unterschiedlichsten Glaubensthemen enthält. Ergänzend gibt es seit 2021 den AiGG-Podcast Bibel-live, von dem es bislang 12 Folgen gibt, die sich vornehmlich mit „heißen Themen“ rund um die Bibel beschäftigen, wie z.B. die Frage nach der Gewalt im Alten Testament oder nach dem Zorn Gottes in der Bibel. Und natürlich findet man AiGG auch weiterhin auf Facebook und – ganz neu – auch auf Instagram.

Das AiGG-Projekt war für mich von Beginn an ein großes Abenteuer. Umso mehr bin ich gespannt, was Gott in Zukunft noch damit vorhat. Ich freue mich über jede Rückmeldung – auch um die AiGG-Materialien auch zukünftig weiter verbessern zu können. Eines aber ist seit dem Beginn des Projekts vor rund 30 Jahren gleich geblieben: Meine Sehnsucht nach Erweckung. Und mein Wunsch, dass so viele Menschen wie möglich diesen wundervollen Vater im Himmel entdecken, zu ihm nach Hause kommen und bei ihm das Leben finden.

Gottvertrauen: Die vergessene Kunst, die wir ganz neu lernen müssen

Ein Hinweis zu Beginn: Der Inhalt dieses Artikels mag auf den ersten Blick banal auf Dich wirken. Aber ich möchte Dich bitten: Klicke nicht einfach weg. Denn tatsächlich glaube ich: Das Thema dieses Artikels sollte gerade jetzt ganz oben auf unserer Agenda stehen. Meine Befürchtung ist: Christen, die sich damit nicht aktiv auseinandersetzen, könnten es schwer haben in den kommenden Tagen. Deshalb könnte diese Botschaft buchstäblich überlebenswichtig für Dich sein. Bitte lass mich versuchen, Dir zu erklären, warum:

Man kann seine Hoffnung und sein Vertrauen auf alles Mögliche setzen: Auf die eigene Klugheit. Auf das Bankkonto. Auf die Familie und andere „Connections“, die man so hat. Auf das Glück, das einen schon nicht verlassen wird. Auf Versicherungen. Auf Ärzte und Krankenhäuser. Auf den Fleiß, der doch bestimmt irgendwann auch einen Preis nach sich ziehen wird. Auf…

Wenn wir ehrlich sind, verlassen wir uns alle auf solche Dinge – auch als Christen. Wir haben viele Jahrzehnte in einem Land gelebt, in dem man damit zumeist auch gut durchgekommen ist. Aber in vielen Christen wächst gerade das Gefühl: Diese Zeiten könnten zu Ende gehen. Jeden Tag müssen wir mit ansehen, wie ein Sicherheitsanker nach dem anderen wegbricht, auf die wir uns bisher ganz selbstverständlich verlassen haben: Wirtschaftliche Stabilität. Gesundheit. Frieden. Geldwert. Gesunde Umwelt. Gesellschaftlicher Zusammenhalt. Überlegenheit von Vernunft, Fakten und Ehrlichkeit. Religionsfreiheit. Plötzlich ist nichts mehr davon sicher.

Meine Prognose ist: Das wird nicht besser werden. Jesus hat für die letzte Zeit Wehen angekündigt (Matthäus 24,8). Wehen haben die Eigenschaft, zum Ende hin in immer kürzeren Abständen zu kommen und heftiger zu werden. Der Hebräerbrief kündigt an, dass Alles erschüttert wird, bis am Ende nur noch das unerschütterliche Reich Gottes bleibt (Hebräer 12,27). Wir sollten also nicht überrascht sein, wenn die Serie von Krisen weitergeht – und sogar noch schlimmer wird.

Immer öfter höre ich von Menschen, die diese Entwicklungen immer schlechter verkraften. Die Zuversicht schwindet. Manche Menschen werden passiv, depressiv, antriebslos, fatalistisch oder zynisch. Manche flüchten sich in aktivistischen Widerstandskampf – und zerstören damit erst recht den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Andere wollen mangels Zukunft keine Kinder mehr bekommen – und zerstören damit erst recht die Zukunft.

Wir Christen sind davon überhaupt nicht ausgenommen. Jesus sagte: Wir leben in der Welt. Und in der Welt habt ihr Angst (Joh. 16,33). Wenn ich ehrlich bin, spüre ich diese Angst zunehmend auch in mir hochkriechen, wenn ich Nachrichten oder Talkshows schaue oder in den sozialen Medien unterwegs bin. Und ich frage mich: Wie soll ich damit umgehen?

Kein biblisches Buch hat mir bei dieser Frage so sehr geholfen wie die Psalmen. Diese uralten Lieder fordern mich wieder und wieder heraus, meine Hoffnung WIRKLICH und TATSÄCHLICH auf Gott zu setzen:

„Du Israel, vertraue dem Herrn! Er allein bietet Hilfe und Schutz.“ (Ps. 115, 9)

„Glücklich ist, wer den Gott Jakobs zum Helfer hat, wer seine Hoffnung auf den Herrn setzt, auf seinen Gott!“ (Ps. 146, 5)

Denn du bist meine Hoffnung, mein Herr. Von meiner Jugend an, Herr, bist du der Grund für meine Zuversicht.“ (Ps. 71,5)

Die Psalmen sind voll von solchen Aussagen. Nur leider habe ich viele Jahre viel zu achtlos über sie hinweggelesen. Vermutlich neigen wir Christen im Westen dazu, solche Sätze als fromme, herzerwärmende Floskeln abzutun. Dabei geht es hier in Wahrheit um ein radikal anderes Lebenskonzept, das wir heute kaum noch kennen und das auch zur Zeit Davids äußerst selten und absolut außergewöhnlich war!

Nirgends wird das so deutlich wie in der Geschichte von David und Goliath. Während das gesamte Heer Sauls vor dem prahlerischen Riesen schlottert, bleibt David völlig cool und geht Goliath schließlich entgegen mit den kühnen Worten: „Du kommst zu mir mit Schwert, Lanze und Speer. Ich aber komme zu dir im Namen des Herrn Zebaot. Er ist der Gott der Schlachtreihen Israels, die du lächerlich gemacht hast.“ (1. Samuel 17, 45)

David hat dieses Gottvertrauen tatsächlich gelebt, das er in den Psalmen besungen hat! Und genau das hat in seinem Leben den entscheidenden Unterschied gemacht! Ich ahne zunehmend: Es ist genau dieses Gottvertrauen, das wir Christen heute ganz neu lernen müssen. Denn Gottvertrauen ist wie ein Muskel, der trainiert werden muss. Wir Christen in Mitteleuropa haben diesen Muskel viele Jahrzehnte lang kaum gebraucht. Entsprechend schlaff ist er geworden. Wenn ich auf meine alltäglichen Gefühlswelten und Entscheidungen schaue, dann merke ich mit Schrecken, wie schwach mein Gottvertrauen in Wahrheit immer noch ist.

Die große Frage lautet deshalb: Wie können wir in diesen ganz anderen, außergewöhnlichen Lebensstil des Gottvertrauens hineinfinden, den David hatte? Bitte lass mich Dir ein paar Gedanken weitergeben, die mir dazu wichtig geworden sind:

1. Den Lebensstil des Gottvertrauens kann man nur mit intensivem Bibelstudium lernen.

Ich muss mich vertiefen in die Geschichten, Gedanken und Lieder dieser Leute, die ihr Vertrauen auf Gott gesetzt haben. Ich muss mich anstecken lassen von ihrer radikal anderen Perspektive, durch die sie mit Gott Geschichte schreiben konnten.

Ich versuche zudem, bestimmte Bibelverse immer und immer wieder durchzukauen, damit sie tiefer in mein Bewusstsein sinken: „Meine Kraft und meine Stärke ist der Herr.“ (Ps. 118, 14) „Nur er ist mein Fels und meine Rettung – meine feste Burg, sodass ich nicht wanke.“ (Ps. 62, 3) „Gott ist für uns eine starke Zuflucht. In höchster Not steht er uns bei. Darum fürchten wir uns nicht, wenn die Fundamente der Erde schwanken und die Berge mitten im Meer wanken.“ (Ps. 46, 2-3)

Besonders wichtig wurde mir der folgende Vers, den ich mir vor allem morgens nach dem Aufstehen immer wieder selbst zuspreche:

„Verlass dich auf den HERRN von ganzem Herzen, und verlass dich nicht auf deinen Verstand, sondern gedenke an ihn in allen deinen Wegen, so wird er dich recht führen.“ (Sprüche 3,5+6)

2. Ich will es mir zur Gewohnheit machen, meine Hoffnungen, meine Träume, meine Pläne, meine Aktivitäten und meine Befürchtungen immer wieder im Gebet in Gottes Hände zu legen.

In Psalm 127,1 sagt Salomo: „Wenn nicht der Herr das Haus baut, nützt es nichts, dass sich die Bauleute anstrengen. Wenn nicht der Herr die Stadt bewacht, nützt es nichts, dass der Wächter wachsam bleibt.“ Ich versuche, mir diese Wahrheit vor Augen zu halten und auf dieser Basis immer wieder zu beten: Lass das Werk unserer Hände gelingen!“ (Psalm 90, 17). Das klingt banal. Aber es ändert tatsächlich die ganze Art, wie wir unsere Herausforderungen und Projekte angehen.

3. Es ist wichtig, vergangene Erfolge und Siege richtig einzuordnen.

David hat Gottes Leute ermahnt: „»Wäre der Herr nicht für uns gewesen«, so soll Israel sprechen! »Wäre der Herr nicht für uns gewesen, als uns Menschen angegriffen haben: Dann hätten sie uns lebendig verschlungen…“ (Ps. 124, 1-3a) Unser Gottvertrauen steht und fällt mit der Dankbarkeit für Gottes Hilfe in all den großen und kleinen Herausforderungen des Lebens, die hinter uns liegen. Deshalb fordert David auch sich selbst auf: „Lobe den Herrn, meine Seele! Und vergiss nicht das Gute, das er für dich getan hat!“ (Ps. 103,2)

Wichtig ist in all dem:

Wir müssen unseren Muskel des Gottvertrauens trainieren, BEVOR es so richtig ernst wird!

Zwar ist es nie zu spät, sein Vertrauen auf Gott zu setzen. Aber wenn die Krise erst einmal da ist, dann tust Du Dich definitiv sehr viel leichter, wenn Du diesen Muskel schon vorher trainiert hast. Lass uns nicht naiv sein. Es gibt zu viele traurige Beispiele von Menschen, die durch Krisen buchstäblich überrollt und zerstört worden sind. Das sollte uns mahnen: JETZT ist die Zeit, unseren Glaubensmuskel zu trainieren! Deshalb hoffe ich so sehr, dass es mir gelingt, mit der Kraft von Gottes Wort und der Hilfe des Heiligen Geistes immer mehr hineinzufinden in diesen ganz besonderen Lebensstil, den David uns so eindrücklich vorgelebt hat.

Noch etwas ist mir wichtig:

Letztlich sind die Krisen unserer Zeit auch eine Chance für uns Christen!

Je dunkler es draußen wird, umso stärker können wir Christen dadurch auffallen, dass wir eine völlig andere, gänzlich unerschütterliche Hoffnung haben – weil der Gott, auf den wir hoffen, nun einmal nicht erschüttert werden kann und weil selbst der Tod für Christen nur eine Durchgangsstation zur Herrlichkeit ist. Deshalb könnten wir Christen gerade jetzt auffallen durch einen Frieden, der nicht an friedlichen Umständen hängt, sondern „alles Verstehen übersteigt“ (Philipper 4,7). Die unerschütterliche Hoffnung, die sogar die Märtyrer in der Arena nicht verließ, hatte schon das frühe Christentum so attraktiv gemacht. Es kann auch heute wieder die Kirche Jesu zum anziehenden Licht in der Finsternis machen.

Deshalb ist meine Frage an Dich: Machst Du mit? Lässt Du Dich rufen ins Trainingscamp, in dem unser Muskel des Gottvertrauens aufgebaut wird? Das wäre gut. In unseren Familien, Gemeinden, Dörfern und Städten werden gerade jetzt so dringend Menschen gebraucht, die wie David gelernt haben, ihre Hoffnung auf Gott zu setzen und im Vertrauen auf ihn mutig zu handeln! Willst Du einer davon sein? Willst Du Dich trainieren lassen, um dann auch anderen Mut machen und Hoffnung bringen zu können? Dann höre, was Gott Dir zu sagen hat:

„Glücklich sind die Menschen, Herr Zebaot, die sich ganz auf dich verlassen.“ (Ps. 84, 13)

„Es wird ja keiner enttäuscht, der auf dich hofft.“ (Ps. 25,3)

Und lass Dich ermutigen, durch das was Jesus uns mit auf diesen Weg gegeben hat:

„Gott hat mir alle Macht gegeben, im Himmel und auf der Erde. Seid gewiss: Ich bin immer bei euch, jeden Tag, bis zum Ende der Welt.“ (Matthäus 28,18+20)

Die stärkste Macht des Universums ist hier! Sie ist mit uns! Sie ist auf unserer Seite! Lass uns gemeinsam lernen, in und aus diesem Bewusstsein zu leben – jeden Tag ein wenig mehr.

Prof. Gerhard Maier über die Auslegung der Schrift

In der Mediathek offen.bar wurde am 13. Juni 2022 der Grundlagenvortrag “Die Auslegung der Schrift” von Prof. Gerhard Maier veröffentlicht:

Nachfolgend die wichtigsten Aussagen von Prof. Gerhard Maier aus diesem Vortrag:

Gerhard Maier über…

… die Rolle des wissenschaftlichen Zweifels in der Bibelwissenschaft:

Die Bibel will ja die Begegnung von Gott und Mensch. Wie kann eine Begegnung seitens des Menschen stattfinden? Soll der wissenschaftliche Zweifel der Ausgangspunkt sein, wie es auf Seiten der historisch kritischen Theologie oft behauptet wird? Dann würden dem Verständnis zwei Barrikaden im Wege stehen:

  1. Der Zweifel verdichtet sich rasch zu einer grundsätzlichen Distanz, die eine echte Begegnung immer schwerer macht.
  2. Der Zweifel hat die Tendenz, sich zur Lösung seiner Fragen der Vernunft zu überlassen.

Damit erhält die menschliche Vernunft von Anfang an die Rolle eines Schiedsrichters und einer überlegenen Instanz. Weit besser ist es, von einer grundsätzlichen Offenheit gegenüber der biblischen Offenbarung zu sprechen. Um den Ton des Vertrauens und der Güte Gottes, der sie durchzieht, wahrzunehmen, ist ein anfänglicher Glaube sogar eine Hilfe. Er ist kein Vorurteil, das eine klare Sicht verhindern würde. Ein anfänglicher Glaube, eine anfängliche Offenheit, kann durchaus das leisten, was Johann Albrecht Bengel als die Notwendigkeit eines geziemend genauen Forschens bezeichnete.

… die Verlässlichkeit der Schrift:

Wie verlässlich ist das alles, was die Schrift sagt? Oder muss man unterscheiden zwischen Teilen, die verlässlich sind und eben Teilen, die dies weniger sind? Damit stehen wir an einer Grundsatzfrage, die sich stellt, seit es überhaupt eine schriftliche Überlieferung der Gottesoffenbarung gibt.

Auch hier nehmen wir unseren Ausgangspunkt bei Jesus. In vielen Gesprächen stellte er die Frage: „Habt ihr nicht gelesen?“ (Matthäus 12, 3; Lukas 10, 26). Diese Frage setzt voraus, dass das Gelesene richtig ist und eine vertrauenswürdige Auskunft gibt!

Das Gewicht der biblischen Offenbarung wird noch einmal größer, wenn Jesus davor warnt, sie an irgendeiner Stelle aufzulösen oder zu brechen (Matthäus 5, 19; Johannes 10, 35).

Und es unterstreicht die Verlässlichkeit der Schrift ein drittes Mal, wenn Jesus sagt, es werde alles geschehen, was in ihr geschrieben steht (Matthäus 5, 18).

Wir können die Linie von da aus weiter ziehen durch das ganze Neue Testament hindurch. Was Gott verheißen hat, durch seine Propheten in der Heiligen Schrift, das ist nach Paulus vollkommen zuverlässig (Römer 1, 2). Wenn er die Frage stellt „Was sagt die Schrift?“ (Römer 4, 3), dann ist mit der Schrift die Grundlage alles christlichen Denkens in einer unangreifbaren Weise gelegt.

Dabei behandelt Paulus die Schrift als eine geschlossene Größe und so, als wäre sie eine sprechende Person.

Paulus behandelt die Schrift als eine geschlossene Größe und so, als wäre sie eine sprechende Person.

Wir sahen schon, dass diese Bewertung der Schrift aufs Engste mit der Überzeugung zusammenhängt, dass alle heiligen Schriften Israels, das Gesetz, die Propheten und die Psalmen durch Gottes Geist zustande gekommen sind, also durch die göttliche Inspiration. Wir erinnern uns jetzt erneut an 2. Timotheus 3, 16: „Alle Schrift ist von Gott eingegeben.“ Aber auch an die Aussage des Petrus im 2. Petrus 1, 21: „Getrieben vom Heiligen Geist haben Menschen in Gottes Auftrag geredet.“ Paulus und Petrus werden ergänzt durch die Aussage des Johannes in der Offenbarung, wonach dort der Geist und die Braut gewisse und wahrhaftige Worte der Weissagung sprechen. Entscheidend ist für die Schriftauslegung, ob sie den Ausgangspunkt nun bei Menschen oder eben bei den Aussagen der biblischen Offenbarung nimmt.

Entscheidend ist für die Schriftauslegung, ob sie den Ausgangspunkt nun bei Menschen oder eben bei den Aussagen der biblischen Offenbarung nimmt.

… den Niedergang und die Notwendigkeit der biblische Inspirationslehre:

Es besagt viel, wenn ein gemäßigter Kritiker wie Peter Stuhlmacher in seinem Buch „Vom Verstehen des Neuen Testaments“ 1986 schreibt: „Die Inspirationslehre droht gegenwärtig zu verkommen oder ganz in Vergessenheit zu geraten.“ Die 1500 Jahre lang von den christlichen Lehrern und Lehrstühlen hochgehaltene Inspirationslehre wurde zuerst ermäßigt zur sogenannten Realinspiration, wonach nur bestimmte Aussagen der Schrift inspiriert seien, aber keineswegs alle. Die nächste Rückzugsstellung sah so aus, dass man auch nicht mehr bestimmte Aussagen für inspiriert betrachtete, sondern nur noch Personen. Bei einer solchen personalen Inspiration konnte man bestimmte Personen würdigen, war aber an keinerlei Inhalte mehr gebunden.

Keine dieser Rückzugsstellungen war hilfreich. Sie brachte nur Unsicherheit und ganz subjektive, ja gegensätzliche Einschätzungen dessen, was in der Schrift noch glaubwürdig sei. Wir müssen den Faden wieder dort aufnehmen, wo ihn die historische Kritik fallen ließ. Das heißt, wir müssen zur biblischen Inspirationslehre zurückkehren.

Wir müssen den Faden wieder dort aufnehmen, wo ihn die historische Kritik fallen ließ. Das heißt, wir müssen zur biblischen Inspirationslehre zurückkehren.

… die Frage nach der Irrtumslosigkeit der Schrift:

Am besten fasst man die biblische Inspiration dem biblischen Sprachgebrauch entsprechend unter dem Stichwort der Ganzinspiration zusammen, vergleiche noch einmal Paulus in 2. Timotheus 3, 16: „Alle Schrift von Gott eingegeben“, formuliert er dort. Auf diese Weise wird der Blick auf das Ganze der Schrift gerichtet. Man muss dann nicht jeden Ausfall eines Wortes in der Überlieferungsgeschichte, nicht jedes Schwanken der Handschriften bezüglich eines Begriffes, nicht jeden alltagssprachlichen Ausdruck statt des juristisch korrekten Ausdrucks als Belastung oder gar als Katastrophe betrachten. Wie klug waren hier die alten Ausleger! Angesichts von Verschiedenheiten in der Textüberlieferung schrieb Johann Albrecht Bengel am 24. Februar 1521 an seinen Schüler Jeremias Friedrich Reuss: „Iss Du einfältig das Brot, wie du es vorfindest, und kümmere dich nicht darum, ob du etwa hier und da ein Sandkörnlein aus der Mahlmühle darin findest.“

In der Theologiegeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, vor allem der angelsächsischen, spielen Begriffe wie Irrtumslosigkeit, Fehlerlosigkeit oder Unfehlbarkeit eine Rolle. Diese haben an ihrem Ort, vor allem im Bereich der angelsächsischen Theologiegeschichte, ihre Berechtigung. Für uns, die wir aus der deutschen, kontinentalen, von Luther und vom Pietismus geprägten Theologiegeschichte kommen, legen sich andere Begriffe näher. Ich nehme als Beispiel Luthers Äußerungen über die Heilige Schrift von 1520: „Die Schrift ist die Allergewisseste, die leichtest zugängliche, die allerverständlichste, die, die sich selber auslegt, die alle Worte aller bewährt, urteilt und erleuchtet.“ Zweifellos ist hier die Sprache Luthers näher an der Bibel. Die Hypothek auf Begriffen wie Irrtumslosigkeit oder Unfehlbarkeit ist die, dass sie in der Bibel nicht gebraucht werden. Dafür steht anderes im Vordergrund in der Bibel: „Dein Wort ist die Wahrheit.“ (nach Johannes 17, 17). Oder die Versicherung: „Gott ist treu.“ (1. Korinther 1, 9). Besser sollte man daher von der Wahrheit und der vollkommenen Verlässlichkeit der Schrift sprechen.

… die Unterwanderung der Autorität der Schrift durch Nebeninstanzen:

Wer nach der Autorität der Schrift fragt, steht auch vor der Frage, welcher Instanz unsere Schriftauslegung verpflichtet ist. Traditionell wird hier schnell das Lehramt in der katholischen Kirche genannt. Im Vatikanum 2 ist festgehalten: Alles, was die Art der Schrifterklärung betrifft, untersteht letztlich dem Urteil der Kirche, deren gottgegebener Auftrag und Dienst es ist, das Wort Gottes zu bewahren und auszulegen. Damit war die römisch-katholische Kirche in der Lage, über die Jahrhunderte hinweg am Kern ihrer kirchlichen Lehre festzuhalten. Zugleich aber ist klar, dass hier eine zweite Instanz neben der Schrift errichtet wurde. Das reformatorische Bekenntnis, dass die Schrift allein Königin sei, und eine solche hohe Wertung des kirchlichen Lehramts in der Glaubenslehre schließen sich gegenseitig aus.

Das reformatorische Bekenntnis, dass die Schrift allein Königin sei, und eine solche hohe Wertung des kirchlichen Lehramts in der Glaubenslehre schließen sich gegenseitig aus.

Aber wie steht es mit weiteren Instanzen neben oder gar über der Schrift in der weiteren Geschichte des Protestantismus?

Wir zitieren noch einmal aus dem theologisch politischen Traktat von Baruch de Spinoza (1670 erschienen). In seinem 6. Kapitel von den Wundern findet sich die Feststellung, dass alles nach den Naturgesetzen geschieht. Was ist dann aber mit den Wundern der Bibel? Auch hier bleibt Spinoza ganz stringent. Findet sich irgendetwas – schreibt er – von dem man unumstößlich beweisen kann, dass es den Naturgesetzen widerstreitet oder sich nicht aus ihnen herleiten lässt, so muss man ohne Weiteres annehmen, dass es von Frevlerhänden in die Heilige Schrift eingefügt worden ist. Damit ist völlig klar, dass unsere menschliche Vernunft darüber urteilen muss, ob das in der Schrift Niedergeschriebene den Rang einer göttlichen Offenbarung haben kann. Das Primat der Vernunft war errichtet, und diesem Primat folgte die protestantische Theologie mehr und mehr, bis es auch Einfluss in der katholischen Theologie gewann.

Der amerikanische Theologe Shailer Matthews konnte um die Wende vom 19. ins 20. Jahrhundert sagen, er behandle die Bibel und die intellektuelle Redlichkeit mit gleichem Respekt. Das heißt nichts anderes, als dass die Vernunft die letzte und höchste Autorität beansprucht.

Schlägt man den Weg ein, zuerst die biblische Offenbarung selbst zu hören, dann muss man auch ihren Anspruch auf Autorität ernst nehmen. Man kann sich nicht als Schrifttheologe oder Bibellehrer bezeichnen, wenn man diesen Anspruch beiseiteschiebt.

Schlägt man den Weg ein, zuerst die biblische Offenbarung selbst zu hören, dann muss man auch ihren Anspruch auf Autorität ernst nehmen. Man kann sich nicht als Schrifttheologe oder Bibellehrer bezeichnen, wenn man diesen Anspruch beiseiteschiebt.

… die Grundlage der biblischen Autorität:

Die Wurzel der biblischen Autorität liegt in dem schlichten und doch einzigartigen Satz der Bibel: „Und Gott sprach.“ Wenn das wahr ist, dann bleibt ihre Autorität in diesen einzigartigen Reden Gottes begründet. An dieses Wort hat sich Gott nach den Aussagen der Schrift gebunden. Er hat es zum Ort der Begegnung mit uns bestimmt. Die Schriftautorität ist also im Grunde die Personenautorität des hier begegnenden Gottes.

Die Schriftautorität ist die Personenautorität des hier begegnenden Gottes.

… den Umgang mit Wundern in der Bibel:

Altchristliche Theologen in der Antike begründeten die Autorität der Bibel sogar mit der Tatsächlichkeit der dort berichteten Wunder. Aber nicht nur sie, auch die Reformationstheologen Melanchthon und Flacius zogen sie zur Begründung der Schriftautorität heran. Dann aber wurden solche Wunder zunehmend verdächtig. Weil die Vernunft zur obersten Instanz der Auslegung wurde, kam es zu eigenartigen Deutungen. Beispielsweise deutete Christoph Matthäus Pfaff (1686 – 1760, Kanzler der Universität Tübingen) Jona 2 so, dass Jona von einem Schiff namens Walfisch aufgenommen wurde. Eine erste Spitze erreichte diese Entwicklung bei Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher. Ihm zufolge sind eigentliche Wunder unmöglich. Nicht anders Ferdinand Christian Baur, der ja einen ganz weiten Einfluss auf die Theologie des 19. Jahrhunderts hatte. Gegenüber dieser Entwicklung, die ja bei Bultmann zu einer radikalen Ablehnung der Wunderwelt des Neuen Testaments geführt hatte, muss allerdings auch zitiert werden, dass die päpstliche Kommission noch 1964 an dem Eingreifen des persönlichen Gottes in der Welt und der Möglichkeit und Tatsächlichkeit von Wundern in der Bibel festhielt. Jedenfalls: Wer sich der Spur der historisch kritischen Theologie anschließen will, kann die biblischen Wunder nicht mehr bejahen.

Und um dem Gegenüber das Anliegen einer biblischen Theologie noch einmal zu unterstreichen: Sie hält an dem Reden Gottes auch dort fest, wo er in seine Wunderkraft Einzigartiges vollbringt.

… die enorme Bedeutung der Klarheit der Schrift:

Es verwundert, mit welcher Energie Martin Luther gerade auf die Klarheit der Schrift hingewiesen hat. So steht es ja in seiner „Assertio omnium articulorum“: Die Schrift sei die leichtest Zugängliche, die Allerverständlichste. Im Vertrauen darauf gaben die Reformatoren die Bibel jedem in die Hand, richteten ein bewundernswertes Schulwesen ein. Evangelische Slowenen verbreiteten die Botschaft in ihrem Land so wie Primus Truber (1508 bis 1586), der bei uns in Derendingen begraben liegt. Die Württemberger richteten in dem kleinen Urach eine Druckerei ein, druckten slowenische Bibeln. Helfer brachten sie über die Karawanken. All dies wäre undenkbar gewesen, hätte dahinter nicht die Überzeugung gestanden, dass jeder Mensch in der Lage ist, die Gotteserfahrung und Gottesoffenbarung in der Bibel angemessen zu verstehen. Das ist heute noch die Überzeugung in unseren württembergischen Stunden.

… den Umgang mit den dunklen Stellen in der Schrift:

Die alten Kirchenlehrer und die alte reformatorische Theologie antworteten, dass alles Heilsnotwendige klar sei. Das wird man kaum bestreiten können. Ebenso wichtig ist die allgemein christliche Erfahrung, dass man dunkle Stellen aus den hellen erklären kann. Von da aus bewährt sich der alte und von Luther erneut betonte Grundsatz, dass die Schrift sich selber auslegt. Wer Schrift mit Schrift auslegt, macht immer wieder die beglückende Erfahrung, dass sich der Zusammenhang und die Bedeutung der Schrift immer neu erschließt. Auch den sogenannten schlichten Christen. „Nimm und lies!“ – „„Tolle Lege!“ – Dieser Schlüsselsatz von Augustinus bewährt sich immer neu.

… bibeleigene Aussagen zur Klarheit der Schrift:

Ist es nicht die biblische Offenbarung selbst, die von ihrer Klarheit spricht? Schon das Mosegesetz ermutigt zu ihrem Studium: „Dieses Gebot, das ich dir heute gebiete, ist nicht zu hoch für dich und ist dir nicht zu fern.“ (5. Mose 30, 11) Im Römerbrief, der gewiss nicht immer leicht zu lesen ist, nimmt Paulus diese Ermutigung auf: „Das Wort ist dir nahe in deinem Munde und in deinem Herzen.“ (Römer 10, 8) Micha konnte ganz allgemeinverständlich reden: „Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist und was der Herr von dir fordert: Nichts als Gottes Wort halten und Liebe üben und demütig sein vor deinem Gott.“ (Micha 6, 8)

Fassen wir zusammen: Die biblische Offenbarung selbst sagt aus, dass sie für jedermann zugänglich und genügend verständlich sei.

Die biblische Offenbarung selbst sagt aus, dass sie für jedermann zugänglich und genügend verständlich sei.

… das Verständnis der Einheit der Schrift bei Luther und im Pietismus:

Ich erinnere mich daran, dass Ernst Käsemann einmal einen Neutestamentler aus Mainz eingeladen hatte, um über Einheit und Widersprüche im Neuen Testament zu sprechen. Der lebhafte Vortrag endete mit der Widersprüchlichkeit des Neuen Testaments und mit dem Satz: Nun sehen sie zu, wo Sie sich ansiedeln. Es ist allerdings nicht nur in der universitären Theologie so, dass die Aussage von der Widersprüchlichkeit der Bibel selbstverständlich geworden ist. Das war am Anfang der Kirche anders. Dazu nur wenige Beispiele:

In der Mitte des 2. Jahrhunderts nach Christus schrieb Justin, der als Märtyrer starb, in seinem Dialog mit dem Juden Tryphon: „Ich bin schlechterdings überzeugt, dass keine Schriftstelle einer anderen widersprechen kann.“ Noch stärker spitzte dies Augustinus zu. Er schrieb ein eigenes Werk („De consensu Evangelistarum“- „Über das übereinstimmende Zeugnis der Evangelisten“) und äußerte sich darin ganz scharf gegen diejenigen, die den Evangelisten Widersprüche unterschieben wollten. Er nannte die Behauptung der Widersprüchlichkeit das Prunkstück der Eitelkeit.

Wieder beobachten wir, dass diese Linie bei Luther und dem Pietismus fortgeführt wurde. Luther konnte ja doch sagen, die biblische Offenbarung sei die allergewisseste und eine, die sich selber auslegt. Hier ist also die biblische Offenbarung als eine einheitliche Größe verstanden.

Für Johann Albrecht Bengel ist die Schrift ein zusammenhängender, wunderbarer Organismus. Ich zitiere ihn: „Jedes Wörtchen ist aus dem Heiligen Geist hervorgegangen.“ Bengel nimmt sehr wohl die Vielfarbigkeit der biblischen Aussagen wahr. Da er aber die Bibel heilsgeschichtliche auslegt, sagt er: „Unterscheide die Zeiten, dann stimmt die Schrift zusammen.“ Er ist nicht einmal bereit, die manchmal abschätzigen Urteile Luthers über den Jakobusbrief nachzuvollziehen. Nein, sagt er, der ganze Brief geht aus jener neuen Christenheit hervor.

… die Formel Martin Luthers „Was Christum treibet“:

Oft wird behauptet, Luthers Formel, „was Christum treibet“ sei die Mitte der Schrift für ihn und auch die Möglichkeit, Widersprüche in der Schrift wahrzunehmen und mit ihnen umzugehen. Das ist ein grober Fehlschluss. Denn für Luther ist eine Formel wie „was Christum treibet“ eine Richtungsanweisung für die Auslegung, so wie etwa bei Irenäus Johannes durchaus seine eigene Verkündigung hat und dennoch denselben Glauben verkündete wie die anderen Evangelisten.

… die Grundlage für die Einheit der Schrift:

Die Einheit der Schrift wird zunächst durch ein dreifaches begründet:

  1. Durch den einen Urheber, den sie hat, nämlich Gottes Heiligen Geist.
  2. Dadurch, dass alle Bücher der Bibel zum Glauben an den einen, denselben Gott aufrufen. Dass der Gott des Alten Testaments ein anderer sei als der Gott des Neuen Testaments ist eine eindeutige Irrlehre. Dagegen haben sich schon die alten Kirchenlehrer mit aller Energie gewehrt.
  3. Ein dritter Grund liegt darin, dass der Gott, der sich in der Schrift offenbart, eine Geschichte geschaffen hat, die alle Glaubenden aller Zeitalter verbindet.

… die Einheit der Schrift als Grundlage für den Kampf gegen Irrlehre:

Sollte die christliche Theologie jemals die Erkenntnis von der Einheit der Schrift aufgeben, dann wäre es unmöglich, den Kampf gegen die Irrlehren zu führen.

Sollte die christliche Theologie jemals die Erkenntnis von der Einheit der Schrift aufgeben, dann wäre es unmöglich, den Kampf gegen die Irrlehren zu führen.

Denn jede Irrlehre, angefangen von den Gegnern der Apostel über die Gnostiker und Leugner der Dreieinigkeit bis hin zur modernen Losung „Wir haben alle denselben Gott“ eignet sich Bruchstücke aus der Bibel an. Nur der Zusammenhang der ganzen Schrift bewahrt uns darin, dass wir nach Philipper 3, 10 das Ganze Erlösungshandeln Gottes erkennen.

… das Schriftverständnis von Karl Barth:

Das Wirken von Karl Barth (1896 bis 1968) überspannt ein rundes halbes Jahrhundert. Bis heute genießt er besondere Wertschätzung wegen seines Widerstands gegen den Nationalsozialismus und später auch gegen die Entmythologisierungstheologie. Was seine Hermeneutik betrifft, so ist dafür grundlegend die Annahme von einem dreifachen Wort beziehungsweise von drei Gestalten des Wortes Gottes. Die erste dieser Gestalten ist die eigentliche Offenbarung, das Wort hinter den Wörtern. Sie geht nur gebrochen in die Bibel, die schriftliche Gottesoffenbarung ein. Was wir dann vorliegen haben, ist also nur ein Zeugnis von der Offenbarung, ein Zeugnis, das durchaus kritisch zu bearbeiten ist. Anders formuliert: Wir müssen unterscheiden zwischen dem Wortlaut und dem, was dahinter da ist.

Aber Gottes Wort steht nicht hinter den Worten der Bibel, so dass wir es erst herausdestillieren müssten. Gott redet zu uns im Wort der Bibel, wie es ist. Hier lässt er sich von uns finden. Karl Barth hilft uns also nicht aus dem Dilemma heraus, in das uns die historisch kritische Methode mit ihrer Zerstörung der überlieferten Inspirationsquelle und ihrer Vorordnung der menschlichen Vernunft vor der göttlichen Offenbarung gebracht hat. Viel empfehlenswerter ist es, den Anschluss an das altchristliche, das reformatorische und pietistische Schriftverständnis zu suchen.

… „gemäßigte Kritik” an der Bibel:

Und was ist mit der sogenannten gemäßigten Kritik? Sie wurde und wird vor allem von Peter Stuhlmacher vertreten, mit dem mich persönlich manches verbindet. Er äußerte auch Verständnis für die Ablehnung der historisch kritischen Methode und findet freundliche Worte für diejenigen, die sie ablehnen. Ja, er kann von gravierenden Fehlleistungen der historischen Kritik sprechen. Dennoch will er nur die Einseitigkeiten der radikalen Kritik korrigieren. Jedoch soll die historisch kritische Arbeit an der Bibel weiterhin für unaufgebbar gelten. Wie sieht das aus?

Er kann einerseits auf die hermeneutisch fundamentale Bedeutung der Lehre von der Schriftinspiration neu hinweisen. Ja, er stimmt zu, dass eine biblische Hermeneutik wirklich primär von der Schrift her entwickelt werden muss. Dann aber folgt eine Wende. Nicht nur vor der Schrift allein, sondern auch vor dem kritischen Wahrheitsbewusstsein unserer Zeit, müssten wir uns verantworten. Damit sind wir wieder vor zwei Instanzen, die eine Sachkritik an der Bibel erlauben.

Die wichtigste hermeneutische Entscheidung bleibt also nach wie vor diejenige, ob die Instanz der Offenbarung wirklich die erste und entscheidende bleibt und ob wir von daher die Sachkritik an der Bibel überwinden.

Die wichtigste hermeneutische Entscheidung bleibt diejenige, ob die Instanz der Offenbarung wirklich die erste und entscheidende bleibt und ob wir von daher die Sachkritik an der Bibel überwinden.

… die Notwendigkeit auf eine schriftgemäße Schriftauslegung:

Zuerst und zuletzt: Wir brauchen eine schriftgemäße Schriftauslegung! Unsere Begriffe, unsere Gedanken, unsere Schlüsse müssen sich auf die biblische Offenbarung selbst stützen.

Wir brauchen eine schriftgemäße Schriftauslegung!

… die Notwendigkeit, am reformatorischen und pietistischen Schriftverständnis anzuknüpfen:

In ihrer Rolle als erste und entscheidende Instanz ist sie durch nichts zu ersetzen und auch durch nichts zu ergänzen. Wir können und sollen wieder dort anknüpfen, wo Luther in aller Schlichtheit sagen konnte, dass die Schrift durch sich selber sei die allergewisseste, die leichtest Zugängliche, die allerverständlichste, die, die sich selber auslegt, die alle Worte aller Worte bewährt, urteilt und erleuchtet, an einen Luther, der selber in dieser Position auf den Schultern der Kirchenväter stand. Leider hat die protestantische Forschung die Kirchenväter viel zu oft übergangen.

Wir haben nun freilich auf evangelischer Seite nicht nur das Beispiel Luthers und der frühen Reformatoren, es ist daneben die reiche pietistische Schriftauslegung zu bedenken. Noch einmal sei der Name Johann Albrecht Bengels erwähnt. Für ihn war ja die Einheit von Altem und Neuem Testament eine feste Voraussetzung. Nicht unterschlagen sei dabei sein Urteil über die damalige Aufklärung: Sie, so sagt er, richtet in Ecclesia Lutherana [d.h. in der Kirche Luthers] schreckliche Gräuel an. Wenn wir uns also außer an den Kirchenvätern und Luther beziehungsweise der frühen reformatorischen Schriftauslegung auch am Pietismus orientieren, dann nehmen wir in der Tat ein reiches Erbe auf.

… die zentrale Weichenstellung der Christenheit:

An der Bibelfrage wird sich nicht nur das Schicksal des Protestantismus, sondern auch weithin das Schicksal des Christentums entscheiden.

An der Bibelfrage wird sich das Schicksal des Christentums entscheiden.

Aber das Schönste an der Bibel bleibt: Es trifft ein, was sie sagt.