von Pfarrer David Brunner
Dieser Artikel ist zuerst am 4.2.2019 im Blog von David Brunner (https://david-brunner.de/blog/) erschienen und wird mit freundlicher Genehmigung des Autors wiedergegeben.
Ich gebe es zu: Ich bin nicht immer “amused” über den Zustand unserer Volkskirche. Da ich mich im Süden Deutschlands befinde, sind meine Überlegungen und Gedanken natürlich besonders geprägt von “meiner” Landeskirche – die evangelische Landeskirche in Baden (www.ekiba.de). Ich liebe und schätze es, in dieser Kirche zu arbeiten und zu wirken – gleichwohl muss ich nicht zu allem “Ja und Amen” sagen und sind kritische Töne erlaubt. Aber weil ich es liebe, in dieser evangelischen Landeskirche in Baden zu arbeiten, ist mir ihr “Zustand” alles andere als egal. Sie hat ein riesengroßes Potenzial, das sie noch mehr ausschöpfen könnte, wenn ihr diese fünf Wenden gelingen.
Ich schreibe bewusst von Wenden und nicht von Krisen oder Abgründen, weil ich glaube, dass Wenden immer etwas Positives beinhalten – nämlich den Turnaround, die Umkehr, den Blick auf das Bessere. Und ich bin der festen Überzeugung: Wenn die Volkskirche (ich werde den Begriff “Landeskirche” in diesem Artikel synonym verwenden) diesen Turnaround schafft, wird sie zurückfinden in die Fülle göttlicher Verheißungen. Sie kann es – wenn sie will.
Ebenso will ich den Blick nach vorne richten. Ich hoffe und bete, dass die Landeskirche diese Wenden wirklich packt. Es wäre mein großer Wunsch! Ja, ich höre viele Menschen rufen, dass die Landeskirche doch böse sei und dass sie ohnehin keine Zukunft hat. Schreit weiter, liebe Leute – ihr habt Unrecht! Ich kann euch verstehen, dass euch Dinge auf die Nerven gehen und dass ihr gerne eine veränderte Kirche sehen wollt. Ja. Das will ich auch. Ich will aber nicht nur motzen und jammern.
Ich möchte nicht beim Negativen stehenbleiben, ich möchte nach vorne schauen. Ich möchte nicht “draufhauen”, sondern bei aller Kritik auch Handlungsoptionen zeigen, welche die Wende einleiten oder bedeuten könnten. Ich möchte selbst Teil sein einer großen Veränderung innerhalb der Landeskirche – und sehe sie hier und da schon klein aber fein aufblitzen.
1 Von liberaler Intoleranz zu wirklicher Toleranz
Wer meinen Blog verfolgt, wer meine Predigten hört, wer mich kennt, der weiß: Ich bin nicht liberal. Ich bin theologisch recht konservativ, bemühe mich aber, keine Kampfbegriffe zu verwenden oder Schubladendenken zu forcieren. Ich habe das jahrelang (noch im Studium beginnend) getan und dabei rückblickend festgestellt: Das bringt nichts.
Wenn ich meinen Blick so über die kirchliche Landschaft schweifen lasse, stelle ich eine zunehmende Liberalität fest. Allerdings ist es keine gesunde Liberalität im Sinne einer pluralistischen Weltoffenheit, sondern eher eine liberale Intoleranz. Was ich meine, will ich dir an einer konkreten Begebenheit verdeutlichen, das sinnbildlich für mich für das steht, was ich mit “liberaler Intoleranz” meine:
Als sich die Synode meiner Landeskirche dafür aussprach, die “Ehe für alle” auch kirchlich zu vollziehen, wurden die Pfarrkonvente (Zusammenkunft aller Pfarrerinnen und Pfarrer eines Kirchenbezirks) unserer Landeskirche von Vertretern des Oberkirchenrates besucht. In diesen Gesprächen ging es um die Konsequenzen dieses Beschlusses auf unterschiedlichen Ebenen: liturgisch, pastoraltheologisch und kirchenrechtlich. Was ich feststellte: Wer eine theologisch konservative Meinung einnahm und diesem Synodal-Beschluss nicht positiv gegenüberstand, wurde als “ewiggestrig” und “fortschrittsfeindlich”, ja sogar als “menschenfeindlich” bezeichnet.
Ich gab dem Vertreter des Oberkirchenrats auf seine Bitte, was er denn mitnehmen solle, meine Wahrnehmung mit auf den Weg: Wer theologisch konservativ ist, kann sachlich ausgewogen argumentieren – er wird sehr oft unsachlich in eine Ecke gedrängt, die nicht wirklich angenehm ist. Er wird abgestempelt und spürt recht wenig vom “toleranten Geist” unserer Gesellschaft. Er wird belächelt, verachtet und abgestempelt.
Ich weiß nicht, was der Vertreter des Oberkirchenrates aus meiner Wortmeldung gemacht hat und ob er meine Meinung an irgendeiner Stelle eingespielt hat.
Die Landeskirche gibt sich immer sehr tolerant – ist es aber bei weitem nicht so sehr, wie sie es sich selbst auf die Fahnen schreibt. Ja, ich weiß, es gibt “theologisch Konservative” in unserer Kirche, die es auch nicht gelernt haben, sich sachlich auszudrücken und Diskussionen anständig zu führen. Das gibt Kirche aber noch lange nicht das Recht, mit theologisch Konservativen generell intolerant umzugehen. Wenn die Landeskirche es nicht lernt, wirklich tolerant zu sein, dann wird sie nicht zukunftsfähig sein, weil sie selbst immer wieder auf Menschen stoßen wird, die anderer Meinung sind als sie.
Die oft postulierte Toleranz muss allen theologischen Richtungen gelten – oder sie ist eine Schein-Toleranz. Da der postmoderne Mensch jedoch eine sehr feinfühlige Wahrnehmung dafür hat, ob es seinem Gegenüber wirklich ernst ist mit der Toleranz oder nicht, wird Kirche nur dazu gewinnen, wenn sie eine wirkliche Toleranz lebt. Eine Toleranz, die den anderen ohne Geringschätzung stehen lässt – mag seine Meinung noch so anders sein als die eigene.
Mir fällt das manchmal selbst sehr schwer. Ist doch klar, dass das keiner von Geburt an hervorragend beherrscht. Aber es wäre ein Versuch wert, sich darin zu üben, den anderen stehen zu lassen, in meinem Gegenüber einen wunderbaren Menschen zu sehen, den Gott nicht weniger liebt als mich – und der nicht zwangsläufig falsch liegen muss, nur weil er eine andere Meinung hat als ich.
Eine gesunde Streit- und Debattenkultur beginnt doch dort, wo ich den anderen nicht von vornherein wegen seiner “andersartigen Meinung” ablehne, sondern ihn annehme, stehen lasse, diskutiere und wir Gemeinsamkeiten suchen. Immer dann, wenn das in “kirchlichen Gremien” geschieht, freue ich mich. Und ich habe schon in unterschiedlichsten Konstellationen mit anderen zusammengearbeitet. Immer dann, wo eine wirkliche Toleranz gelebt wird, ist es bereichernd. Für alle.
2 Von historisch-kritischer Engführung zu hermeneutischer Vielfalt
Wenn Kirche nicht versteht, dass es mehr Auslegungsmöglichkeiten gibt, als die historisch-kritische Methode, die unsäglichen Schaden angerichtet hat, wird sie nicht zukunftsfähig sein. Zu viele Theologinnen und Theologen unterschiedlichster theologischer Ausrichtung kommen zu vielen relevanten theologischen Aussagen – ohne die historisch-kritische Methode zu verwenden. Und jetzt? Sind sie schlechte Theologen? Sind ihre Aussagen nicht gültig?
Leider erlebe ich es sehr oft, dass andere hermeneutische Konzepte als das der historisch-kritischen Methode mit einem Lächeln abgetan werden, als sei es ansteckend wie eine Krankheit oder gar tödlich.
Dabei reicht doch ein Blick in unsere kirchliche Landschaft: Landauf landab gibt es unzählige Gemeinden und Gottesdienste innerhalb der evangelischen Landeskirche. Würde die historisch-kritische Methode einen solchen Ertrag bringen, wie ihre Vertreter immer meinen, hätten wir nicht unbedingt volle Kirchen, müssten aber mit Mitglieder- und Gottesdienstbesucherwachstum rechnen. Das Gegenteil ist der Fall. Seit Jahren schrumpfen die Mitgliederzahlen der Landeskirchen und die Zahl der Gottesdienstbesucher hält sich penetrant bei 3 bis 4 Prozent ihrer Mitglieder, die ja zurückgehen – weswegen auch der absolute Gottesdienstbesuch zurückgeht.
Nein, die historisch-kritische Methode hat nicht das Zeug dazu, für eine Erweckung in unserer Kirche zu sorgen. Vielmehr hat sie dazu geführt, dass Sonntag für Sonntag noch jede Menge leere Plätze in den Kirchen zu finden sind, die gefüllt werden könnten. Klar: Kaum ein Theologe vertritt die historisch-kritische Methode in Reinform und gleichzeitig gibt es Arbeitsschritte innerhalb dieser Methode, die einen großen Wert haben. Mir geht es um die Vorherrschaft dieser Methode in der Ausbildung und im Schriftverständnis.
Eine Hermeneutik muss dem unverfügbaren Wirken des Heiligen Geistes offen gegenüber stehen und mit wirklichen Wundern rechnen, wenn sie der Kirche einen Weg in die Zukunft ebnen will. Eine Hermeneutik, die dem Diktat der Rationalität unterworfen ist, wird dem Menschen auch nur so viel Gewinn bringen, wie der menschliche Verstand zu fassen vermag. Gottes Wirken jedoch wird dann beim besten Willen kaum damit verbunden sein, da dieses sich unserem menschlichen Verstand oft entzieht und diesen bei weitem übersteigt.
Darüber hinaus wird es die Kirche wieder dorthin bringen, wo alles begann und was – besser: wer – immer Zentrum von Kirche ist: Jesus Christus selbst. Ich glaube, dass eine hermeneutische Vielfalt uns nicht nur aus der Enge der historisch-kritischen Methode befreit sondern auch aus der Vergessenheit darüber, dass Jesus Christus Anfänger und Vollender ist (Hebräer 12,2), der selbe gestern, heute und in alle Ewigkeit (Hebräer 13,8) und dass es um ihn geht als dem einzigen Weg zum Vater im Himmel (Johannes 14,6).
Konkret niederschlagen würde sich diese Wende in der Anerkennung anderer theologischer Abschlüsse als die, die an einer Universität oder “evangelischen Hochschule” erworben wurden. An vielen theologischen Seminaren und “Bibelschulen” wird (inzwischen) so sauber theologisch gearbeitet, dass es nicht intolerant ist, solche Abschlüsse nicht anzuerkennen, sondern schlicht und einfach arrogant. Im besten Fall geschieht dies aus Unwissenheit darüber, was an diesen theologischen Hochschulen gelehrt wird. Dauerhaft ist dieses Verhalten jedoch nicht förderlich und schon gar nicht zukunftsfähig. Denn auch der evangelischen Kirche geht das Personal aus – und obendrein noch das Geld. Da ist es schon rein strukturell nur gut, wenn sie sich anderen hermeneutischen Konzepten öffnet. Wobei ich es vor allem aus inhaltlicher Sicht natürlich einen maximalen Gewinn finde, wenn sich die Landeskirche dahingehend weiterentwickelt und eine Wende einleitet, dass sie auch Absolventen von theologischen Seminaren und Bibelschulen als kirchliche Mitarbeiter anerkennt.
3 Von liturgischen Absurditäten zu gottesdienstlicher Relevanz
Liebe Kolleginnen und Kollegen, bevor ihr nun eure Fingernägel wetzt, um mir an die Gurgel zu springen, gebt mir die Chance, zu erklären, was ich meine – und was nicht.
Ich sage nicht, dass die liturgische Form an sich weltfremd wäre. Ich will damit auch nicht sagen, dass eine traditionell-liturgische Form für den Gottesdienst keine Daseinsberechtigung mehr hat.
Ich glaube, das Problem liegt viel tiefer: Ein Großteil meiner Kolleginnen und Kollegen hat in ihrer Ausbildung nie gelernt, wie man Gottesdienste auch anders als mit Orgel, Wechselgesang und jahrhundertealten Ausdrucksweisen feiern kann. Auch das wäre noch nicht ganz so tragisch, wenn nicht obendrauf dann etwas viel Schlimmeres geschieht: Die Ansicht, neue Gottesdienstformen seien nicht nötig, sie seien eine Zeiterscheinung und man müsse die Gemeinde nur so weit erziehen und das ein oder andere liturgische Element erklären, so dass die liturgische Form des Gottesdienstes als Alleinstellungsmerkmal akzeptiert wird.
Ja, liebe Leserin, lieber Leser, falls du dir nun die Augen verwundert reibst: Diese Auffassung von Gottesdienstgestaltung gibt es – leider. Und sie hat überhaupt nichts damit zu tun, dass die Landeskirche gemeinhin auch “Volkskirche” genannt wird, da sie mit dieser klassischen Form Untersuchungen zu Folge nur zwei, maximal drei Milieus von zehn innerhalb unserer Gesellschaft erreicht. Aber wie soll sie auch zur Volkskirche werden, wenn ihre Mitarbeitenden niemals darin geschult und unterrichtet werden, das gesamte Volk im Blick zu haben, sondern lediglich die zwei bis drei Milieus, zu denen Kirche ohnehin schon einen relativ positiven Kontakt hat? Ein Teufelskreis – wenn dieses Wort im kirchlichen Kontext nicht so unangebracht erschiene.
Wieso um alles in der Welt lernen Theologinnen und Theologen in ihrer Ausbildung (Vikariat) nicht auch, wie man Gottesdienste in zeitgemäßer Form feiert mit zeitgemäßen Instrumenten und einer zeitgemäßen Sprache? Mit Elementen und Medien, die der Mensch von heute kennt und (ge-)braucht? Und damit meine ich nicht, dass man sich “die Sache mal anschaut” und das gleiche als ein nettes “Add-On” dargestellt wird, sondern dass in gleicher Intensität auch das Feiern von Gottesdiensten in anderer als in klassisch-liturgischer Form eine Rolle spielt.
Wieso diese Vorrangstellung des traditionell-liturgischen Gottesdienstes? Für mich gibt es auf diese Frage nur zwei Antworten, die mich aber nicht zufriedenstellen. Die eine Antwort ist der Satz, der bei Kirchen-Bingo dir den Sieg sichert: “Das war schon immer so!” Die zweite Antwort ist noch beunruhigender: Es fehlt schlicht und einfach an entsprechender Kompetenz auf Seiten der Lehrenden und Lernenden.
Also begnügt man sich damit, den Gottesdienst in seiner liturgischen Form weiterzufeiern, hier und da ein bisschen zu pimpen und für die Unverbesserlichen installiert man dann ein “zweites Programm”, einen “anderen Gottesdienst”, etwas “für Gäste” – als ob es weniger Wert wäre als das “erste Programm” – zumindest ist es hierarchisch abgestuft und nur das zweite, nicht das erste Programm.
“Aber die Bibel ist doch auch ein uraltes Buch und dennoch zeitgemäß”, höre ich dann immer wieder andere sagen. Das stimmt. Aber ich bin nicht so vermessen, meine Form des Gottesdienstes mit dem ewig gültigen Wort Gottes gleichzusetzen.
Ich komme beim letzten Punkt noch ausführlicher darauf zu sprechen. Aber wieder treibt mich eine Frage um: Wieso lernt man nicht von Freikirchen? Wieso schaut man nicht in die FEGs, in die ICFs und in andere freie Gemeinden? Ist man sich selbst genug? Hält man die anderen für zu fromm, abgefahren oder modern?
Und wieso müssen Pfarrerinnen und Pfarrer dabei selbst auf die Idee kommen, mal über den eigenen Tellerrand zu schauen, anstatt dass dies auch “von oben” gefördert und gewünscht wird und man so wirkliche Ökumene (und nicht nur evangelisch-katholische Ko-Existenz) feiert?
Oh wie schön wäre das doch, wenn kreative und innovative Theologinnen und Theologen, Pastorinnen und Pastoren mehr Gehör finden würden und nicht immer als Exoten dastünden.
Unsere Gesellschaft respiritualisiert sich gerade selbst und auch die “Generation Y” hat nur bedingt Vorbehalte gegen das (institutionelle) Religiöse. Der Mensch fragt nicht unbedingt nach dem großen Ganzen und dem letzten Sinn – aber erstaunlicherweise ist eine Sehnsucht in unserer Gesellschaft wahrzunehmen, welche die Moderne versucht hat, zu unterdrücken: eine Sehnsucht nach “Mehr”. Eine Sehnsucht danach, dass es noch mehr geben muss als das, was wir mit unseren Technologien und unserem Know-How selbst erschaffen können. Etwas, das sich unserem rationalisierten Weltbild entzieht, ein Stück weit mystisch und mythisch bleibt – et voilà: Willkommen in der geistlichen Realität.
Die Ampeln stehen nicht mehr auf Rot und der postmoderne Mensch bekommt nicht gleich die Krätze, wenn er von “Religion” liest oder hört. Nein. Er findet darin selbst etwas Heilsames und Sehnsuchtsstillendes. Bitte, bitte, liebe Kirche, lass dich auf die Wende ein und gib diesen Menschen ein Zuhause, ihrer Sehnsucht einen Ort und ihrer Spiritualität etwas, das sie wirklich erfüllt: das lebendige Wort Gottes in einem zeitgemäßen Gewand – nicht als Ergänzung, sondern als gleichberechtigte Form neben den klassischen und traditionellen Formen von Kirche.
4 Von einem fragwürdigen Taufverständnis zu einer Vielfalt der Mitgliedschaftsmöglichkeiten
Ich glaube, die Säuglingstaufe ist maximal die zweitbeste Form, wie man mit der Taufe umgehen kann. Biblisch betrachtet gibt es keine einzige explizite Erwähnung der Taufe von Säuglingen. “Er und sein ganzes Haus ließen sich taufen”, wie es im Neuen Testament immer wieder heißt, reichen für eine Legitimierung der Säuglingstaufe nicht aus. Nur weil etwas nicht negativ genannt wird, können wir nicht davon ausgehen, dass es positiv konnotiert ist. Jesus, Paulus oder andere großartige Personen und Verfasser neutestamentlicher Schriften haben sich auch über andere Dinge nicht negativ geäußert, die wir dann plötzlich positiv bewerten.
Also braucht es eine theologische Legitimierung der Säuglingstaufe, die volkskirchlich meist dadurch geschieht, dass sie die “gratia praeveniens”, also die “vorauseilende Gnade” Gottes zum Ausdruck bringen soll oder sie soll zum Ausdruck bringen, dass Gott durch die Taufe den Menschen annimmt.
Beides greift jedoch viel zu kurz – dazu reicht schon die Lektüre von Psalm 139, in dem König David Gott dafür dankt, dass er ihn wunderbar gemacht hat und ihn schon kannte und alle Tage seines Lebens schon aufgeschrieben wurden bei Gott, ehe auch nur der erste Tag schon begann. Ich weiß, dass diese wenigen Zeilen einer profunden Auseinandersetzung mit der Frage nach der Säuglingstaufe nicht gerecht wird – wer mehr wissen will, dem empfehle ich gerne meine ausführlichen Gedanken zu “Taufe in der Apostelgeschichte“.
Zurück zur Wende: Ich bin der festen Überzeugung, dass alternative Modelle der Mitgliedschaft, wie sie beispielsweise in der anglikanischen Kirche schon gelebt werden, nur förderlich und nicht hinderlich sein könnten – auch wenn man über das Problem der Taufe hinwegsieht. Konkretes Beispiel: Da wir im Normalfall in der evangelischen Landeskirche die so genannten parochiale Struktur haben (kurz gesagt: dort, wo ich wohne, gehöre ich der Gemeinde an), ist es für uns als “Grenzgemeinde” unmöglich, dass Personen aus der Schweiz Mitglied unserer Kirchengemeinde werden können, auch wenn sie jeden Sonntag zu uns kommen, unsere Hauskreise besuchen und in der Gemeinde mitarbeiten.
Aber auch was die Praxis der Taufe betrifft, muss sich die Volkskirche einer Wende öffnen, denn immer weniger Eltern lassen ihr Kind überhaupt noch Taufen im Alter von wenigen Monaten (oder Jahren). Der im kirchlichen Sprachgebrauch so unsäglich klingende “Taufaufschub” kommt immer mehr in der Praxis vor, was bedeutet: Immer weniger Menschen werden als Säuglinge getauft. Da aber das gesamte Kirchensteuersystem darauf aufbaut, dass Menschen schon Mitglied sind, bevor sie Kirchensteuer bezahlen, da es unwahrscheinlicher ist, auszutreten, wenn man schon dabei ist, als einzutreten, um seine Mitgliedschaft kundzutun, wird die Volkskirche mittelfristig große finanzielle Probleme bekommen.
Paradox an sich ist es ohnehin, Taufe und Kirchensteuer miteinander zu verknüpfen – aber meine Idee war es nicht… Im Ernst: Taufe soll und muss Ausdruck meines Bekenntnisses zu Jesus Christus bleiben. Finanzierung der kirchlichen Arbeit jedoch darf nicht mit der Taufe verknüpft werden. Hier brauchen wir eine komplette Veränderung und Öffnung zu alternativen Konzepten – oder kurz: eine Wende.
Wieso nicht ein ergänzendes Modell wählen, bei dem aus “dem großen Topf” alle Gemeinden bedacht werden, gleichzeitig die Menschen jedoch nicht allgemeine Kirchensteuer bezahlen, sondern einen Beitrag, das ihrer Kirchengemeinde direkt zugute kommt. Natürlich – das wäre für manche Gemeinden zwar nicht das Aus, aber sie müssten sich nach der Decke strecken. Leider. Bedeutet aber wiederum, dass sie zur Zeit ohnehin auf einer Scheinsicherheit ihre Finanzen aufbauen.
Dann wäre es auch nicht mehr von Bedeutung, ob ein Baby getauft oder gesegnet wird – im Blick auf die Mitgliedschaft.
5 Von einer trägen Inspirationslosigkeit zu einem leidenschaftlichen Verständnis von Kirche
Ja, ok. Ein wenig pointiert formuliert, ich weiß. Aber ganz ehrlich: Vieles, was in unserer Landeskirche geschieht, inspiriert mich nicht. Das ist so “old school” und für mich (für andere mag das anders sein) lebensfremd, dass mir schlicht und einfach die Leidenschaft und Lebendigkeit fehlt und fast schon abhanden kommt, wenn ich mich zu sehr damit auseinandersetze.
Ich glaube, dass es manchmal stimmt: Die Theologie will Antworten auf Fragen geben, die kein Mensch gestellt hat. Aber auf die wirklichen Fragen der Menschen, findet die Theologie oft keine Antwort oder auch nur einen Ansatz dazu. Das finde ich extrem schade, denn Theologie kann so was von inspirierend und leidenschaftlich betrieben werden, dass sie gar nicht anders kann, als die Glaubens- und Lebensfragen der Menschen aufzunehmen. Hier finde ich immer wieder Inspiration bei Theologen wie Tim Keller, Carey Nieuwhof oder Johannes Hartl.
Und hier fällt dir auf: Das sind keine klassischen landeskirchlichen Theologen, wo wir bei dem oben schon erwähnten Punkt der Inspiration durch andere Kirchen, dem Blick über den Tellerrand oder das Netzwerken im besten Sinne der Ökumene angekommen sind.
Ich lasse mich liebend gerne von anderen Kirchen und Gemeinden, von Theologinnen und Theologen, von Leiterinnen und Leitern, Pastorinnen und Pastoren anderer Gemeinden inspirieren. Dabei ist mir nicht wichtig, welches “Label” sie tragen, sprich: Zu welcher Kirche sie gehören. Ich will lernen. Schlicht und einfach lernen. Lernen, wie wir noch besser, noch zeitgemäßer, noch ansprechender das Evangelium verkündigen und Gemeinde leiten können, damit Menschen, die Gott noch nicht kennen, zu leidenschaftlichen Nachfolgern Jesu werden.
Diese Haltung benötigt die Volkskirche im großen Stil, um zukunftsfähig zu bleiben. Über den eigenen Tellerrand hinauszuschauen bewahrt nicht nur davor, nur den Blick auf sich selbst zu richten, sondern lässt mich andere Perspektiven einnehmen, Inspiration empfangen und mit neuer Leidenschaft an die wunderbare Aufgabe der Gemeindeleitung herangehen.
Die Zukunft der Kirche wird kooperativ im besten Sinn sein: Ko-Operare, miteinander/gemeinsam agieren. Nicht jeder für sich in seinem Sumpf und Umfeld, sondern in einer großen Freundschaft und Verbundenheit mit anderen Gemeinden und Kirchen, die jenseits der eigenen Kirchengrenzen zu finden sind. Ich selbst profitiere sehr, sehr viel vom ICF Network oder auch von Willow Creek. Genauso ist “Der Leiterblog” ein wunderbarer Fundus, über den eigenen Tellerrand hinaus Inspiration und Leidenschaft zu bekommen. An dieser Stelle ein großes Dankeschön an Lothar Krauss, der diesen Blog initiiert hat und betreibt.
Die Zukunft der Kirche wird nicht nur kooperativ sein – sie wird leidenschaftlich sein, oder sie wird gar nicht sein.
Ich spreche niemandem seine Leidenschaft ab. Im Gegenteil. Ich sage es sehr deutlich und mit großer Freude, weil es die Pluralität und Vielfältigkeit unserer Kirche deutlich macht: Ich kenne Kolleginnen und Kollegen, die von Herzen gerne, mit großer Leidenschaft und ausgezeichneter Kompetenz liturgisch-traditionelle Gottesdienste feiern. Dabei predigen sie Gottes Wort voller Liebe und Vollmacht und Menschen wachsen im Glauben. Ja, ja, liebe Freikirchler: Es gibt Wachstum auch innerhalb der Landeskirche!
Aber noch nicht genug. Und hier wünsche ich mir mehr Leidenschaft, mehr Begeisterung. Ich bin Fußballfan. Ich war früher viel im Stadion. Die Menschen dort leben ihre Begeisterung, ihre Leidenschaft. Diese beiden Gefühlsäußerungen sind an sich nichts Negatives. Aber bei Kirchens sind sie leider oft außen vor. Das ist schade. Ich wünsche mir mehr Unkonventionelles und Unvorhersehbares, mehr Innovation und Mut zum Risiko.
Kooperation mit dem Heiligen Geist
Ich habe Hoffnung für die Landeskirche und schaue selbst voller Leidenschaft und Freude in die Zukunft. Warum? Weil nicht ich, nicht ein Oberkirchenrat, Landeskirchenamt oder sonst jemand der Boss ist – sondern Jesus selbst. Er ist und bleibt der Herr der Kirche. In Kooperation mit seinem, dem Heiligen Geist, wird unabhängig von unseren Fähigkeiten und unserem Können Gott selbst seine Güte und Größe zeigen.
In der Homiletik ist mir Rudolf Bohrens Aussage von der “theonomen Reziprozität” begegnet, die aber nicht nur auf die Predigtlehre, sondern generell für das Tun und Lassen bei Kirchens anzuwenden ist. Theonome Reziprozität bedeutet: eine von Gott gesetzte Wechselseitigkeit.
Gott selbst ist der Ursprung allen kirchlichen Handelns, damit es nicht in menschlichem Aktivismus verfällt. Dies aber bedeutet, konkret nach seinem Willen zu fragen und mit dem Heiligen Geist zu kooperieren. Das heißt: Ihn bitten, sich zu offenbaren, zu zeigen, in Situationen hineinzuwirken, wie wir Menschen es nicht tun können. Das heißt auch: Vertrauen darauf, dass der Heilige Geist übernatürlich und unseren Verstand übersteigend wirken kann zum Aufbau des Reiches Gottes. Ich glaube, wenn wir das verstärkt tun, werden wir Aufbrüche und Erneuerung in der Landeskirche erleben. Let’s go!